Ein kürzerer und ein etwas längerer Gedankengang schließen die Dokumentation der Netzwerktagung 2017 zum Thema „Menschen mit Behinderung in Presse, Film und Fernsehen“. Der erste und kürzere Gedankengang gilt dem Thema der Partizipation. Partizipation zieht sich als Zauberwort durch alle Empfehlungen, Lösungsvorschläge, Rezepte, positiven Erfahrungsberichte und politische Forderungen.
Wenn Du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen.
(Kleist 1907:33)
So hilfreich die kleistsche Reflexion in vieler Hinsicht bis heute ist – manchmal ist es doch unerlässlich, einen „scharfdenkenden Kopf“ und Menschen mit besonderen Lebenserfahrungen zu befragen, die Meinung einzuholen, die Sichtweisen zur Kenntnis zu nehmen, die Vorschläge zu bedenken und deren Umsetzung zu erproben. Inklusion ist ein solches „Manchmal“. Auch der empathischste und engagierteste Inklusionsverfechter, auch die langjährige Inklusionsspezialistin erleben es immer wieder: Es gibt Dinge, an die sie nicht gedacht, Aspekte, die sie nicht gesehen haben. Auch der gesellschaftliche Prozess der Inklusion ist eine Folge von Versuch und Irrtum.
Partizipation heißt Zugeben, dass es nicht nur eine, dass es nicht nur die eigene Meinung, Erfahrung und Lösung gibt. Partizipation heißt Zugeben, dass in Teamwork andere und sogar befriedigendere Lösungen für kleinere und größere Probleme entstehen. Partizipation ist der Abschied der oder des Einzelnen vom Rechthaben – und damit auch von der Macht. Ist es auch deshalb so kompliziert mit der Inklusion?
Der zweite, längere Gedankengang zum Thema „Menschen mit Behinderung in Presse, Film und Fernsehen“ ist ein Zitat, ist ein Artikel der Schriftstellerin, Bloggerin und Slam-Poetin Ninia Binias, mit Künstlernamen Ninia LaGrande. Der Artikel von 2015 fasst die Argumente rund um die Präsenz von Menschen mit Beeinträchtigung im Film auf solch konzise Weise zusammen, dass sich weitere Exzerpte oder Zusammenfassungen einfach erübrigen.
Dieser Artikel kitzelte schon lange in den Fingern. Durch die aktuelle Auszeichnung Eddie Redmaynes mit dem Oscar für die beste männliche Hauptrolle hatte ich endlich einen aktuellen Anlass, mir das ganze Thema mal wieder durch den Kopf gehen zu lassen. Redmayne spielte den Physiker Stephen Hawking in dem Film „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, und zwar sehr überzeugend. Jedoch drängt sich mir der Gedanke auf, dass seine schauspielerische Leistung nicht der einzige Grund für die Auszeichnung war.
In der ganzen Oscargeschichte machte es sich immer gut, wenn jemand einen Menschen mit Behinderung spielt. Aber: Wo sind eigentlich die Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung? Vielfalt scheint für die Academy, die jedes Jahr über die Vergabe der Oscars entscheidet, ein Fremdwort zu sein: 20 von 20 Schauspielerinnen und Schauspielern, die dieses Jahr nominiert waren, waren weiß. 94 Prozent der Mitglieder der Academy sind weiß. 77 Prozent sind männlich. Wie viele Mitglieder eine Behinderung haben, lässt sich leider nicht herausfinden. Ich fürchte aber, die Zahlen werden auch hier nicht besonders positiv ausfallen.
Nicht authentisch genug?
Innerhalb der „Inklusionsszene“, was vielleicht so etwas wie der „Netzfeminismus™“ ist, wird oft darüber diskutiert, wie Menschen mit Behinderungen in den Medien dargestellt werden. Dazu gehört natürlich auch die Diskussion, welche Rollen im Fernsehen und Kino eigentlich von nicht behinderten Schauspielerinnen und Schauspielern dargestellt werden und welche von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung. Einige sind der Meinung, dass Schauspielerinnen und Schauspieler, die selbst keine Behinderung haben, ein Leben mit Behinderung nicht nachvollziehen können und deshalb nicht authentisch darstellen können. Das Argument: Sie würden ein falsches Bild eines Menschen mit Behinderung zeigen. Außerdem wird der Vergleich zum so genannten „Blackfacing“ gezogen mit „blacking up“ versus „cripping up“. Die rassistische Tradition des Blackface lässt sich aus meiner Sicht nicht mit der Darstellung von Menschen mit Behinderungen vergleichen, es handelt sich hierbei um zwei völlig verschiedene Dinge. Mir geht diese Forderung nicht weit genug. Na klar, ein Schauspieler wie Eddie Redmayne, der sonst durch die Gegend läuft, weiß nicht, wie man in einem Rollstuhl sitzt, wenn man auf ihn angewiesen ist.
Das ist sicher ein Problem der Authentizität. Aber: Dann lässt er sich das eben zeigen: „Für seine Rolle arbeitete der gebürtige Londoner hart: Über Monate studierte er Hawkings Nervenkrankheit ALS, traf sich mit Betroffenen, sprach mit Ärzten, trainierte seinen Körper mit einer Choreographin und las und schaute alles, was ihm über den Physiker in die Finger kam.“ (Welt 2015)
Mit jedem anderen Kram, den die Rolle erfüllen muss, beschäftigt er sich im Vorfeld ja auch. Und wenn es für diese Rolle einen passenden Schauspieler gibt, der im Rollstuhl sitzt, dann bekommt er die Rolle. Das ist auch schön! Was ich damit sagen möchte: Eddie Redmayne ist auch kein Physiker. Und er hat trotzdem einen gespielt. ChrisTine Urspruch ist auch keine Ärztin. Und hat trotzdem eine gespielt. Ich glaube, sie ist auch keine Pathologin, wie im Münsteraner Tatort, aber das macht sie, wie alles, sehr überzeugend. Wenn ich mal sehr berühmt werde und mein Leben verfilmt würde, dann muss ich nicht unbedingt von einer Schauspielerin verkörpert werden, die auch kleinwüchsig ist. Ich würde mir wünschen, dass es Drew Barrymore macht, aber die müsste ich erst fragen. Wenn sie aber in der Lage ist, mich insgesamt super darzustellen, dann soll sie das tun. Das ist ihr Job. Dinge spielen, die eigentlich nicht ihrem Charakter, Erscheinungsbild und Erfahrungen entsprechen. Aleksander Knauerhase hat dazu schon vor einiger Zeit einen guten Artikel geschrieben: „[…] Eines darf man hier nämlich nie vergessen: Kennst Du einen Menschen mit Behinderung kennst du genau diesen einen. Nicht jeder Rollifahrer, blinde Mensch oder autistischer Mensch ist gleich. Wir sind alle unterschiedlich und so wird immer jemand sagen: Das war aber nicht realistisch gespielt.“ (Knauerhase 2015)
Es gibt nicht genug Schauspieler*innen mit Behinderung
Was ich mich aber frage: Welche bekannten Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung gibt es überhaupt? Tja. So viele nämlich nicht. Na klar, da ist eine Christine Urspruch, ein Rolf Brederlow und ein Erwin Aljukic und in den USA fällt einer vielleicht als erstes Peter Dinklage aus „Game of Thrones“ ein. Und wenn es dann doch mal einen Film über einen Menschen mit Behinderung gibt, dann ist es – zumindest leider immer noch im deutschen TV – der zu bemitleidende beste Freund, die Tochter, die einen tragischen Unfall hatte oder die bedauernswerte Schwester, die eine angeborene Behinderung hat. Die Filme, in denen ein Mensch mit Behinderung im Mittelpunkt steht, kann man an einer Hand abzählen und diese drehen sich dann trotzdem in der Hauptsache um die Behinderung und nicht um die Suche nach der großen Liebe und nach dem aufregenden Abenteuer. Zum Beispiel: „Irgendwo in Iowa“, in dem der (dafür natürlich mit dem Oscar nominierte) Leonardo DiCaprio auf Grund seiner Behinderung nur für Probleme und Einschränkungen der anderen Protagonistinnen und Protagonisten sorgt. Oder, noch aktuell: „Ziemlich beste Freunde“ – ein Film, der trotz schöner Geschichte, immer noch den Fokus auf die Behinderung des Hauptdarstellers legt. Es geht aber auch besser: Laura Gehlhaar hat den Film „Der Kotzbrocken“ (ARD) gesehen, der sie dann doch überrascht hat.
Meine Theater-AG war inklusiver als die Filmbranche
Das bedeutet für mich im Umkehrschluss, dass Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung viel, viel mehr in die Branche eingebunden werden müssen. Das fängt damit an, dass Schauspielschulen in den meisten Fällen nicht inklusiv sind – außer zum Beispiel in Ulm –, und auch Hollywood sich für Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Produzentinnen und Produzenten mit Behinderung öffnen sollte, wie es die Regisseurin Jen McGowan schon fordert.
Ich habe, als ich noch viel mehr Flausen im Kopf hatte, auch darüber nachgedacht, Schauspielerin zu werden und war, so lange ich denken kann, Mitglied der Theater-AG. Ich habe die letzten drei, vier Jahre immer die weibliche Hauptrolle gespielt. Wir haben alle nicht darüber nachgedacht, dass ich über einen halben Meter kleiner bin als die „Prinzen“ und „Helden“, die sich um mich bemühten. Wir haben es einfach gemacht. Und deshalb war dieser Gedanke in meinem Kopf, das mal beruflich zu machen, gar nicht so abwegig. Bis ich bei genaueren Recherchen darauf kam, dass ich bei einer Oscar-Jury, die so vielfältig ist wie ein Wald voller Fichten, niemals eine Auszeichnung bekommen hätte. Auch heute noch würde niemand eine kleinwüchsige Julia besetzen. Außer, das Haus „wagt“ mal was. Und letztendlich würde ich dann wieder nur den Zwerg spielen. Also habe ich mich dann doch umentschieden.
Stinknormale Rollen sind für alle da
Wenn also ein Eddie Redmayne eine Auszeichnung für eine Rolle bekommt, die neben vielen anderen Eigenschaften auch eine Behinderung hat, und er diese Rolle sehr gut verkörpert hat, wie auch Stephen Hawking bestätigt hat, dann ist das aus meiner Sicht völlig ok. Wenn er für diese Rolle nominiert wird, weil er sie gut gespielt hat, ist das auch ok. Wenn er aber nur in den Fokus der Academy kommt, weil er jemanden spielt, der vermeintlich „anders“ ist, dann ist das todtraurig und peinlich.
Wir haben das Jahr 2015. Es wird endlich Zeit, dass wir auch stink-„normale“ Rollen mit Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung besetzen. Dass irgendein Typ in irgendeinem Film vielleicht Apotheker ist, Federn sammelt und im Rollstuhl sitzt. Oder dass irgendeine Frau in irgendeinem Film gerne Ringelstrumpfhosen trägt, als Chemikerin arbeitet und einen Arm hat. Und dass wir uns über die Besetzung und Auszeichnung von Schauspielerinnen und Schauspielern, die das Leben mit Behinderung nicht kennen, überhaupt nicht mehr aufregen müssen, weil es genug andere, präsente Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung gibt, die gleichberechtigt in die Branche eingebunden sind.“*
(LaGrande 2015)
* Der Artikel ist zuerst erschienen auf leidmedien.de. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
Literatur
- Kleist, Heinrich von (1907): Heinrich v. Kleists Werke in sechs Teilen. Teil 5. Hrsg. von Hermann Gilow, Willy Manthey und Wilhelm Waetzold. Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart: Deutsches Verlagshaus Bong und Co., S. 33-38.
- Knauerhase, Aleksander (2015): Inklusion ist: Wenn Behinderung keine Rolle mehr spielt. In: Quergedachtes. Ein Blog über Autismus, 02.02.2015 [www.quergedachtes.wordpress.com/2015/02/02/inklusion-ist-wenn-behinderung-keine-rolle-mehr-spielt, letzter Zugriff: 16.04.2018].
- LaGrande, Ninia (2015): Behinderung spielen? Eddie Redmayne und der Oscar. In: Leidmedien.de [www.leidmedien.de/aktuelles/behinderung-spielen-eddie-redmayne-und-der-oscar, letzter Zugriff: 16.04.2018].
- Welt (2015): Eddie Redmayne erhält Oscar für beste Hauptrolle, 23.02.2015 [www.welt.de/kultur/kino/article137719527/Eddie-Redmayne-erhaelt-Oscar-fuer-beste-Hauptrolle.html, letzter Zugriff: 16.04.2018].
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