„Jeder Mensch ist ein Künstler“ – der berühmte Ausspruch von Joseph Beuys scheint Wasser auf die Mühlen der Inklusion zu sein. Beuys selbst hat sich gegen die zusammenhangslose Rezeption seines Ausspruchs allerdings sehr gewehrt.
Denn dies ist die große Fälschung, die immer wieder fabriziert wird, bösartig und bewußt entstellt wiedergegeben wird, daß wenn ich sage: jeder Mensch ist ein Künstler, ich sagen wolle, jeder Mensch ist ein guter Maler. Gerade das war ja nicht gemeint, sondern es war ja die Fähigkeit gemeint, an jedem Arbeitsplatz, und es war gemeint, die Fähigkeit einer Krankenschwester oder die Fähigkeit eines Landwirtes als gestalterische Potenz und sie zu erkennen als zugehörig einer künstlerischen Aufgabenstellung. Das war ja gemeint. (Beuys 1985: 5).
Im Kontext Kunst geht es Beuys an anderer Stelle durchaus um Lernen:
Kunst kann man lernen, eine gewisse Begabung wird wohl Voraussetzung sein, aber Fleiß gehört dazu. Kunst kommt von Kunde, man muss etwas zu sagen haben, auf der anderen Seite aber auch von Können, man muss es sagen können. Und dann Sinn für Proportionen, für Masse, Formsinn, Gleichgewicht. Natürlich ist das subjektiv. Aber es gibt keine Möglichkeit, Urteile zu fällen außerhalb des Subjekts. (Beuys in Mäckler 2000: 113)
Künstlerische Qualität fordert Auseinandersetzung: „Wenn man sich nicht an eine innere Gesetzmäßigkeit der Dinge hält, dann wird niemals eine Qualität daraus entstehen – also niemals eine Gestalt“, so Beuys (Kalesse/Skladny 2016: 332). Auseinandersetzung mit Gesetzmäßigkeit ist Experiment und Diskussion, Erfahrung, Korrektur und Weiterentwicklung in Settings des informellen wie des formellen schulischen und akademischen Lernens. Kunst für alle ist, allen diese Auseinandersetzung zuzutrauen. Kunst für alle ist, eine Wahl zu ermöglichen: Die Wahl, sich mit den Künsten zu befassen oder nicht, die Wahl im Bereich der Künste produktiv und/oder rezeptiv tätig zu sein, die Wahl, ein einmal gewecktes Interesse zu vertiefen oder sich anderen Interessensgebieten zuzuwenden. Teilhabegerechtigkeit heißt nicht, in jedem Feld tatsächlich tätig zu werden, Teilhabegerechtigkeit heißt, in die Lage der tatsächlichen Wahl versetzt zu werden und angemessene Bedingungen für kreative Gestaltung vorzufinden.
Teilhabegerechtigkeit meint nicht nur, aber auch im Kontext der Künste, von Beginn des Lebens an eine positiv-unterstützende Reaktion auf den forschenden und experimentierenden Geist der Kinder zu zeigen, die ganz generell in einem Strom von Neugier die Welt und ihre Gesetze erkunden. Eines der schönsten Bücher über die Förderung und Unterstützung von Kindern ist der – leider vergriffene – Titel „Bildung mit Demokratie und Zärtlichkeit – Lernvergnügen Vierjähriger“ (Hoenisch/Niggenmeyer 2003). Nancy Hoenisch, bekannt für Konzepte frühkindlichen naturwissenschaftlichen Lernens (ebd. 2004) zeigt, wie sie vierjährigen Kindern ermöglicht, die Gesetzmäßigkeit der Dinge zu erfahren, Kindern, die als „lernbehindert“ und „verhaltensauffällig“ klassifiziert würden, wären sie nicht in ihrer Kindergartengruppe.
Das Erleben der Gesetzmäßigkeiten durch Sortieren, Klassifizieren, das Bilden von Mustern, das Erkennen und Bilden von Symmetrien in einer Atmosphäre unbedingter gegenseitiger Anerkennung ist die Basis für kreatives Gestalten. „Musik haben wir den ganzen Tag. Ich unterrichte sie nicht, wir machen sie. Und montags und donnerstags kommt unsere Musiklehrerin dazu.“ (Ebd. 2003: 33) Würde das Prinzip Lernvergnügen, wie es bei Hoenisch aufscheint, das gesamte pädagogische und kulturelle Feld durchziehen, wäre Inklusion zwar immer wieder aufregend und herausfordernd, aber ebenso immer wieder ein kognitives und emotionales „Wärmeelement“, um noch einmal einen Begriff von Beuys zu nutzen. Schreiben ist Zeichnen und Kommunikation ist Singen, Hören ist Musik machen und Muster erkennen ist ebenfalls Musik machen: Die Streifen eines T-Shirts werden zur Partitur. Die Fortsetzung dieser fordernden und fördernden Grundhaltung durch alle Phasen der formellen Bildung hindurch wäre dann nachhaltige Bildungsgerechtigkeit, mit der Option zu Teilhabegerechtigkeit.
Die künstlerischen Unterrichtsfächer sind als Teil des schulischen Bildungskanons durchaus Ausdruck von Teilhabegerechtigkeit: Sie ermöglichen allen Kindern und Jugendlichen eine Auseinandersetzung mit sich selbst im Verhältnis zu Musik, den Bildenden Künsten, zu Darstellendem Spiel und Theater, zu Tanz, zu textilem Gestalten usw. Kämpfen die künstlerischen Fächer einerseits mit Lehrermangel und Bedeutungsverlust, erfahren sie andererseits über politisch gewollte und geförderte Großprojekte, wie „Jedem Kind ein Instrument“ oder „Kulturschule“, hohe Akzeptanz. Ästhetische Bildung ist grundsätzlich auch Thema in den Förderschulen und in inklusiven Klassen. Auf den eklatanten Lehrermangel in den künstlerischen Fächern reagiert insbesondere die Ganztagsschule durch früher verpönte Kooperationen mit Institutionen der außerschulischen Bildung wie Jugendkunst- und Musikschulen. Allerdings: Die wenigsten der Lehrerinnen und Lehrer mit künstlerischen Unterrichtsfächern, aber auch die wenigsten der Künstlerinnen und Künstler, die ihre Disziplinen an den Förderschulen und in inklusiven Settings vertreten, haben eine Ausbildung für das künstlerische Arbeiten mit Kindern mit Beeinträchtigung. Die Alterspyramide der Unterrichtenden zeigt, dass gerade einmal 7 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer bis 30 Jahre alt sind, also rein theoretisch im Rahmen ihrer Ausbildung auf die Arbeit in heterogenen Klassen und Gruppen vorbereitet werden konnten.
Rein praktisch bereiten die Ausbildungsinstitutionen der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer in künstlerischen Fächern noch nicht durchgängig auf die Arbeit mit einer heterogenen Schülerschaft vor. Allmählich reagieren die Ausbildungsstätten auf die Tatsache der sich verändernden Berufswelt: Einige der Ausschreibungen für musikpädagogische Professuren der vergangenen Jahre haben Lehre auch für den Inhalt Inklusion verlangt; im akademischen Mittelbau werden vereinzelt Stellen mit Schwerpunkt Inklusion eingerichtet. Im Übrigen besteht bislang ein eklatanter Mangel an Vertreterinnen und Vertretern der akademischen Lehre, die künstlerisch-pädagogisches Arbeiten in inklusiven Kontexten in Lehre und Forschung vertreten. Die Impulse für Lehre und Forschung in Sachen Musik und Inklusion kommen heute überwiegend von Kolleginnen und Kollegen, die als Musikerin oder Musiker in ihrer prae-professoralen Zeit bereits Projekte in sozialen Brennpunkten oder in Settings gemeinsamen Lernens durchgeführt haben; eine der Kolleginnen hat beispielsweise eine Doppelqualifikation als Musiktherapeutin und Musikpädagogin. Die Hochschullehre im Themenfeld Musik und Inklusion ist immer noch eine Besonderheit. Sie ist, so sie denn geschieht, Ausdruck persönlichen bürgerschaftlichen Engagements, verbunden mit einem gesellschaftsorientierten Verständnis von Musikpädagogik bzw. Musikvermittlung.
Das gesellschaftsbezogene Verständnis von Kultureller Bildung zeigt sich insbesondere in Projekten künstlerischer Ausbildung für Menschen mit Beeinträchtigung, die jenseits „offizieller“ Ausbildungsgänge entstehen. Die Genese dieser Ausbildungsgänge lässt sich etwa so beschreiben: Im Rahmen inklusiver künstlerischer Projekte fällt immer wieder auf, dass es für künstlerisch begabte Menschen mit Beeinträchtigung so gut wie keine Angebote künstlerischer Aus- und Weiterbildung gibt. Da der akademische Weg über die Hochschule nur ausnahmsweise zu beschreiten ist, ist die Einrichtung eigener Aus- und Weiterbildungsangebote das Mittel der Wahl. Die künstlerische Erfahrung und Ausbildung geschieht in unterschiedlicher Weise und Intensität: Manchmal bleibt es für die Menschen mit Beeinträchtigung bei der Teilnahme an Projekten, manchmal entsteht aus den Projekten heraus der offensichtliche Bedarf nach weiterer künstlerischer Qualifizierung. Die offensichtlichen Ausbildungsbedarfe werden entweder durch Neugründungen von Ausbildungsgängen, durch eigene Aus- und Weiterbildungsangebote innerhalb der langfristigen Projekte, wie etwa im Theater RambaZamba oder über neue Kooperationen mit bestehenden Ausbildungsinstitutionen gedeckt. Die aktuellen Aktivitäten von EUCREA sind hierfür Beispiele.
Die Hochschullehre wie auch die Lehre in den neu entstehenden Einrichtungen verlangt Kreativität, pädagogischen Optimismus, diagnostische Fachkompetenz und Mut zum Experiment. „We have the right to make mistakes“ ist die Devise des Ensembles und Projekts türkischer Musikerinnen und Musiker KeKeÇa in Istanbul und Eskişehir (Bulut 2010); ein Ensemblemitglied hat im Übrigen am Orff-Institut in Salzburg studiert.[1] Das Ensemble ist international im Feld der künstlerischen Bodypercussion präsent und arbeitet mit den Mitteln der Bodypercussion mit gehörlosen Jugendlichen, es war vielfach in Deutschland zu Workshops eingeladen. Das Motto „We have the right to make mistakes“ muss auch für Ausbildungen im Bereich Kunst und Inklusion gelten dürfen. Andernfalls führt Inklusion in ein Bildungsaus.
Literatur
- Beuys, Joseph (1985): Reden über das eigene Land: Deutschland, 3 [www.menschenkunde.com/pdf/texte/geschichte_politik/beuys_deutschland.pdf, zuletzt aufgerufen am: 10.06.2017].
- Bulut, M. Özgü (2010): Body Music and Socio-Cultural Change. Music and Music Education within the Context of Socio-Cultural Changes. In: Kalyoncu, D. Erice/Akyüz, M. (Hrsg.): Müzik Eğitimi Yayınları Ankara [www.academia.edu/4782548/Bulut_%C3%96zg%C3%BC._Body_Music_and_Socio-Cultural_Change_Music_ and_Music_ Education_within_the_Context_of_Socio-Cultural_Changes. Ed._Nesrin_Kalyoncu_Derya _Erice_Metin_Aky%C3%BCz_Ankara_M%C3%BCzik_E%C4%9Fitimi_Yay%C4%B1nlar%C4%B1_2010_ss._83-90_, zuletzt aufgerufen am: 10.06.2017].
- Hoenisch, Nancy/Niggemeyer, Elisabeth (2003): Bildung mit Demokratie und Zärtlichkeit: Lernvergnügen Vierjähriger. Weinheim: Beltz.
- Hoenisch, Nancy/Niggemeyer, Elisabeth (2004): Mathe-Kings. Junge Kinder fassen Mathematik an. Weimar/Berlin: das netz.
- Kalesse, Dieter/Skladny Helene (2016): „Kunst kennt keine Behinderung“. Kunst und Inklusion: Theorie und Praxis am Beispiel der Arbeit des Ateliers Strichstärke. In: Menschenrecht Inklusion: 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Umsetzung in Sozialen Diensten und diakonischen Handlungsfeldern. Hrsg. Theresia Degener et al. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, S. 325–348
- Mäckler, Andreas (Hrsg.) (2000): 1460 Antworten auf die Frage: Was ist Kunst? Köln: DuMont.
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