Kultur verbindet, doch werden für Angebote der Kulturellen Bildung nur bestimmte Zielgruppe angesprochen, z. B. Menschen mit Behinderung, kann dies potenzielle Teilnehmendenkreise eher ausschließen, als zur Inklusion beitragen. Die Studentin der Sozialen Arbeit in Bochum berichtet im Interview über diese und andere Hürden für Menschen mit Behinderung, an kulturellen Angeboten teilzunehmen.
Annette Ziegert: Du bist in verschiedenen inklusiven Musik-Ensembles unterwegs als Sängerin. Besonders bekannt sind Piano Plus und Just Fun. Du hast Ja gesagt, als ich gefragt habe, ob du Lust hättest, heute aus der Perspektive einer Teilnehmerin von kulturellen Bildungsprojekten bzw. (semi-)professionellen Projekten – die Grenzen sind oft fließend – zu sprechen. Ich will mit dem Satz starten, den du in unserem Vorgespräch gesagt hast und den ich sehr bemerkenswert fand: „Ich möchte nicht die Teilnehmerin eines Inklusionsprojekts sein.“ Kannst du sagen, was du genau damit meinst und was du stattdessen möchtest?
Anna Reizbikh: Ich finde Inklusionsgruppen sehr cool und ich finde es schön, dass es diese Art von Möglichkeiten gibt, allen Menschen die Teilhabe zu ermöglichen. Allerdings finde ich das Wort Inklusionsgruppen generell ein bisschen blöd, man sollte diese Unterschiede einfach sein lassen. Warum ist eine musikalische Inklusionsgruppe unbedingt eine Inklusionsgruppe und keine normale Gruppe? Warum wird die Inklusion so hervorgehoben? Nur weil man eine Behinderung hat, heißt es nicht unbedingt, dass man noch mehr hervorgehoben werden sollte. Zum Beispiel bei der Musik, da zählt für mich allein die Musik und nicht die Behinderung. Ich finde, dass eher hervorgehoben werden sollte, dass es ein cooles Projekt für verschiedene Musikerinnen und Musikern gibt.
Annette Ziegert: Das fand ich auch bemerkenswert, dass du gesagt hast, wenn es dann Fotos gibt, bin immer ich darauf zu sehen.
Anna Reizbikh: Ich weiß nicht, ob manche die Fotos aussuchen, weil sie diese schön finden. Aber meistens ist es deshalb, weil ich im Rollstuhl sitze. Man sieht mir meine Behinderung direkt an. Von anderen Menschen, die z. B. Autismus haben oder eine Behinderung, die man nicht direkt auf den ersten Blick sieht, werden nicht unbedingt Bilder auf dem Titelblatt präsentiert. Wenn es um eine Inklusionsveranstaltung geht, dann werden immer die Menschen abgebildet, bei denen die Behinderung direkt auf den ersten Blick zu erkennen ist. Das ist schade.
Annette Ziegert: Dann hast du noch etwas sehr Spannendes gesagt: „Ich möchte nicht, dass Menschen mit und ohne Behinderung in Projekten zusammengesteckt werden.“ Was meinst du damit?
Anna Reizbikh: Für mich war Inklusion immer so eine schulische Sache, es ging dann um Schulprojekte oder um Schulen, an denen Inklusion stattfindet. Das bedeutet, Menschen mit und ohne Behinderung werden zusammengesteckt und man guckt mal, was passiert. Und das ist meistens immer ziemlich schiefgelaufen, weil man nicht einfach alle Menschen zusammenpacken kann. Jeder Mensch ist verschieden und lernt auch auf eine verschiedene Art und Weise. Einen Menschen mit Lernbehinderung kann man nicht mit einem Menschen zusammen in eine Gruppe stecken, wo das Niveau ein bisschen höher ist. Jeder braucht eine spezielle Förderung. Dadurch kann Inklusion auch z. B. an Schulen nicht wirklich stattfinden bzw. es wäre jeder und jedem geholfen, wenn das Konzept der Förderschulen an Regelschulen angepasst werden würde. Ich denke, dass viele Fächer, welche an Förderschulen gelehrt werden, wie etwa Hauswirtschaft, Technik usw. den Regelschulen eine große Hilfe sein könnten, um die Bedürfnisse aller ggf. divers zu gestalten, denn das ist auch ein wichtiger Punkt der Inklusion.
Annette Ziegert: Wie sieht es denn in kulturellen Bildungsprojekten mit der Inklusion aus?
Anna Reizbikh: Musikalische Projekte, die mit Menschen mit und ohne Behinderung gemacht werden, sind etwas komplett anderes. Da kann es passieren, dass da alles auf Anhieb funktioniert. Denn: Kultur verbindet. Da zählen Talent und Leidenschaft.
Annette Ziegert: Wie sollten Teilnehmende für ein Kulturprojekt angesprochen werden, wenn es nicht um z. B. die Zielgruppe „Menschen mit Behinderung“ geht?
Anna Reizbikh: Wenn man eine gewisse Zielgruppe anspricht, wird noch mal bestärkt, dass man Unterschiede zwischen den Menschen macht. Das finde ich verwerflich. Ich möchte an einem Projekt teilnehmen können, ohne dass ich zur Zielgruppe Menschen mit Behinderung gehöre. Ich möchte an einem Projekt teilnehmen, wo viele Menschen aufeinandertreffen, die Bock haben, zusammen etwas zu starten. Ob Zielgruppe Menschen mit Behinderung oder Zielgruppe Menschen ohne Behinderung – das Wort Zielgruppe ist für alle ein bisschen blöd.
Annette Ziegert: Dann hast du noch einen sehr schönen Satz gesagt: „Ich möchte mir keine Gedanken darüber machen müssen, ob ich an einem Projekt teilnehmen kann oder nicht.“ Kannst du dazu etwas sagen?
Anna Reizbikh: Ich glaube, ein Grund, warum sehr wenige Menschen mit Behinderung an kulturellen oder generell an Projekten teilnehmen ist, dass sie sich immer viel erkundigen müssen: Komme ich da gut hin? Ist da eine gute Grundausstattung? Gibt es da barrierefreie Toiletten? Und ich finde, wenn man Projekte anbietet, dann sollte man das so tun, dass sich ein Mensch nicht dazu gedrängt fühlt, immer nachzuhaken, ob er daran überhaupt teilnehmen kann. Ich möchte mir keine Gedanken machen müssen, ob ich die Teilnahme einem Projekt auch selbstständig schaffe – ob ich da z. B. persönliche Hilfe brauche oder eine Assistenz mitnehme. Auch das müsste klar sein, ob man noch eine zweite Person mitnehmen kann und, und, und. Es gibt im Vorfeld sehr, sehr viele Dinge, die man schon wissen, planen und organisieren muss.
Annette Ziegert: Da stellt sich mir jetzt in Bezug auf kulturelle Bildungsprogramme die Frage danach: Welche Standards könnte man einrichten? Wie kann dieses Spannungsverhältnis gelingen zwischen dem Standard und dem Individuellen? Kann man als Projektleitender dann auch auf individuelle Bedürfnisse noch eingehen? Und wie kann das innerhalb der Rahmenbedingungen von Förderprogrammen auch gewährleistet werden?
Vielen Dank für das Gespräch!