Das Atelier Goldstein wurde 2001 von Christiane Cuticchio als ein freies, von Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) unabhängiges Künstleratelier gegründet unter dem Trägerverein Lebenshilfe Frankfurt am Main. Heute haben 15 Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung aus den Bereichen Malerei, Plastik, Grafik und Neue Medien hier einen Atelierplatz.
Personell ist das Atelier Goldstein neben der Leitung mit acht Absolventinnen und Absolventen sowie Studierenden der bildenden Kunst und Kunstpädagogik aufgestellt. Institutionell gliedert sich das Atelier Goldstein in die Bereiche Atelier- und Agenturarbeit. Die Atelierarbeit bildet die Basis. Hier werden die Künstlerinnen und Künstler individuell bei der Schaffung ihres Werks betreut. Nach einer im Atelier Goldstein entwickelten Methode werden die Künstlerinnen und Künstler mit völlig unterschiedlichen Behinderungen und Begabungen darin unterstützt, sich ihrer eigenen Bildsprache zu versichern, sie auszubauen und zu perfektionieren.
Durch eine intensive Agenturarbeit gelingt es dem Atelier Goldstein, die Werke in nationalen und internationalen Museen und Sammlungen zu platzieren. Sie dient der künstlerischen Anerkennung und der Bereitstellung eines Netzwerks zum Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Seit 2003 haben die Goldsteinkünstlerinnen und -künstler an ca. 60 Kunstausstellungen und mehreren inklusiven Kooperationen teilgenommen. Bisher wurden mehrere Filmbeiträge im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt und zahlreiche Pressartikel veröffentlicht. Die bisher umfangreichste Auftragsarbeit stellt die Neugestaltung der Marienkirche Aulhausen dar, die Ende 2015 eröffnet wurde.
2011 erhielt das Atelier Goldstein für seine Arbeit den „Binding-Kultur-Preis“, einen der wichtigsten Kunstpreise Deutschlands. Erstmalig wurde dieser Preis Kunstschaffenden mit Beeinträchtigung verliehen.
Goldstein Galerie
Seit Ende 2012 betreibt das Atelier Goldstein einen nicht-kommerziellen Ausstellungs- und Projektraum in Frankfurt am Main. In Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden, Museen, Sammlungen, Ateliers und Galerien werden Einzelpräsentationen sowie thematische Gruppenausstellungen von Kunstschaffenden mit und ohne Beeinträchtigung gezeigt. Darüber hinaus finden inklusive Workshops mit Gastkünstlerinnen und -künstlern statt, deren Ergebnisse im Prozess oder in einer Ausstellung präsentiert werden. Begleitet werden die Ausstellungen von einem Rahmenprogramm in Form von Lesungen, Performances, Musik sowie Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen zu kulturellen, wissenschaftlichen wie gesellschaftspolitischen Themen.
Leitidee
Das Atelier Goldstein steht für eine herausragende kulturelle wie gesellschaftliche Arbeit mit Kunstschaffenden mit Beeinträchtigung. Es vertritt die Ansicht, dass geistig, psychisch und sozial beeinträchtigte Menschen in der Lage sind, Kunstwerke von Rang hervorzubringen, schafft die Voraussetzung für ihre Entstehung und bringt sie in den regulären Kunstkontext. Das hohe Niveau und die individuelle Personalisierung sind der Schlüssel zur Selbstkompetenz der Künstlerinnen und Künstler und führen zugleich zu einem Umdenken in der Gesellschaft. Durch die jahrelange intensive Zusammenarbeit mit den Künstlerinnen und Künstlern und ihren Werken stellt das Atelier Goldstein neben den künstlerischen zunehmend gesellschaftliche Prozesse und Fragen ins Zentrum seiner Arbeit. Vor allem bezüglich der Beachtung und Nichtbeachtung der Fähigkeiten von Menschen mit Beeinträchtigung offenbart sich ein enormes gesellschaftliches Potenzial, das bisher nicht annähernd ausgeschöpft wird. Dahingehend betrachtet das Atelier Goldstein die Zusammenarbeit sowie die Begegnung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung als Quelle neuer Erkenntnisse und wird weiterhin durch hochwertige Präsentationen und Kooperationen die herausragenden künstlerischen Leistungen in die Gesellschaft hineintragen. Atelier Goldstein begreift seine Arbeit als Instrument zum gesellschaftlichen Umdenken mit den Mitteln der Kunst.
Finanzierung
Finanziert wird die Atelierarbeit durch die Lebenshilfe Frankfurt am Main und aus Geldern des Persönlichen Budgets, SGB IX. Die Agenturarbeit sowie die Goldstein Galerie werden finanziell ausschließlich durch Verkäufe, Stiftungen, Sponsoren, Projektförderungen und durch den Trägerverein getragen.
Das Persönliche Budget, SGB IX, für Künstlerinnen und Künstler
Nach zehnjähriger Tätigkeit als Freizeiteinrichtung entwickelte das Atelier Goldstein 2010 ein Konzept zur Anwendung des Persönlichen Budgets für Kunstschaffende mit Beeinträchtigung. Seit 2011 arbeiten 15 Künstlerinnen und Künstler als Budgetnehmende im Atelier Goldstein und erkaufen sich Leistungen, wie z. B. ihren Atelierplatz, Materialien und individuelle Künstlerbetreuung. Art und Umfang der Leistungen werden individuell ermittelt und fließen entsprechend in die Budgetzielvereinbarungen ein. Alle Künstlerinnen und Künstler arbeiten in Teilzeit in der WfbM (zur Sicherung ihrer Sozial- und Rentenleistungen) und 16 Stunden an zwei Tagen pro Woche im Atelier Goldstein. Das Persönliche Budget wird dabei erstmalig innerhalb einer kleinen spezialisierten WfbM-unabhängigen Institution angewendet (LWV Hessen 2016).
Julia Krause-Harder (1973): Ihre Arbeit umfasst zwei große Werkgruppen: Zum einen fertigt sie aus einer Vielfalt gefundener Materialien lebensgroße Dinosaurier, die in ihrer anatomischen Präzision beinahe lebendig wirken. Zum anderen entstehen seit jeher textile Arbeiten, die nicht weniger komplex sind.
Bei der Entstehung kommt ihre eigenwillige handwerkliche Präzision zur Entfaltung. Krause-Harder arbeitet an zwei Tagen in der Woche als Künstlerin im Atelier Goldstein.
Ihr Ziel ist es, die WfbM zu verlassen und ausschließlich als freie Künstlerin im Rahmen des Budgets für Arbeit tätig zu sein.
Bisherige Tätigkeiten als freie Künstlerin:
- Stipendium: Stipendiatin des La Fruaga The Forge
Artist Residency
Programm, Spanien 2012 - Ausstellungen: „Julia Krause-Harder“, Kunstverein Bad Nauheim, 2015; „Kreaturen“, Mousonturm, Frankfurt am Main, 2014; „VUELO“ La Fragua, Cordoba Spanien, 2014
- Lehrauftrag: Altana Kulturstiftung – KulturTagJahr, Kulturelle Bildung im Schulalltag, 2014
- Auftragsarbeit: Textile Wandarbeit, Zitat von Bernhard von Clairvaux in einer von ihr entwickelten Typografie, 350 x 400cm, Marienkirche Aulhausen 2015
Weitere Informationen:
Julius Bockelt (1983): In seiner Arbeit sind musikalische Experimente, die sich mit Interferenzen und Tonschwingungen beschäftigen, eng mit seinen Zeichnungen verknüpft. In den Zeichnungen schafft er durch lineare Überlagerungen komplexe Moirébilder. Ein weiteres Genre seiner Arbeit sind von jeher Skulpturen. Bockelt schnitzt meist kleinformatige Figuren aus Holz oder PVC.
Bockelt arbeitet an zwei Tagen in der Woche als freier Künstler im Atelier Goldstein. Sein längerfristiges Ziel ist es, die WfbM zu verlassen und als freier Künstler und Musiker im Rahmen des Budgets für Arbeit tätig zu sein. Wichtig ist jedoch für ihn die soziale Absicherung, da ohne familiären Hintergrund und damit ohne finanzielle Unterstützung lebt.
Bisherige Tätigkeiten als freier Künstler:
- Performances: „Superposition“ mit Schneider TM und Sven Fritz, Goldstein Galerie 2014
- Musikalische Improvisation mit Uwe Dirksen (Ensemble Modern), 2012
- Pecha Kucha Night, Museum für Moderne Kunst Frankfurt, 2011
- Ausstellungen: „Art brut Collection ABCD“, La Maison Rouge, Paris 2014; „Magic Lines“, GAIA Museum Randers, Dänemark 2013; „Exhibition #4“, Museum of
- Everthing, London 2011; „Musik! “, Mad Musée, Liège 2008
- Auftragsarbeiten: Christusfigur aus Eichenholz, 300 x 90cm, 2010–2015, im Rahmen der Neugestaltung der Marienkirche Aulhausen; Mellotron, Tasteninstrument, basiert auf der Grundlage Bockelts Stimme, 2012; Entwurf für drei Fenster im Seitenschiff zu den Themen Kosmos, Zeit und Glaube, 2014; Kampagne Jazzunique für Groß&Partner, 2014; Gestaltung Programmheft des Staatstheaters Hannover, 2012; Gestaltung Plattencover Goldstein Variationen für Station17, 2008
Weitere Informationen:
Das Persönliche Budget zur beruflichen Qualifizierung
2012 folgte das Konzept zur Anwendung des Persönlichen Budgets zur beruflichen Qualifizierung im Atelier Goldstein. Dieses beinhaltet individuelle Eingliederungs- und Bildungspläne, zugeschnitten auf das künstlerische Potenzial des jeweiligen Bewerbers oder der Bewerberin. Junge Kunstschaffende können seit 2012 eine künstlerische Grundausbildung im Atelier Goldstein absolvieren. Die berufsvorbereitende Bildung fokussiert die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen künstlerischen Techniken und Medien in Praxis und Theorie. Ziele sind die Entwicklung und Festigung der eigenen künstlerischen Handschrift, die Spezifizierung in Techniken und Medien sowie die Erarbeitung von eigenen Themengebieten. Nach der 27-monatigen Grundausbildung soll die Möglichkeit zum Übergang zu einer beruflichen Ausbildung bestehen.
Juewen Zhang (1995) absolvierte 2010 sein Schulpraktikum im Atelier Goldstein. Im Laufe des Praktikums kristallisierte sich sein virtuoser Umgang mit klassischen Techniken heraus. Seine Grundbildung konzentriert sich daher auf Techniken der Grafik, wie Zeichnung, Aquarell und Ölmalerei. Vor allem in den großformatigen Kohlezeichnungen zeigt er einen hemmungslosen Umgang mit dem Medium Kohle. Inhaltlich favorisiert er Porträts, die sein Gespür, die dargestellten Personen in ihrem Innersten zu erfassen, widerspiegeln. Zhang arbeitet seit August 2012 an vier Tagen in der Woche im Atelier Goldstein. Die berufliche Qualifizierung endete Ende Oktober 2014.
Sein längerfristiges Ziel ist es, ein Gast- bzw. Studium an einer Kunsthochschule zu absolvieren und anschließend als freier Künstler tätig zu sein. Notwendig sind hierzu inklusive Ausbildungsstrukturen an einer Kunsthochschule sowie ein Maßnahmenkonzept, welches ihm die nötige Assistenz finanziert.
Weitere Informationen:
Positive und negative Aspekte hinsichtlich des Persönlichen Budgets für Künstlerinnen und Künstler
Positiv: Im Rahmen der Umstrukturierung durch das Persönliche Budget, weg vom ursprünglichen Freizeitatelier, ist bei allen Künstlerinnen und Künstlern eine enorme Weiterentwicklung zu verzeichnen. Wider Erwarten wird nicht quantitativ, sondern qualitativ gearbeitet. Die intensivere Auseinandersetzung, in Form von mehr Zeit und technischer wie materieller Begleitung, spiegelt sich in den Werken wie auch in den Persönlichkeiten wider. Die Künstlerinnen und Künstler nutzen zudem das Atelier Goldstein als Institution zwischen dem ersten und zweiten Arbeitsmarkt. Sie erhalten ein monatliches Gehalt als Ausgleich zu ihrer Teilzeitbeschäftigung in der WfbM sowie vertraglich vereinbarte Anteile bei Verkauf ihrer Werke. Durch Ausstellungen, Veröffentlichungen, Aufträge und Verkäufe sind sie Teil des ersten, allgemeinen Arbeitsmarkts als freie Künstlerinnen und Künstler.
Negativ: Das Konzept des Atelier Goldstein zum Persönlichen Budget für Künstlerinnen und Künstler basiert nicht auf dem Budget für Arbeit, sondern auf dem Budget zur Teilhabe an der Gesellschaft. Mittlerweile besteht jedoch bei acht von 15 Kunstschaffenden der Wunsch, Vollzeit im Atelier Goldstein zu arbeiten und den Werkstattkontext vollkommen zu verlassen, da ihre Beschäftigung dort nichts mit ihrem künstlerischen Tun und damit nichts mit der von ihnen gewählten Profession zu tun hat. Aufgrund eines immer noch defizitären Haushalts ist das Atelier Goldstein nicht in der Lage, die Künstlerinnen und Künstler renten- und sozialversicherungsgestützt in Vollzeit zu beschäftigen. Die Übernahme der Renten- und Sozialversicherung durch den Kostenträger ist nach wie vor an den WfbM- Status der Institution gekoppelt.
Forderung zur Weiterentwicklung
- Prüfung und Entwicklung der Rahmenbedingungen für professionelle Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung innerhalb etablierter Kulturinstitutionen;
- Prüfung und Entwicklung des Budgets für Arbeit für Kunstschaffende mit Beeinträchtigung und auf politischer Ebene zur Diskussion stellen;
- Prüfung und Entwicklung der Grundlagen des Gesetztes zum Persönlichen Budget und dessen Anwendbarkeit in einer modernen und flexiblen Gesellschaft, die Inklusion anstrebt;
- Erhalt und Schaffung von Institutionen (wie Ateliers, Studios, Agenturen usw.), in denen Kunstschaffende mit Beeinträchtigung unter professionellen Bedingungen ihrer Tätigkeit nachgehen können;
- Erhalt und Schaffung von Institutionen (wie Ateliers, Studios, Agenturen usw.), die Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung und ihre Werke bzw. ihre Arbeit adäquat präsentieren, vermarkten und vermitteln.
Literatur
- LWV Hessen (Landeswohlfahrtsverband Hessen) (2016): „Das ist alles Zukunftsmusik“ [www.lwv-hessen.de/webcom/show_article.php/_c-330/_nr-114/i.html, zuletzt aufgerufen am: 01.06.2016].