Im heutigen Spielbetrieb des städtisch subventionierten, freien Theaters Reutlingen Die Tonne finden sich Produktionen, die bis auf wenige Ausnahmen Eigenproduktionen nach Ideen darstellen, die in wechselseitiger Zuarbeit von Regie und Schauspielerinnen und Schauspielern entstanden sind.
Die Darstellenden mit Lernschwierigkeiten und anderen Beeinträchtigungen nehmen betriebsintegrierte Arbeitsplätze im Theater für zwei bis drei Tage ein, haben aber jeweils noch Arbeitsstellen in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).
Die bislang entstandenen Stücke haben ganz unterschiedlichen Charakter: „Revue fatal“ – eine Art Bilderbuch zu den einzelnen Darstellenden, „Fulltime“ – ein Stück gegen die Routine in den Tagesabläufen von Werkstätten, „Macbeth“ – eine Paraphrasierung des Stoffs, „Der Fliegende Holländer“ – mit freien Assoziationen zur Geschichte, „Pi oder was die Welt im Innersten zusammenhält“ – inszenierte Mathematik, „Frida Kahlo“ – eine Bilderfolge zum Leben der Malerin, „Zeitfenster“ – eine Art Begriffsklärung zum Phänomen der Zeit und der Zeitgeschichte, „Charlie“ – gespielte Gedanken zu der Person von Charlie Chaplin, das Sommertheaterstück: „Glaube, Liebe, Hoffnung“ – in enger Anlehnung an das Original von Ödön von Horvath – neun abendfüllende Stücke mit der Handschrift eines Regisseurs, aber auch mit viel darstellerischen Besonderheiten, welche die Mitwirkung aller verraten.
Vorgeschichte
Bis zu dieser Art des Arbeitens war es ein langer Weg. 2003 entstand eine gemeinsame Theater-AG von Studierenden der Sonderpädagogik und interessierten Menschen mit Behinderung. Aus wöchentlichen Treffen, die viele Warm-up-Aufgaben und spontane Mini-Improvisationen enthielten, ergaben sich kleine Szenen, eher Sketche, als Arbeitsergebnis. Ermutigt durch die sichtbaren Fortschritte, die engagierte Beteiligung und durch den Wunsch nach „mehr Theater“ wurde die Unterstützung des Intendanten des Theaters Die Tonne Reutlingen, Enrico Urbanek, angefragt und damit die Entwicklung eines Ensemble(-Teils) mit Darstellenden mit Beeinträchtigung in Gang gebracht.
Die Begeisterung des Intendanten bzw. Regisseurs für die darstellerischen Elemente und szenischen Versatzstücke, die sich aus immer wieder anderen und neuen Improvisationsanlässen ergaben, hält bis zum heutigen Tag an. Darüber hinaus konnten die Akteure Routine bezüglich der Abläufe im Theater entwickeln und ihre darstellerischen Fähigkeiten verbessern.
Der Rest der chronologischen Entwicklung ist schnell berichtet: Die im Rahmen der Freizeitgestaltung und Erwachsenenbildung angebotenen Theaterspielabende gibt es als ständiges Angebot im Jahresprogramm von BAFF (Bildung, Aktion, Freizeit, Feste) der Lebenshilfe, in Kooperation mit der BruderhausDiakonie, Reutlingen. Für diese Gruppe besteht die Option, in einer Produktion des Theaters in Nebenrollen mitzuwirken.
Daneben gibt es die eigentliche, professionelle Theaterarbeit mit der Gruppe von sieben bis zehn Darstellenden mit verschiedenen Beeinträchtigungen, die ihren Arbeitsplatz an zwei Tagen der Woche ins Theater verlegen. Sie wirken nicht nur in Eigenproduktionen, sondern auch an regulären Aufführungen des Hauses mit.
Ausbildungsprogramm
Im Theater, einer umgebauten ehemaligen Trikotagenfabrik, erhalten die am Projekt beteiligten Menschen mit Beeinträchtigung in Kleingruppen oder als ganzes Ensemble Unterricht in tänzerischer Bewegung, Umgang mit Sprache und Stimme, leichtem Instrumentalspiel, elementarem ästhetischem Gestalten, Bühnenimprovisation und Rollenstudium. Große Anteile des Unterrichts sind dem Finden von eigenen Ideen zu einer bestimmten Vorgabe bzw. der Improvisation gewidmet. Obwohl der Fächerkanon in etwa dem entspricht, was eine Schauspielausbildung beinhaltet, ist der Zuschnitt der Angebote auf die jeweiligen Personen, aber auch auf die jeweilige Produktion entscheidend. In der Anfangszeit gab es daher vermehrt eine Ausbildungseinheit im Sinne eines offenen Platzhalters für die unterschiedlichen Ausbildungsangebote (vgl. Priebe 2012).
Die Arbeit am Stück ist bis zur Intensivphase mit den Endproben geprägt durch die Suche nach immer wieder neuen Einfällen zu dem gemeinsam vereinbarten Thema. Das bleibt auch wichtige Methode in der Aufführung selbst. So merkt ein Pressebericht an: „Es gibt in Urbaneks Stück aber viel Raum für Improvisationen der Darsteller/innen. ‚Wir arbeiten mit dem Unberechenbarkeitsfaktor‘, meint der Intendant. ‚Wir wollen den Akteuren nicht irgendwelche Dinge aufoktroyieren, sondern ihre Fähigkeiten und Begabungen zum Vorschein bringen.‘“ (Schwäbisches Tagblatt 2012)
Die Themen der Stücke haben viel mit alltäglichen Erfahrungen von Gesellschaft und Welt zu tun, sind aber nicht beschränkt auf die sogenannten Alltagserfahrungen der Ensemblemitglieder. In der Art des modernen Regietheaters entwickelt der Regisseur aus den zum Thema gefundenen Versatzstücken und Beiträgen der Darstellenden denHandlungsrahmen. Erst in den Endproben in einer Kompaktphase entsteht der eigentliche Ablauf, das Stück.
In den Produktionen nutzt der Regisseur alle Macharten des Regietheaters und macht auch nicht Halt vor der „Hinrichtung der Klassiker“ (vgl. Zabka/Dresen 1995). Doch zeigt gerade diese Art der Regieführung, wie man die Charaktere und Eigenarten der Darstellenden als Ausdruck nutzen und zur Bühnenpräsenz führen kann. Dieses Theaterensemble erhält die Chance der Teilhabe an Gestaltungsprozessen und an der Präsentation eigener Vorstellungen zu Inhalten und Stoffen. Damit wird bei den Ensemblemitgliedern zugleich eine Dimension der kulturellen Teilhabe entwickelt: Selbstbewusstsein und Präsenz auch außerhalb der Bühne.
Fazit für das Modell „Arbeitsplatz Theater“
Am Beispiel des Theaters Die Tonne können einige Merkmale eines „Theaters als Arbeitsplatz“ für Menschen mit Beeinträchtigung abgeleitet werden:
Erstens ist klar, welch wichtige Rolle der Regisseur bzw. die Regisseurin einnimmt. Diese Person wird zum Schauspiellehrer bzw. zur Schauspiellehrerin. Sie macht aus den einzelnen Mimen ein Ensemble und wird damit zum „Integrator“ und ist außerdem hilfreiche Interpretin neuer Stoffe (also der Literatur).
Zweitens fügt diese Art des Regietheatersdem zeitgenössischen Theater eine weitere Facette hinzu, in der auf sehr eigenständige und sinnige Weise gearbeitet wird. Damit wird auch auf die Lernfähigkeit des Publikums Bezug genommen.
Drittens wird Menschen, die unter einschränkenden Bedingungen leben, ein Feld gesellschaftlicher Teilhabe geboten, das sie in ihren Eigenheiten und Ausdrucksformen ernst nimmt und ihre darstellerischen Fähigkeiten systematisch weiterentwickeln hilft. Mit dem Training on the Job, wie es das Theater Die Tonne in Reutlingen praktiziert, wird eine Ausbildungsform angeboten, die derzeit machbar und individuell passfähig ist.
Viertens zwingt die Konstruktion der betriebsintegrierten Teilarbeitsplätze im Theater verschiedene Institutionen zur Kooperation. Die dramaturgischen Fragen und die Regie bleiben der Beitrag des Theaters, die Assistenz und die Aufgaben des Job-Coaches liegen in den Händen und in der Verantwortung der Werkstatt. Deshalb ist zurzeit die Teilnahme von Darstellenden außerhalb der Struktur einer Einrichtung nur mit Schwierigkeiten möglich. Die künstlerische Ausbildung findet als beruflich orientierte Erwachsenenbildung statt – angeregt durch die offenen Hilfen der Lebenshilfe Reutlingen und finanziert durch Sponsoren bzw. die Stadt.
So erreicht das Programm „Arbeitsplatz Theater“ ein breites Spektrum von Zielvorstellungen der Inklusion im Kulturgeschehen einer Stadt: Die Verwirklichung künstlerischer Karrieren für Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen, die Erweiterung des Spielplans und die Akzeptanz des Publikums. Und nicht zuletzt hat sich das Leben(-sgefühl) der Darstellenden positiv verändert.
Literatur
- Priebe, Berit (2012): Arbeitsplatz Theater. PH Ludwigsburg (unveröffentl. Projektbericht).
- Schwäbisches Tagblatt (2012): Was die Welt zusammenhält. Menschen mit Handicap mit neuer Premiere am Tonne Theater. In: Schwäbisches Tagblatt, 09.05.2012 [www.tagblatt.de/Nachrichten/Menschen-mit-Handicap-mit-neuer-Premiere-am-Tonne-Theater-27272.html, zuletzt aufgerufen am: 20.05.2016].
- Zabka, Thomas/Dresen, Adolf (1995): Dichter und Regisseure. Bemerkungen über das Regie-Theater. Betreibt das Regie-Theater die Hinrichtung der Klassik? Antworten auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Jahr 1993. Göttingen: Wallstein-Verlag (Antworten auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Jahr, 1993).
Links
Herunterladen als PDF