Verfolgt man die im Zusammenhang mit Inklusion häufig kontrovers geführten Diskussionen, so könnte der Eindruck entstehen, es handele sich in erster Linie um ein schulisches Thema, das mit dem Eintritt in die Berufsqualifizierung keine Rolle mehr spielt. Inklusion in beruflichen Settings wird deutlich weniger thematisiert und auch weniger problematisiert.
Dies ist keineswegs der gelingenden Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geschuldet. Das Thema findet lediglich weniger Beachtung in der medialen Öffentlichkeit. Insofern ist zu begrüßen, dass im Rahmen der Netzwerktagung die Relevanz des Themas auch für Hochschulen und Universitäten hervorgehoben wird.
Für die Konzeption der künstlerischen Studiengänge ist Inklusion in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen geht es um den Abbau von Barrieren, um auch Menschen mit einer Behinderung den Zugang zu künstlerischen Studiengängen zu ermöglichen. Zum anderen geht es um die Auswahl relevanter Studieninhalte, die Absolventinnen und Absolventen dazu befähigen, sich nach Studium und Berufsqualifizierung in inklusive Settings einzubringen. Für Künstlerinnen und Künstler mit einer Behinderung, die eine professionelle künstlerische Laufbahn eingeschlagen haben, ist ein weiterer Aspekt von Bedeutung. Nämlich die Frage, ob ein Projekt bereits dann ein inklusives Projekt ist, wenn sie nicht wegen, sondern trotz ihrer Behinderung an der Planung und Durchführung beteiligt sind. Sind Konzerte mit Evelyn Glennie, Thomas Quasthoff und Stevie Wonder inklusive Konzerte? Mit Sicherheit ist eine Dekategorisierung nicht immer möglich, aber unter welchen Umständen ein solcher Schritt notwendig ist, um den Blick auf das künstlerische Ergebnis freizugeben, soll am Beispiel eines Musikprojekts des deutschen Musikrats aufgezeigt werden.
Bei dem Projekt „Beethoven hören“ handelt es sich um eine Initiative des deutschen Musikrats. Anlässlich des Beethoven-Jahrs wird sich das Bundesjugendorchester, das sich aus Musikerinnen und Musikern, die ein Probespiel bestanden haben, zusammensetzt, mit verschiedenen Facetten des Werks Beethoven auseinandersetzen. Für die Arbeitsphase Ostern 2020, die unter dem Motto „Beethoven und Taubheit“ steht, konnte eine Gruppe hörgeschädigter Jugendlicher des Bildungs- und Beratungszentrums (BBZ) für Hörgeschädigte in Stegen bei Freiburg für eine Kooperation gewonnen werden. Bei dieser Gruppe handelt es sich um elf Jugendliche der 9. Klasse der Realschulabteilung. Vier Schülerinnen und Schüler sind mit einem Cochlea Implantat versorgt, zwei mit Hörgeräten, ein Schüler hat eine Körperhinderung und fünf Schülerinnen und Schüler haben eine zentral-auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung.
Auf dem Programm steht neben der 3. Sinfonie von Beethoven die Komposition „Testament“ des Australiers Brett Dean, in der er sich auf Beethovens Testament bezieht, das als „Heiligenstädter Testament“ bekannt ist. Das Programm wird durch eine Auftragskomposition des Amerikaners Mark Barden abgerundet. Der Auftrag an den Komponisten besteht darin, ein Stück zu komponieren, das für gut Hörende wie auch für Hörgeschädigte gleichermaßen gut zu hören ist. Darüber hinaus soll die Gruppe der hörgeschädigten Jugendlichen musikalisch in die Komposition einbezogen werden.
Den roten Faden des Konzerts bildet das Thema Hörschädigung, das durch die verschiedenen Beiträge der hörgeschädigten Jugendlichen im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert wird. Neben den Klangimprovisationen in der Komposition Bardens wird das „Heiligenstädter Testament“ in Gebärdensprache umgesetzt und für die Bühne choreografiert. Geplant und durchgeführt wird das Programm von dem Geschäftsführer des Bundesjugendorchesters (BJO) Sönke Lentz, dem Komponisten Mark Barden, dem Dirigenten Christoph Altstaedt und der Musiklehrerin am BBZ für Hörgeschädigte in Stegen. Somit erfüllt dieses Projekt also alle Bedingungen, die an ein Musikangebot der Kategorie „inklusiv“ gestellt werden. Und dennoch lohnt es sich, das Projekt genauer zu betrachten.
In welcher Hinsicht handelt es sich um ein inklusives Musikprojekt?
Das Projekt erfüllt auf jeden Fall insofern die Kriterien, die an ein inklusives Musikprojekt gestellt werden, als Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Behinderung zusammenkommen, zusammen Musik machen und somit Erfahrungen teilen, die über das reine Musizieren hinausgehen. Zu verdanken ist diese Kooperation dem inzwischen emeritierten Professor für Schlagzeug an der Hochschule für Musik in Freiburg, Bernhard Wulff. Dieser stellte sich vor etwa zehn Jahren am BBZ für Hörgeschädigte in Stegen vor. Er habe vor vielen Jahren ein Projekt mit gehörlosen Kindern in Basel durchgeführt, was ein derartig beeindruckendes Erlebnis gewesen sei, dass er an diese Erfahrung mit einem Musikprojekt an der Hochschule für Musik in Freiburg anknüpfen wolle. Da sich schnell zeigte, dass sich die Interessen der Hochschule mit denen der Schule in Einklang bringen lassen, kam man ins Gespräch und pflegt seitdem eine gute Zusammenarbeit.
Die Schule war zu diesem Zeitpunkt recht dürftig mit Instrumenten ausgestattet und so war die Dankbarkeit groß, über die eigentlichen Kooperationen hinaus Instrumente, die für Hörgeschädigte besonders geeignet sind, von der Hochschule geliehen zu bekommen. Die Studierenden der Hochschule konnten sich in Projektarbeit üben und die Schülerinnen und Schüler machten sich in besonderer Weise mit Musik vertraut. Insofern handelte es sich stets um eine Situation, in der beide Seiten voneinander profitierten.
Nach seiner Emeritierung nahm Bernhard Wulff nochmal mit der Schule Kontakt auf und schlug eine Kooperation mit dem BJO anlässlich des Beethoven-Jahrs vor. Im Frühjahr 2019 fanden die ersten konzeptionellen Treffen in Bonn statt.
In der Weise, in der Bernhard Wulff im Umgang mit Hörgeschädigten eine Form von Vielfalt zu sehen scheint, der er mit Neugier und Offenheit begegnet, engagieren sich auch die Verantwortlichen in Bonn unter der Leitung des Geschäftsführers Sönke Lentz für das Projekt. Der Verantwortliche für die Auftragskomposition, Olaf Wegener, schien beim ersten Treffen einen Moment zu zögern und fragte dann, wie man sich den Umgang mit Hörgeschädigten und wiederum deren Umgang mit Musik vorstellen müsse. Man habe schlicht keine Erfahrung und demzufolge auch keine Vorstellung.
Dieser völlig unvoreingenommene und sensible Blick erleichterte den Einstieg in Projekte, da keine Bilder, die sich andere von einer Hörschädigung gemacht hatten, aus der Welt geräumt werden mussten. Man kann sich offen über Grenzen und Möglichkeiten austauschen, über die Hörgeräteversorgung und über Hören als Lernvorgang, den alle gleichermaßen durchlaufen. Dass die Arbeit mit hörgeschädigten Jugendlichen eine besondere Art der Vorbereitung bedarf, ist allen Beteiligten bewusst. Darüber tauschen sich die Partner ohne Scheu aus und klären die Fragen, die sich ganz natürlich stellen.
Wertvolle Begegnungen ermöglicht der Komponist Mark Barden. Er geht überaus sensibel und flexibel mit den Möglichkeiten seiner Spielerinnen und Spieler um. Er greift auf, was im regulären Unterricht entwickelt wird und nutzt u. a. diese Ergebnisse für kompositorische Impulse. Musikunterricht und kompositorischer Prozess bedingen sich gegenseitig. Es geht stets um ein Ausloten der Möglichkeiten und nicht um das Konfrontieren mit Grenzen.
Für die Schülerinnen und Schüler ist Christoph Altstaedt schon allein deshalb ein Erlebnis, weil er entgegen ihrer Erwartungen nicht alt und grau ist. Diese Faktoren können durchaus auch eine Barriere darstellen, die sich zwischen Heranwachsende und die Musik stellt. Seine offene und zugewandte Art erlaubt es den Jugendlichen, sich ohne Angst in den Musizierprozess einzubringen.
In welcher Hinsicht handelt es sich jedoch um kein Inklusionsprojekt?
Auf jeden Fall ist die Institution des BJO an sich exkludierend. Mitspielen kann, wer langjährigen Instrumentalunterricht, überdurchschnittliche Begabung und Fleiß vorweisen kann und schlicht erfolgreich ist. Das ist mit einem enormen finanziellen Aufwand verbunden, den viele Eltern nicht leisten können. Das ist ein bekanntes Problem, weswegen Projekte wie „Jedem Kind ein Instrument“ ins Leben gerufen wurden.
Die Schülerinnen und Schüler aus Stegen, die über keinen musikalischen Hintergrund verfügen und deutlich weniger Gelegenheiten haben, die Bühne der Öffentlichkeit zu bespielen, werden sich für das Projekt dem Auftreten der jungen Orchestermusikerinnen und -musiker anpassen und die Jogginghose gegen einen Anzug austauschen. Oft fühlt man sich aber an das Blumenmädchen Eliza Doolittle in „My fair Lady“ erinnert, das in feinen Kleidern um korrektes Englisch kämpft. Die sozialen Unterschiede sind offensichtlich. Um diese unsichtbar zu machen, bedarf es eines großen Aufwands, den die Gäste des Orchesters aus Stegen leisten müssen.
Abgesehen von diesen bekannten und immer wieder diskutierten Barrieren verliert das Projekt seinen inklusiven Charakter aus zweierlei Gründen. Zum einen spielen ökonomische Faktoren keine Rolle, da für die Schülerinnen und Schüler des BBZ alle Kosten übernommen werden. Am Geld scheitert eine Teilnahme nicht. Zum anderen gibt es kaum kulturelle oder körperliche Barrieren, da im regelmäßig stattfindenden Musikunterricht die Chance genutzt werden kann, alle Schülerinnen und Schüler mit Musik vertraut zu machen, zu der sie aus verschiedenen Gründen sonst keinen Zugang hätten. Voraussetzung dafür ist jedoch das Bewusstsein, dass Musik aller Epochen und aller Genres für alle Heranwachsende relevant sein kann. Dazu bedarf es eines kreativen Umgangs mit Musik, der es auch Heranwachsenden mit kognitiver oder körperlicher Einschränkung erlaubt, ihren individuellen Zugang zu finden.
Kann ein Ziel nicht direkt angepeilt werden, weil dem Einschränkungen entgegenstehen, müssen Umwege gefunden werden. Verfügen Schülerinnen und Schüler über keinerlei musikalische Vorerfahrungen, muss die Institution Schule dafür sorgen, dass sie diese Erfahrungen machen können. Für Hörgeschädigte kann z. B. ein multisensorischer Zugang, bestehend aus Elementen der Bewegung, des Rhythmus und der Stimme, ein Weg zu einem erfüllenden Musikerleben sein.
Darüber hinaus bieten die Orchester der Stadt vielfältige Kooperationen an, auf die die Schule zurückgreifen kann. Doch vor allem sollten Hörgeschädigte möglichst viele Erfahrungen im Umgang mit Klängen sammeln können, damit Musik zu ihrem individuellen Ausdrucksmedium werden kann. So verschieden die Zugänge auf den ersten Blick auch sein mögen, allen liegen musikalische Parameter zugrunde, auf deren Einhaltung Wert gelegt werden muss. Wann und wie beginnt eine musikalische Aktion, wie ist ihre Verlaufskurve, wann und wie endet sie? Diese Fragen leiten sowohl klassische Orchester bei ihrer Arbeit als auch hörgeschädigte Jugendliche in der Schule. Behinderungen jedweder Art spielen da keine Rolle. Es muss immer Musik entstehen, die einen künstlerischen Wert hat. Begegnen sich in diesem künstlerischen Anspruch Hörgeschädigte und musikalisch Hochbegabte auf Augenhöhe, müssen jedoch auch die sonst üblichen Zuschreibungen wegfallen.
Die Komposition von Mark Barden kann von jedem Profiensemble aufgeführt werden. Und so wenig eine spätere Aufführung mit einem Profiensemble ein inklusives Projekt sein wird, so wenig wird die Uraufführung in Osnabrück 2020 ein inklusives Konzert sein. Natürlich mag man einwenden, dass es sehr wohl ein inklusives Projekt ist, wenn eine Komposition gezielt die Möglichkeiten Hörgeschädigter aufgreift und so eine Teilnahme möglich macht. Wenn jedoch die Rahmenbedingungen so gesteckt sind, dass sich den Teilnehmenden kein Hindernis in den Weg stellt, müssen sich auch die Kategorien Inklusion, Exklusion, behindert und nicht behindert auflösen. Dann geht es, wie auch sonst bei Konzerten üblich, einzig und allein um das künstlerische Ergebnis.
Dieses Projekt hat sicher das Potenzial, die Kategorien zumindest verschwimmen zu lassen. Deshalb soll abschließend auf mögliche Wirkfaktoren eingegangen werden (wobei einschränkend angemerkt werden muss, dass sich diese auf den Aspekt der Lehrerbildung an künstlerischen Hochschulen beschränken):
Bevor Kategorien aufgelöst werden können, müssen sie benannt werden. Eine Behinderung muss mit all ihren diversen Facetten wahrgenommen und kennengelernt werden. Dieses Wissen kann im Studium angeeignet werden, aber den Umgang mit Behinderung lernt man in erster Linie über den persönlichen Umgang mit Menschen mit Behinderung. Deshalb sollten sich Hochschulen auch gezielt mit sonderpädagogischen Förderzentren austauschen. Hochschulen können Lehramtsstudierende deutlich mehr motivieren und ermuntern, auch mit anderen Institutionen als Gymnasien oder Musikschulen Kontakt aufzunehmen.
Darüber hinaus wäre es naiv zu verkennen, dass der Umgang mit Behinderung nicht auch eine gewisse sonderpädagogische Expertise erfordert. Wer nach Inklusion, nach einer „Schule für alle“ oder nach einer „Musikschule der Vielfalt“ ruft, muss auch ein Ohr für die Sonderpädagogik haben. Davon sollten auch Hochschulen nicht ausgenommen werden, denn auch an Gymnasien oder an Musikschulen bedarf es eines sonderpädagogischen Blicks, wenn allen Heranwachsenden ein ihren Bedürfnissen angemessenes Bildungsangebot gemacht werden soll.
Auf der anderen Seite müssen sich Sonderpädagoginnen und -pädagogen aus dem Schutzraum der Sonderschulen wagen, wenn der Handlungsspielraum der Heranwachsenden vergrößert werden soll. Musikalische Angebote dürfen dann nicht auf ihren therapeutischen Wert beschränkt bleiben. Und manche Eigenheiten der Schülerinnen und Schüler, die in Sonderschulen vielleicht akzeptabel sind, irritieren in inklusiven Settings. Inklusion fordert auch von Menschen mit Behinderung eine größere Flexibilität und Kompetenz im Umgang mit ihrer Behinderung.
Damit einher geht der Wunsch, sich auch als Hochschule für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an Exzellenz zu sensibilisieren. Inklusion bedeutet auch, am Mainstream teilzuhaben. Es ist ein legitimes Anliegen, in Spitzenensembles mitzuwirken und sich an Forschung und Lehre zu beteiligen.
Bislang werden im Projekt „Beethoven hören“ alle Ressourcen genutzt. Es finden vielfältige Begegnungen statt, die sonderpädagogische Expertise wird abgerufen. Musik ist künstlerischer Ausdruck und allen Beteiligten wird die Möglichkeit gegeben, ihr Potenzial zu entfalten und auf der großen Bühne der Öffentlichkeit zu zeigen. Das Ergebnis dieses Zusammenspiels aller Kompetenzen wird im April 2020 in Osnabrück, Köln, Berlin und München zu Gehör gebracht werden.