Die UN-Behindertenrechtskonvention spricht im § 30 Abs. 2 davon, den Menschen mit Behinderung die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potential zu entfalten …
Entfalten setzt Können, Können setzt Ausbildung voraus. Nur wenn entsprechende erste Grundlagen vermittelt werden, kann daraus eine künstlerische Anwendung entstehen, können danach weitere Schritte eingeleitet werden, sei es die Teilhabe am musikalischen Geschehen als privates Hobby oder in Musikvereinen, Chören, Bands und Orchester oder gar die Professionalisierung.
Vielen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung (geistige Behinderung oder psychische Erkrankung) ist bisher der Zugang zu der Ausbildung mangels Informationen oder anderer Barrieren verwehrt. Vielfach werden keine Angebote gemacht, da die Annahme besteht, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung könnten nicht selbst aktiv musizieren („Das packen sie ja sowieso nicht“). Auch die Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vergessen diese zuletzt genannte Barriere.
Dem Handlungsfeld der Ausbildung stellt sich AMME, ein gemeinnütziger Verein, gegründet 2014 als Aktion Musiker für (alle) Musiker (mit Beeinträchtigung) im Einsatz. AMME versteht sich als Geburts- und Entwicklungshelfer und möchte Betroffene und Beteiligte entsprechend sensibilisieren, motivieren und qualifizieren. Der Verein möchte bundesweit
- Einrichtungen wie Schulen, Werkstätten, Wohnheime und Ambulante Wohnbetreuungen finden, die bei der Umsetzung ihrer Ziele mitmachen wollen;
- Menschen mit geistiger Behinderung (oder psychischer Beeinträchtigung) begeistern, das Musikmachen zu lernen, also Instrumente zu spielen, zu singen und zu tanzen;
- Castings und Instrumentenkarussells in den Einrichtungen durchführen, damit Interessen entdeckt werden und das geeignete Musikinstrument ausgewählt werden kann;
- Kooperationen zwischen Einrichtungen und Musikschulen für die Ausbildung bewirken;
- Musik-, Sozialpädagogen und -pädagoginnen für die spezielle Zielgruppe ausbilden lassen;
- die Ausbildung der Musikerinnen und Musiker (oft Grundsicherungsempfängerinnen und -empfänger) finanziell unterstützen;
- Instrumente und Anlagen für die Ausbildung in den Einrichtungen verfügbar machen;
- die Gründung von Musikgruppen für die Weiterentwicklung initiieren;
- Events organisieren, bei denen die Schülerinnen und Schüler ihr Können in integrativen Musikgruppen darbieten;
- Inklusion durch Musik fördern.
Pilotprojekt Region Trier
Im Februar 2015 startete in der Region Trier (Stadt Trier und vier benachbarte Landkreise) ein Pilotprojekt. Gefördert von Herzenssache e. V., der Kinderhilfsaktion von SWR, SR und Sparda-Bank und der Nikolaus Koch Stiftung Trier konnten – in Kooperation mit sechs Musikschulen, neun Förderschulen, vier Werkstätten und einem Tanzverein – inzwischen über 270 Musikschülerinnen und Musikschüler (von ca. 3000 Menschen mit Beeinträchtigung in den angesprochenen Einrichtungen) gefördert werden.
Erster Schritt hierfür war die Netzwerkbildung zwischen Musikschulen und Förderschulen bzw. Werkstätten. Gemeinsam wurden dann die Eltern und Schülerinnen und Schüler informiert und gezielt geleitet.
In Instrumentenkarussells lernten die Interessierten verschiedene Musikinstrumente kennen und konnten sich ihr Lieblingsinstrument auswählen. Danach begann der Musikunterricht im Einzelunterricht, teilweise in Zweiergruppen, in Kleingruppen mit sechs bis acht Personen für musikalische Grundausbildung und mit zwei Chören. Hierfür kommen die Lehrkräfte während der Schul- oder Arbeitszeit in die Einrichtung. Die Schülerinnen und Schüler werden von der Einrichtung für die Unterrichtszeit abgestellt (Unterrichtsbefreiung, arbeitsbegleitende Maßnahme). Der Unterricht im Pilotprojekt wird in den ersten eineinhalb Jahren mit rund 90 Prozent der üblichen Musikschulgebühren gefördert.
Zur besseren Vorbereitung und Begleitung der Lehrkräfte wurden Qualifizierungsworkshops angeboten, an denen bisher über 100 Fachkräfte teilnahmen. Dank großzügiger Spenden (u. a. Hans-Thomann-Stiftung, Günther Reh-Stiftung) konnten inzwischen für rund 15 000 Euro Lerninstrumente angeschafft werden.
Das Unterrichtsangebot erstreckt sich auf die verschiedensten Richtungen von der musikalischen Grundausbildung, Rhythmus- und Bewegungsgruppen über Chorarbeit, Tanz- und Gesangsaubildung bis hin zum Erlernen von Instrumenten wie Gitarre, Keyboard, Schlagzeug, Klavier, Querflöte, Trompete, Posaune, Saxofon, Klarinette, Bratsche und Violine.
Besonderes herausfordernd war die Auswahl der Lehrkräfte, die auf diesem speziellen Gebiet in der Regel über keine nennenswerten Erfahrungen verfügten. Es galt also, auf der Basis der Freiwilligkeit und Lernbereitschaft mit den Lehrkräften eine spezielle Zielfindung zu definieren und ihnen durch Qualifizierungsmaßnahmen einige Werkzeuge an die Hand zu geben, die die Aufgabe von vornherein für alle Beteiligten erleichterte. Der Unterricht wurde auch gezielt durch Tandemlösungen (zumindest zu Beginn) zwischen Musikschul- und Förderschulfachkraft abgehalten, um gegenseitig Erfahrungen weiterzugeben und die Musikerinnen und Musiker an die neue Situation heranzuführen. Darüber hinaus fanden Feedback- und Feintuning-Gespräche mit den Schul- und Musikschulleitungen statt.
Trotz dieser gezielten Vorbereitung traten einige Probleme in der täglichen Abwicklung auf. So war etwa die Leistungserwartung einer Klavierlehrerin an die Schülerinnen und Schüler zu hoch (Lösung: einvernehmliche Ersatzlösung), die Leistungsbereitschaft von zwei Gitarrenschülern fehlte (Lösung: Beendigung des Unterrichts in Abstimmung mit den Eltern), einige psychisch beeinträchtigte Schülerinnen waren durch fehlgeleitete Methoden überfordert, Chormitglieder erlebten die Wiederholung von Traumata (Lösung: Austausch des Musikschullehrers und Beschränkung auf die Funktion als Support für die internen musikalischen Betreuerinnen und Betreuer).
Planung weiterer Aktivitäten
Zur Fortsetzung der Aktivitäten wurde ein Folgeantrag bei der Aktion Herzenssache für ein Projekt gestellt (und inzwischen positiv beschieden), in dem die Erfahrungen und Ergebnisse des Pilotprojekts in andere Regionen in Rheinland-Pfalz transferiert werden sollen.
Des Weiteren sind Maßnahmen zur Vermittlung von Musikschülerinnen und -schülern in bestehende Musikvereine und Chöre durch Informations-, Motivations-, und Qualifizierungsveranstaltungen für Vorstände und musikalische Leitungen dieser Musikgruppen geplant.
Zur Präsentation der guten Musik, die von Menschen mit Beeinträchtigung im Rahmen der Inklusion entstanden ist, sollen Veranstaltungen initiiert werden, die die Maßnahmen in der Öffentlichkeit darstellen und publik machen.
Darüber hinaus arbeitet AMME zusammen mit einem Vertreter des rheinland-pfälzischen Kulturministeriums, dem Landesbehindertenbeauftragten und dem Geschäftsführer des Landesmusikrats im Auftrag des runden Tischs an einem Aktionsplan zur nachhaltigen Stärkung des Themas, der unter anderem folgende Punkte vorsieht:
- Wettbewerb „Musik inklusiv“
- Konzertreihe „Musik inklusiv“
- Fachtagung
- inklusive Aktivitäten der professionellen Orchester
- Erstellen einer Datenbank mit integrativen Musikgruppen und -initiativen
- Bildung von Netzwerken
- Musikunterricht für Musikerinnen und Musiker mit Lernschwäche,
- Qualifizierung von
- Studierenden für den Musikunterricht,
- Musiklehrerinnen und -lehrern in allgemeinbildenden Schulen,
- Musikschullehrerinnen und -lehrern,
- Erzieherinnen und Erziehern,
- Fachkräften in Behinderteneinrichtungen,
- musikalischen Leitungen in den Musikvereinen/Chören.
Ausblick und Wünsche für die Zukunft
Um das Musikmachen nachhaltig für Menschen mit Beeinträchtigung zu gestalten, welches auf den Grundgedanken der Inklusion, der Forderung des UN-Behindertenrechtskonvention und insbesondere auf dem barrierefreien Zugang zur Musik generell fußt, wäre es wünschenswert, wenn die Politik (und das gilt sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene) die erforderlichen Maßnahmen ergreift, Initiativen unterstützt und die Aktivitäten mit entsprechendem finanziellen Ressourcen ausstattet. Bei der Bemessung der finanziellen Mittel sollte auch berücksichtigt werden, dass bei der Inklusion durch Musik ein großer Nachholbedarf vorliegt: „Special Olympics“ gibt es schon seit 50 Jahren und erfährt ideelle wie materielle Förderung. Das aktive Musizieren von Menschen mit Behinderung sollte mit dem aktiven Sporttreiben auf vergleichbarem Niveau angesiedelt werden.
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