Das Thema Inklusion sorgt in Theorie und Praxis reichlich für Auseinandersetzung. Die Bundesländer setzen die schulische Inklusion, setzen das von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte gemeinsame Lernen aller Kinder von Anfang an in unterschiedlichen Modellen und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten um.
Während die – soeben abgewählte – Landesregierung NRW das gemeinsame Lernen in der vergangenen Legislaturperiode außerordentlich forciert hat, lässt sich das Saarland Zeit und erprobt Inklusion zunächst in einigen Modellschulen. Auch die Lehrerbildung in der Bundesrepublik kennt unterschiedliche Tempi und Modelle: Eine Richtung plädiert für die Beibehaltung und Profilierung eines eigenständigen Lehramtes Sonderpädagogik mit einem Schwerpunkt in der diagnostischen Kompetenz, eine andere Richtung verfolgt ein Ausbildungsmodell, das Sonderpädagogik zum Wahlschwerpunkt innerhalb der Lehrerausbildung für die Grund- und Sekundarstufen macht. (Schumann 2014: 1) International werden drei Modelle einer inklusionsorientierten Lehrerbildung diskutiert: Das discret model oder infusion model belässt es bei getrennten Studiengängen für die Lehrämter an Regel- und Sonderschulen und ergänzt die Curricula additiv um den Inhalt Inklusion. Das integrated model oder collaborative training model der Lehrerbildung gestaltet Teile des Curriculums neu; Veranstaltungen zu Inklusion sind für alle verpflichtend. Ein einfacher aber auch ein doppelter Abschluss ist möglich. Das merged model oder unification model kennt nur noch eine Ausbildung mit der Grundorientierung Inklusion; die Absolventinnen und Absolventen können in verschiedenen Schulen arbeiten (Demmer-Dieckmann 2014).
Die künstlerisch ausbildenden Universitäten und Hochschulen in der Bundesrepublik folgen überwiegend dem infusion model; wenn sie innerhalb der Studiengänge Veranstaltungen mit dem Schwerpunkt Inklusion anbieten. Es fällt auf, dass künstlerische Interdisziplinarität und fachübergreifende wie auch institutionenübergreifende Kooperationen einen zunehmend größeren Raum innerhalb der Ausbildungen einnehmen. Die Verbindungen zu Kulturinstitutionen außerhalb der Ausbildungsstätten bzw. zum kulturellen Raum werden intensiver und auch langfristiger gestaltet.
Besonders bedeutsam für die Ausbildungen ist die Teilnahme von Menschen mit Beeinträchtigung an Praxisseminaren innerhalb der Ausbildungsinstitutionen. Menschen aus den WfbM (Werkstätten für behinderte Menschen) kommen beispielsweise etwa in Osnabrück oder Dortmund in die Universität und arbeiten mit Studierenden in künstlerischen Projekten, in Tanzproduktionen oder im Chor. Die konkrete Begegnung innerhalb des universitären Rahmens und die Arbeit am gemeinsamen Gegenstand eröffnet allen Beteiligten neue und überraschende Sichtweisen. Die Selbstreflexion der Studierenden beginnt oftmals mit Sätzen wie „Ich hätte nicht gedacht, dass …“ oder „Ich schäme mich, dass ich gedacht habe, dass …“ (Merkt 2012: 99).
Menschen mit Behinderung als Lehrende an der Universität oder in anderen Bildungsgängen – bislang kaum denkbar. Das Institut für inklusive Bildung in Kiel initiiert das Undenkbare: Menschen aus der Werkstatt Drachensee werden in einer dreijährigen Ausbildung zu Dozentinnen und Dozenten ausgebildet, die den Studierenden bestimmte Inhalte vermitteln. Die Christian-Albrecht-Universität in Kiel war Partner dieses Projektes; heute ist das Institut für inklusive Bildung ein An-Institut der Universität.
Menschen mit Beeinträchtigung als Lebensberater, Motivational Speaker und Referent in Seminaren für Führungskräfte? Matthias Berg, conterganbehindert, ist einer von ihnen. Er hat Jura und parallel Musik studiert, spielte als Hornist mit den großen Orchestern der Welt und ist mit insgesamt 27 Medaillen einer der erfolgreichsten Behindertensportler der Welt. Seit mehr als 25 Jahren besucht er Schulklassen, um über Sport und Musik zu sprechen und darüber, „wie es sich mit Behinderung lebt, wie man eigene Grenzen und Barrieren überwindet, was Fairness im täglichen Umgang miteinander bedeutet und wie man seinen Platz im Leben findet.“
Janis
McDavid, geboren ohne Arme und Beine, ist ebenfalls dabei, das Bild vom Leben
unter besonderen Bedingungen zu verändern. Wenn er sich etwas wünschen könnte,
wären es nicht Arme und Beine: „Ich würde mein Alleinstellungsmerkmal verlieren
und das Leben negieren, das ich mir mühsam erkämpft habe. Ich glaube, dass ich
Möglichkeiten habe, die andere nicht haben“
(Lache/Breng 2016).
Beide, Matthias Berg und Janis McDavid, haben Ausbildungsstrukturen und Ausbildungsmöglichkeiten vorgefunden, die darin unterstützt haben, die zu werden, die sie heute sind: Menschen, die anderen zeigen, dass ein Leben mit Beeinträchtigung sehr aufregend und sehr normal sein kann.
Weitere Informationen:
Literatur
- Demmer-Dieckmann, Irene (2014): Inklusion in der Lehrerbildung: Modelle, Beispiele, Herausforderungen [www.bundestreffen-2014.de/data/Demmer-Dieckmann_langfassung.pdf, zuletzt aufgerufen am: 15.06.2017].
- Lache, Anette/Breng, Jonas (2016): Mann ohne Arme und Beine: Mir fehlt nichts. Ich bin glücklich. In: Stern Online, 02.04.2016 [www.stern.de/panorama/gesellschaft/mann-ohne-arme-und- beine -- mir-fehlt-nichts--ich-bin-gluecklich---janis-mcdavid-im-gespraech-6774910.html, zuletzt aufgerufen am: 15.06.2017].
- Merkt, Irmgard (2012): Voices: an inclusive choir in Dortmund, Germany. Approaches: Music Therapy & Special Music Education, 4 (2), S. 93–100 [http://approaches.gr/wp-content/uploads/2015/09/Approaches_422012_Merkt_Article.pdf, zuletzt aufgerufen am: 15.06.2017].
- Schumann, Brigitte (2014) Das Thema Inklusion in der Schule. In: Bildungsklick [https://bildungsklick.de/schule/ meldung / das-thema-inklusion-in-der-lehrerbildung, zuletzt aufgerufen am: 15.06.2017].
Weiterführende Literatur
- McDavid, Janis (2016): Dein bestes Leben – Vom Mut, über sich selbst hinauszuwachsen und Unmögliches möglich zu machen. Freiburg: Herder.
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