Insbesondere in den deutschen Metropolen haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten Institutionen, Vereine und Werkstätten etabliert, die Menschen mit Behinderung künstlerisch dauerhaft fördern. Nicht zuletzt dieser Kontinuität ist es zu verdanken, dass viele Projekte und einzelne ihnen angeschlossene Künstlerinnen und Künstler weit über Deutschland hinaus bekannt geworden sind. Inklusives künstlerisches Arbeiten innerhalb dieser spezifischen Einrichtungen stellt heute keine Ausnahme mehr dar.
Kurzbeschreibung
Im Regelbetrieb der privaten und öffentlichen Kultureinrichtungen, wie zum Beispiel Theater, Ateliers oder Kunsthochschulen, sind Kreative mit Behinderung allerdings kaum oder gar nicht zu finden. Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung, Behindertenhilfe und Kulturbetrieb existieren innerhalb der Metropolen in Form von Parallelwelten – Überschneidungspunkte gibt es nur wenige.
EUCREA startet maßgeblich gefördert durch Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und in Kooperation mit der Kulturbehörde Hamburg und weiteren Kooperationspartnern inhaltliche und strategische Maßnahmen, die insbesondere Künstlerinnen und Künstlern mit geistiger und psychischer Behinderung den Weg in etablierte Kultureinrichtungen und kulturelle Ausbildungsstätten ebnen soll. Die Stadtstaatmetropole Hamburg dient für die von Juni 2015 bis Dezember 2016 währende Projektphase als Modellregion.
Ziel und Vorgehensweisen
Mit dem Programm „ARTplus“ hat sich EUCREA zum Ziel gesetzt, schrittweise an der Erweiterung der Möglichkeiten für Kunstschaffende mit Behinderung zu arbeiten. Dabei geht es dem Verband nicht darum, einen neuen Ausbildungs- und Veranstaltungsbetrieb zu erfinden, sondern Verbindungen zu bestehenden Institutionen herzustellen und gemeinsam eine neue, inklusive Praxis zu kreieren. Das Programm „ARTplus“ ist ein Vermittlungsprojekt. Es basiert auf der Annahme, dass es in erster Linie darum geht, Kontakte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren herzustellen und Erfahrungen auf allen Seiten zu ermöglichen.
In mehreren Fallstudien hat EUCREA versucht, sich dem Thema schrittweise anzunähern. Hamburg war dafür zunächst ein erster, guter Ausgangspunkt, da hier, dank der kontinuierlichen Förderung viele Kunstschaffende mit Behinderung aktiv sind. Sie verfügen über langjährige Erfahrungen als Musiker, Schauspielerin oder Bildende Künstler und bewegen sich bereits auf einem professionellen Niveau.
Die Strategie lautete zunächst, im lokalen Umfeld zu beginnen, dort, wo bereits Kontakte und Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner vorhanden sind. Zielgruppe für diese erste Arbeitsphase waren zunächst Kunstschaffende, die in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) über einen Arbeitsplatz verfügen. Von Bedeutung war, in möglichst unterschiedlichen Kunstbereichen (Theater, Tanz, Bildende und Angewandte Kunst, Musik) Beispiele zu entwickeln. Zudem sollte möglichst eine Vielfalt an Institutionen in das Projekt eingebunden werden – von privaten und öffentlichen Ausbildungsträgern und Kulturbetrieben bis hin zu verantwortlichen Stellen in Politik und Verwaltung.
Entstanden sind sechs Fallbeispiele, die im Folgenden kurz vorgestellt werden.
Gasthörer-Studium im Fachbereich Freie Bildende Kunst an der Hochschule für Künste im Sozialen (HKS) Ottersberg
Seit dem Wintersemester 2016/2017 sind drei Künstlerinnen und Künstler aus dem Atelier der Schlumper sowie dem Künstlernetzwerk barner 16 als Gasthörerinnen und Gasthörer im Studiengang Freie Bildende Kunst an der HKS eingeschrieben. Sie nehmen am wöchentlichen Theorie-Praxis-Seminar in der Fachklasse, an Werkgesprächen sowie weiteren Theorie- und Praxisseminaren teil. In diesem Rahmen haben sie ihre eigenen Arbeiten vorgestellt, Referate gehalten und an Ausstellungen der Hochschule mitgewirkt. Die Zusammenarbeit soll auch zukünftig fortgeführt werden.
Aus Sicht der HKS wäre auch eine regelhafte Immatrikulation der drei Gasthörerinnen und Gasthörer zukünftig nicht ausgeschlossen. Es müsste aber noch genauer ausgearbeitet werden, wie zum Beispiel der zeitliche Rahmen und die Auswahl von Themen flexibilisiert und für die Studierenden mit Behinderung angepasst werden könnten.
Außerdem müssten geeignete sozialrechtliche Konstruktionen gefunden werden, um ihnen ein Studium an der HKS zu ermöglichen.
Berufsbegleitende Fortbildung am Hamburger Konservatorium
Ab Oktober 2016 nahmen sechs Musikerinnen und Musiker des Künstlernetzwerks barner 16 zwei Semester lang an einer berufsbegleitenden Qualifizierung am Hamburger Konservatorium teil. Im ersten Semester wurden mit der Gruppe Grundlagen in den Bereichen Musiktheorie, Stimmbildung und Rhythmik erarbeitet. Im zweiten Semester wurde das Programm um die Teilnahme an regulären Seminaren aus dem Studienangebot des Konservatoriums erweitert. Die Fortbildung wird im Juni 2017 mit einem gemeinsamen Auftritt von Studierenden des Konservatoriums und Musikerinnen und Musikern von barner 16 bei der „Jazz Night“ in der Kulturkirche Altona abgeschlossen.
Eine Fortsetzung der Kooperation ist im Rahmen des sogenannten Berufsbildungsbereichs, der grundlegenden Qualifizierung von Nachwuchs-Musikerinnen und -musikern von barner 16 geplant.
Seminar der Theaterakademie im Klabauter Theater
Im Januar 2017 fand im Klabauter Theater unter der Leitung von Dorothee de Place ein zweitägiger Workshop zum Thema „Kollektive Stückentwicklung“ statt, an dem Regie- und Dramaturgie-Studierende der Theaterakademie Hamburg sowie Mitglieder des Klabauter Ensembles teilnahmen. Der Workshop konnte von den Studierenden als reguläres Seminar belegt werden.
Aktuell sind EUCREA, die Theaterakademie und das Klabauter Theater im Gespräch darüber, wie das Thema Inklusion mit dem Studium an der Theaterakademie zukünftig verknüpft werden könnte. Weitere Seminare sind in Planung.
Regiehospitanzen am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Im Rahmen von bisher drei Regiehospitanzen erhielten Ensemblemitglieder der Theatergruppe Meine Damen und Herren, Einblick in die Entstehung von Produktionen am Deutschen Schauspielhaus Hamburg sowie dem Jungen Schauspiel. Im Fokus stand das Kennenlernen von Arbeitsweisen des Regie-Führens, wie etwa das Anlegen von Textbüchern oder die Kommunikation mit dem Ensemble.
Die dritte Hospitanz entwickelte sich so, dass der Hospitant Dennis Seidel letztlich aktiv in die Produktion „Katastrophenstimmung“ von Schorsch Kamerun involviert war.
Weitere Hospitanzen am Deutschen Schauspielhaus sind in Planung.
„Human-Beatbox“-Fortbildung an der HipHop Academy
Die Kooperation begann mit einem Workshop zum Thema „Beatbox“, den ein Trainer der HipHop Academy an vier Terminen bei barner 16 vor Ort durchführte. Seit Januar 2017 nimmt ein Musiker von barner 16 an den regulären, wöchentlichen Beatbox-Kursen an der HipHop Academy teil und stieg sofort in das Angebot für Fortgeschrittene ein.
Es wird geplant, das Angebot der HipHop Academy zukünftig auch für Nachwuchsmusikerinnen und -musiker aus Berufsbildungsbereich von barner 16 zu öffnen.
Workshops mit der Künstlergemeinschaft Gängeviertel
In einer zweiwöchigen Testphase im November 2016 arbeiteten drei Künstlerinnen und Künstler aus dem Atelier Freistil in der Farbfabrique in der Künstlergemeinschaft Gängeviertel und beschäftigten sich insbesondere mit der Siebdrucktechnik. Auf der Grundlage ihrer Zeichnungen erstellten sie Drucke und zeigten diese bei der Ausstellung „Die urbane Kunstkammer“, an der über 50 Künstlerinnen und Künstler im gesamten Gängeviertel teilnahmen.
An der Weiterführung einer Arbeitsmöglichkeit für Künstler aus dem Atelier Freistil in der Farbfabrique wird zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gearbeitet.
Resümee
Auch wenn sich einiges in der Durchführung als Herausforderung erwiesen hat, insgesamt lässt sich eine positive Erkenntnis aus den Erfahrungen ableiten: Bei der konkreten Zusammenarbeit der Projektbeteiligten mit und ohne Behinderung hat nahezu alles gut funktioniert. In allen Fallbeispielen wurde diese Zusammenarbeit grundsätzlich positiv und als künstlerisch-inhaltlicher wie persönlicher Gewinn wahrgenommen. Das Ideal, Vielfalt als Bereicherung zu erleben, scheint sich an vielen Stellen eingelöst zu haben.
So äußern alle Gruppen von Mitwirkenden im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung, dass sie von der Teilnahme profitiert haben: Durch einen Zuwachs an konkretem Wissen, einer Erweiterung von Möglichkeiten und Kontakten, einer Bereicherung des Lernumfelds oder spannenden Impulsen für künstlerische Diskussionen
Allen gemeinsam war die Erkenntnis: Es ist inspirierend und macht Freude zusammenzuarbeiten.
Deutlich wurde aber auch: Eine Kooperation gelingt nicht von selbst, es braucht die richtigen Rahmenbedingungen. So spielte etwa das Thema „Assistenz“ eine wichtige Rolle.
Zu Beginn gab es bei den angesprochenen Institutionen zwar mehr Offenheit als erwartet, aber auch mehr Unsicherheit und Vorbehalte gegenüber der Einbindung von Kunstschaffenden mit Behinderung. Vorbehalte gab es ebenso aufseiten der Kunstschaffenden selbst oder der Fachkräfte aus den Künstlergruppen in den WfbM hinsichtlich der Arbeit in einer externen Institution. Insgesamt zeigte sich, die Vorbehalte waren umso größer, je weniger Erfahrungen es in inklusiven Arbeitszusammenhängen gab.
Auch berichteten die meisten Mitwirkenden, die Zusammenarbeit sei erheblich unkomplizierter verlaufen, als vorher erwartet bzw. befürchtet wurde. So widerlegte die praktische Erfahrung miteinander Vorurteile, baute Berührungsängste ab und öffnete gedankliche Spielräume für neue Kooperationsmöglichkeiten. Zum Projektende planten alle Beteiligten eine Fortsetzung und Ausweitung der Zusammenarbeit.
Es zeigte sich, dass bei der Durchführung vor allen Dingen eine individuelle Herangehensweise als Grundlage für den Erfolg gesehen werden kann, die nicht nur die Verschiedenheiten der beteiligten Personen, sondern auch der Institutionen berücksichtigt.
Eine weitere Konstante war der hohe Bedarf an Kommunikation – sowohl zwischen den Projektpartnerinnen und -partnern als auch innerhalb der Institutionen.
Generell meldeten die beteiligten Institutionen zurück, dass sie zwar schon vor dem Beginn eine Grundoffenheit für eine solche Zusammenarbeit gehabt hätten. Jedoch sei der Mehraufwand parallel zum laufenden Betrieb nur bedingt zu leisten.
Ein flächendeckender Veränderungsprozess kann insofern nur sehr begrenzt aus einzelnen Institutionen heraus gestaltet werden.
Vielmehr bedürfte es einer gezielten Förderung, um die bestehende Offenheit in verschiedenen Institutionen zu nutzen, stabile Netzwerke zwischen den Akteurinnen und Akteuren zu etablieren und übergeordnet Veränderungen von Strukturen im Kultur- und Bildungsbereich, aber auch im System der Behindertenhilfe zu bewirken.
Hier wird es einerseits auf das Engagement und die Initiative von Institutionen, Gruppen oder Einzelpersonen ankommen, diesen Prozess mit konkreten Projekten und kreativen Ansätzen mitzugestalten. Andererseits ist ein politischer Wille ist unabdingbar, um diese Entwicklung zu fördern und voranzutreiben.
EUCREA – Verband Kunst und Behinderung
EUCREA ist seit 1989 der Verband zur Förderung der Kunst von Menschen mit Behinderung im deutschsprachigen Raum. EUCREA betrachtet Vielfalt als Potential zur Gestaltung eines lebendigen und facettenreichen Kunst- und Kulturlebens.
Die Menschen hinter EUCREA arbeiten an der Leitidee, innovative inklusive Formate mit Modellcharakter im Bereich der Kunst zu entwickeln, zu erproben und zu erforschen. Dazu zählen national und international ausgerichtete Kulturfestivals für Musik, Tanz und Theater, Ausstellungen der Bildenden und Angewandten Kunst sowie Wettbewerbe und Publikationen. EUCREA unterstützt die Entwicklung von Kooperationsfeldern, Arbeits- und Weiterbildungsmöglichkeiten für professionelle Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung. Mit seinen Veröffentlichungen und Fachtagungen agiert EUCREA als Informations- und Dialog-Plattform für alle am Prozess einer inklusiven Gesellschaft beteiligten Akteurinnen und Akteure. EUCREA prägt mit seinen regelmäßig stattfindenden Fachtagungen die Diskussion zum Thema – ob auf gesellschaftlicher, künstlerischer oder organisatorischer Ebene.
Heute zählt der Verband über 90 Mitglieder aus dem deutschsprachigen Raum. Mitglieder sind insbesondere Einzelkünstlerinnen oder -künstler und Künstlervereinigungen, Träger der Behindertenhilfe und Stiftungen.
Weitere Informationen:
Herunterladen als PDF