Die Annahme, dass der Umgang mit Behinderung sozialisations- und situationsabhängig sei, erweckt den Eindruck, dass es lediglich eines möglichst frühen und intensiven Umgangs mit Diversität und Heterogenität bedarf, um das Gefühl von Andersartigkeit überhaupt nicht erst entstehen zu lassen. Eine solche Dekategorisierung ist Ziel der schulischen Inklusion und aus der Perspektive der Menschenrechte wünschenswert.
Einleitung
Dieses Ziel wird sich jedoch nur umsetzen lassen, wenn berücksichtigt wird, dass die mit einer Behinderung einhergehenden körperlichen und geistigen Besonderheiten nicht nur als anders, sondern vielmehr als fremd wahrgenommen werden. Deshalb bedarf gelingende Inklusion über die gesellschaftliche Auseinandersetzung hinaus einer individuellen Auseinandersetzung mit dem Aspekt der Fremdheit. Dieser Aspekt soll in diesem Beitrag aufgegriffen und in doppelter Perspektivnahme, nämlich aus der Perspektive von Menschen mit und ohne Behinderung, beleuchtet werden. Hierbei soll der Schritt auch in die Exklusion getan und das inklusive Potenzial exkludierender Settings deutlich gemacht werden. Im Anschluss daran sollen mögliche weitere Schwerpunktsetzungen für Hochschulen und Universitäten abgeleitet werden.
Der Körper als Objekt der Wahrnehmung
Auch zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention wird die Diskussion um die Umsetzung der Konvention durch inklusive schulische Maßnahmen in Deutschland kontrovers diskutiert (vgl. Wocken 2012; Ahrbeck 2014). Ein Grund dafür dürfte sein, dass die Zielbeschreibung Inklusion von Anfang an einen geradezu visionären Charakter aufwies. Die inklusive Schule für alle oder eine „Musikschule der Vielfalt“ (VdM 2017) schienen Wege zu sein, diverse Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen: „Mit dem Begriff der Inklusion verbindet sich die Hoffnung auf Beseitigung jeglicher gesellschaftlicher Ausgrenzungen, Diskriminierungen, Marginalisierungen nicht nur von benachteiligten Gruppen, sondern von allen Menschen – weltweit.“ (Singer 2018: 44) In diesem Zusammenhang wurden körperliche, geistige und seelische Ungleichheiten nicht nur zu Formen der Vielfalt umbenannt, sondern auch Vorgaben darüber gemacht, wie mit der Vielfalt umgegangen werden soll:
Präskriptiv ist dieser Ansatz insofern ausgerichtet, als er klare Vorgaben im Sinne einer Handlungsregel darüber macht, wie der gesellschaftliche, institutionelle und intersubjektive Umgang mit Heterogenität jeweils auszusehen hat und zu verwirklichen ist.
(Ebd.: 87f.)
Werden körperliche, seelische, kognitive und nationale Unterschiede schlicht zu Formen der Vielfalt umbenannt, wird davon ausgegangen, dass dies fast zwangsläufig zu einem barrierefreien Zusammenleben führen werde. Es ist jedoch anzunehmen, dass auch die schlichte Umbenennung nicht verhindern wird, dass sich ein Gefühl der Fremdheit bei der Begegnung und dem Umgang mit Menschen mit einer Behinderung einstellt. Derzeit zeichnet sich ab, dass phänomenologische Gegebenheiten ignoriert werden, was in keiner Weise geeignet zu sein scheint, diesen Unterschieden gerecht zu werden.
Die offensichtlichste phänomenologische Gegebenheit ist der Körper. Die Wahrnehmung der individuellen Körper findet ihren Niederschlag im Körperschema. Dieses Körperschema ist nicht angeboren, sondern erlernt. Auch wenn sich die Vorstellung vom eigenen Körper dadurch entwickelt, dass individuelle Erfahrungen wie z. B. Hitze, Kälte, Schmerz gemacht werden, entsteht sie doch in erster Linie auf Grundlage dessen, wie man von anderen gesehen und wie dieser Blick erfahren wird. Der Philosoph Bernhard Waldenfels betont deshalb in Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty:
Das Körperschema, d. h. die Art und Weise, wie der Körper sich gliedert, wird hier von vornherein vom Anderen gedacht, nicht nur so wie mein Leib sich mir darstellt, sondern wie die Anderen mich sehen und wie ich mich selber erfahre, daß und wie die Anderen mich sehen.
(Waldenfels 2000: 121)
Alle Menschen haben einen physischen Körper, der individuelle Besonderheiten aufweist. Die Interpretation des Gegenübers beeinflusst jedoch die Eigenwahrnehmung. Das erleben in hohem Maße Menschen mit einer Behinderung oder Menschen mit Migrationshintergrund. Es wäre naiv anzunehmen, dass sich dieser Blick nicht einstellt, wenn Behinderung oder eine sonstige Andersartigkeit schlicht zur Vielfalt erklärt werden. Jeder Mensch entwickelt eine Vorstellung davon, was körperlich die Norm ist, bildet davon ausgehend Ordnungssysteme und reagiert mit Befremden, Erstaunen oder Bewunderung darauf, wenn ein Körper von dieser Norm abweicht. Um diesem Befremden selbstbewusst zu begegnen, müssen sich Menschen mit einer Behinderung mit ihren besonderen körperlichen und geistigen Voraussetzungen auseinandersetzen.
Die Sonderschule als exkludierende Institution bietet hier einen Schonraum, in dem sowohl ein breites Spektrum an körperlichen und leiblichen Erfahrungen möglich gemacht als auch der Umgang mit dem befremdeten und dem vertrauten Blick eingeübt wird. Dann ist denkbar, dass Menschen mit einer Behinderung Prozesse aktiv und selbstbewusst mitgestalten und auf diese Weise die Wahrnehmung des Umfelds beeinflussen. Dies ist beim Projekt „Beethoven hören“, dass das Bundesjugendorchester anlässlich des Beethoven-Jahres plant und durchführt, der Fall. Das Bundesjugendorchester wird sich in der Osterarbeitsphase 2020, in der Werke von Ludwig van Beethoven, Brett Dean und Mark Barden auf dem Programm stehen, mit Beethoven und dessen Taubheit auseinandersetzen. Für dieses Projekt konnte eine Gruppe Jugendlicher des Bildungs- und Beratungszentrums für Hörgeschädigte in Stegen bei Freiburg gewonnen werden, die im Gegensatz zu den Orchestermitgliedern über keine Expertise im Umgang mit dem Instrumentalspiel verfügen. Die Kompositionen von Beethoven, Dean und Barden werden so erklingen, wie es die Partituren vorgeben. Die an dem Projekt beteiligten hörgeschädigten Jugendlichen komplettieren jedoch das Konzertprogramm mit einer choreografischen Umsetzung des Heiligenstädter Testaments in Gebärdensprache sowie mit eigenen Klangimprovisationen. Dies wäre nicht möglich, hätten sie nicht in vielfältigen, auf ihre Bedürfnisse ausgerichteten Unterrichtssituationen, in denen sie mit ihrer Hörschädigung konfrontiert wurden, Hilfen für schwierige Hörsituationen oder mehr Zeit für den individuellen Umgang mit Musik bekommen und so ihren eigenen kreativen Umgang mit ihrer Behinderung gefunden. Sie zeigen sich bewusst und selbstbewusst mit ihrer Besonderheit, ihrer Fremdheit, die vom Publikum und den Orchestermusikerinnen und Orchestermusikern so jedoch nicht als Störung, sondern als Bereicherung wahrgenommen werden kann.
Dieser Auseinandersetzung mit den eigenen körperlichen, kognitiven und seelischen Besonderheiten müssen sich Menschen mit Behinderung stellen. Auf der anderen Seite erfordert gelingende Inklusion eine Auseinandersetzung, die über methodische und thematische Fragestellungen hinaus die gängigen Wahrnehmungsmuster und das Befremden im Umgang mit Behinderung beleuchtet und in die Planung einbezieht. Deklarieren wir Behinderung als Ausdruck der Vielfalt, verdrängen wir die Tatsache, dass wir ein Alltagserleben haben, das sich auf den diversen körperlichen und leiblichen Erfahrungen aufbaut. Menschen mit Behinderung sind nicht die Norm. Sie sind fremd und werden als Fremde wahrgenommen. Mit dieser Fremdheit gehen Menschen, die nicht der Norm entsprechen, tagtäglich um. Das ist die Inklusionsleistung, die Menschen mit Behinderung bringen.
Inklusion in der Hochschullehre
Soll Inklusion gelingen, wird es notwendig sein, dass sich auch das Umfeld mit dem Befremden bzw. mit dem Umgang mit dem Fremden auseinandersetzt. Die Forderung nach Inklusionsorientierung (vgl. HRK/KMK 2015) hat inzwischen in vielfältiger Form Eingang in die institutionellen, curricularen und hochschuldidaktischen Ausbildungsstrukturen gefunden. Auf der einen Seite ist die hochschuldidaktische Umsetzung durch wissenschaftlich ausgerichtete hochschuldidaktische Formate in Form von Vorlesungen und Seminaren bestimmt. Auf der anderen Seite wird die Bedeutung von Praxisphasen und Praxisseminaren, in denen erworbenes Wissen mit den komplexen Herausforderungen in der Praxis abgeglichen, erfahren und reflektiert werden kann, von Hochschulstandorten zunehmend erkannt (vgl. hierzu Welte 2017). Innerhalb der Vielfalt inklusionsorientierter Seminarformate bieten insbesondere Kooperationsformen mit Partnern innerhalb und außerhalb von Universität und Hochschule eine Möglichkeit, theoretisches Wissen zu Inklusion im Kontext der Praxis erfahrbar zu machen und die Begegnung mit dem Fremden aus verschiedenen Perspektiven zu reflektieren. Im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive auf Inklusion können hier insbesondere auch außerschulische Kontexte ein besonderes Potenzial für einen sensibilisierenden Umgang mit dem Fremden eröffnen. Im Gegensatz zu schulischen Kontexten, die in der Regel klaren zeitlichen und curricularen Vorgaben unterliegen, eröffnet die Zusammenarbeit mit kleineren Musikgruppen im außerschulischen Bereich (wie z. B. in einer inklusiven Musikgruppe einer Musikschule oder in einer Justizvollzugsanstalt) intensivere Erfahrungsspielräume für die Begegnung und reflektierende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Menschen. Von besonderer Bedeutung ist hier, dass allen Beteiligten ausreichend Zeit für den gemeinsamen Umgang mit Musik, aber auch mit der Fremdheit des anderen gegeben wird.
Der Umgang mit dem Fremden am Beispiel eines studentischen Musikprojekts im Jugendstrafvollzug
Der Aspekt der individuellen Auseinandersetzung mit Fremdheit soll im Folgenden am Beispiel eines studentischen Musikprojekts im Jugendstrafvollzug und den hier erfolgten Beobachtungen deutlich gemacht werden. Die einsemestrige Lehrveranstaltung mit dem Titel „Musikpädagogisches Handeln im Freizeitbereich des Jugendstrafvollzugs“ wird seit dem Sommersemester 2018 im Rahmen einer Kooperation zwischen der Bergischen Universität Wuppertal und der Justizvollzugsanstalt Wuppertal-Ronsdorf semesterweise im Wahlbereich der Musiklehrkräftebildung angeboten. Musikstudierende mit Berufsziel Lehramt Haupt-, Real- und Gesamtschule sowie Sonderpädagogische Förderung erhalten die Möglichkeit, ein ca. zweimonatiges Musikprojekt mit jugendlichen Inhaftierten der Justizvollzugsanstalt (JVA) zu planen, durchzuführen und zu reflektieren. Die Proben finden hierbei wöchentlich am frühen Abend in der JVA statt und dauern je 90 Minuten. Die Studierenden arbeiten jeweils zu dritt in zwei Teams und bekommen eine Gruppe von sechs bis acht jugendlichen Inhaftierten zugeordnet.[1] Letztere bewerben sich freiwillig für dieses Angebot, das im kreativen Freizeitbereich des Vollzugs angesiedelt ist. Die Reflexionsphasen werden jeweils in die wöchentlich stattfindenden Praxisphasen zyklisch eingebunden und erfolgen sowohl im mündlichen Austausch als auch in individueller schriftlicher Form. Der tatsächlichen Gestaltungsarbeit in der JVA ist eine Vorbereitungsphase vorausgestellt, in der die Studierenden einerseits einen Einblick in die Institution JVA und in die damit verbundenen Verhaltensregeln bekommen und sich andererseits in einigen Sitzungen in der Universität auf die kreative und pädagogische Arbeit mit den Jugendlichen vorbereiten. Hierbei geht es jedoch nicht darum, einem fertigen Workshop auszuarbeiten, sondern im Team eine produktive Zusammenarbeit anzustreben, die z. B. die jeweiligen Stärken der Teammitglieder berücksichtigt.
Aus den bisherigen Erkenntnissen der ersten drei Durchläufe dieses Seminars[2] kristallisieren sich besondere Lernpotenziale heraus, die das Setting der JVA für die individuelle Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Fremden eröffnet. Im Folgenden soll dargestellt werden, wie die Begegnung mit Fremdheit in diesem speziellen Kontext seitens der Studierenden erfahren wird. Die Darstellungen sind das Ergebnis einer kontinuierlich erfolgten teilnehmenden Beobachtung in den bisherigen drei Durchläufen. Der Begriff der Fremdheit wird hier im Rahmen eines weiten Inklusionsverständnisses erfasst, das sämtliche Dimensionen von Heterogenität einschließt und somit weit über Aspekte von (körperlicher) Behinderung hinausgeht.
Der Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes, als exklusive und angemessene Leitvorstellung für den intersubjektiven Umgang mit Heterogenität gelten zu wollen (vgl. Singer 2018: 185), wird mit dem Betreten eines exkludierenden Orts wie dem der JVA und der damit einhergehenden Erfahrung des sich hier zeigenden Fremden auf die Probe gestellt. Die verschiedenen Facetten von Heterogenität, die hier zutage treten, sprengen ein Inklusionsverständnis, das Verschiedenheit einzig als normal (siehe hierzu das Motto „Es ist normal, verschieden zu sein“) betrachtet und die leibliche Erfahrung von Fremdheit als essenziellen Bestandteil ausblendet. Prägend ist hier das zumeist sozio-ökonomisch stark benachteiligte Milieu, dem viele der Jugendlichen entstammen und durch welches sie oft bereits in frühester Kindheit mit kriminellen Verhaltensmustern konfrontiert werden.[3] Darüber hinaus rückt hier die „Verwobenheit von verschiedenen Heterogenitätsdimensionen, von tatsächlichen oder zugeschriebenen Unterschieden und Gemeinsamkeiten“ (Gummich 2017: 43) und „das Zusammenwirken verschiedener Exklusionsmechanismen“ in das Blickfeld. In der musikalischen Gestaltungsarbeit ergibt sich mit der Sozialform einer „Freizeitgruppe“ im Kontext des Jugendstrafvollzugs ein geschützter Raum, in dem sich Menschen aus unterschiedlichen Umfeldern begegnen können. Die in diesem speziellen Kontext gewonnenen Beobachtungen und Erfahrungen bieten die Chance zur Reflexion und ggf. zur Revision bestehender Vorurteile. Sie ermöglichen die Erweiterung eigener Wissens- und Erfahrungsbestände im Bereich der musikalischen Arbeit mit Jugendlichen, die in Schulkontexten oft eher durch negativ wahrgenommenes, stark herausforderndes Verhalten auffallen. Während durch die Konzentration auf die musikalische Gestaltungsarbeit die Tatsache, dass man sich in einer Vollzugsanstalt befindet, fast aus dem Blickfeld rückt, so kommen zwischendurch auch immer wieder Momente auf, die einen in die Realität zurückholen und dafür sorgen, dass man sich des inneren Widerspruchs bewusst wird. Es ergibt sich sozusagen ein „Hin- und Herpendeln“ zwischen der Wahrnehmung und Erfahrung von Vertrautheit und Fremdheit, die im Folgenden beschrieben wird:
Durch die Festlegung eines geschützten Rahmens (hier: freiwilliges Musikangebot im Freizeitbereich der JVA für sechs bis acht interessierte Jugendliche) wird innerhalb des unvertrauten Kontextes der JVA ein Setting geschaffen, das Aspekte von Vertrautheit wie z. B. die musikalische Arbeit mit Jugendlichen in inner- und außerschulischen Kontexten in das Zentrum rückt. So lenkt der Fokus auf die musikalische Gestaltungsarbeit den Blick auf das, was die Jugendlichen an musikalischen Interessen, Ressourcen und Talenten mitbringen. Indem die Tatbestände nicht mitgeteilt werden und der Fokus auf das gemeinsame Musizieren gelegt wird, eröffnet sich hier ein Raum, in dem das künstlerische Potenzial der Jugendlichen in das Blickfeld gerückt wird und die Hintergründe der Inhaftierung in den Hintergrund geraten. Außerdem bietet das gemeinsame Musizieren und die damit einhergehende Kommunikation eine Chance, sich der Lebenswelt der jeweils anderen zu nähern und diesbezügliche Vorurteile abzubauen. So kann der mit dem Haftantritt (und der damit einhergehenden räumlichen Exklusion) einsetzende Etikettierungsprozess, bei dem den Jugendlichen als nun Inhaftierte generalisiert kriminelle Eigenschaften zugeschrieben werden, hierdurch durchbrochen werden und ein Perspektivwechsel stattfinden, in dem die Jugendlichen als künstlerisch Agierende wahrgenommen werden. Die Reaktionen der Studierenden und jugendlichen Inhaftierten in der jeweils ersten Begegnung zeigten hier, dass durch dieses spezielle Setting die Erfahrung und Wahrnehmung der jeweils anderen Seite eine besondere Qualität erhielt, in Bezug auf das Aufbrechen und Hinterfragen eigener Denkmuster. So wurde in der anschließenden Reflexion deutlich, dass die Studierenden die Jugendlichen überwiegend als überraschend offen, motiviert und höflich wahrgenommen hatten. Ähnlich äußerten sich auch die inhaftierten Jugendlichen in der Abschlussrunde: Vor allem das ehrliche Engagement der Studierenden, die sich jede Woche für die Gestaltung der Proben mit den Jugendlichen Zeit nahmen und den Weg zu ihnen fanden, wurde sehr bewusst wahrgenommen und positiv zurückgespiegelt.
Die positive Wahrnehmung des Fremden wurde jedoch auch immer wieder aufs Neue hinterfragt und herausgefordert. Besitzt die Musik die Kraft, die Realität des exkludierenden Orts der JVA für einen gewissen Zeitraum verschwinden zu lassen, so kam die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Fremden an bestimmten Punkten immer wieder zum Vorschein. Unter Zuhilfenahme von Waldenfels Ordnungsbegriff wird es hier möglich, „den Unterschied zwischen Verschiedenheit und Fremdheit herauszustellen.“ (Singer 2018: 228) So lässt sich die Begegnung mit dem Fremden mit drei Gegensätzen beschreiben und folgendermaßen auf den Jugendstrafvollzug übertragen:
Äußeres/Inneres: Der Gegensatz von Äußerem zu Inneren, den Waldenfels im Kontext der Begegnung mit Fremden hervorhebt,[4] kommt im räumlichen Kontext der JVA an vielen Stellen zum Ausdruck, vor allem beim Betreten und Verlassen des Gebäudes, das mit den üblichen Sicherheitsvorkehrungen verbunden ist (inklusive Abgabe von Personalausweis und Mobiltelefon) sowie bei der Einweisung in Verhaltensregeln beim Thema Sicherheit, Kommunikation etc.
Fremdartiges/Vertrautes: Weiterhin traten in der musikalischen Gestaltungsarbeit immer wieder Situationen auf, in denen die Studierenden mit dem Wechselspiel von Vertrautem und Fremdartigem konfrontiert wurden. Erwiesen sich viele der Jugendlichen als motivierte und oft auch sehr talentierte Rapper, so spiegelte sich in den Texten gleichermaßen auch das hier zum Vorschein kommende Fremde wider. Die Thematisierung von Gewalt und Sexismus, die in einigen Situationen sehr stark zum Ausdruck kam, machte deutlich, dass die Wertschätzung von Vielfalt ein Thema darstellt, das vielmehr zur Diskussion herausfordert, was tolerierbar ist und was nicht.
Fremdes/Eigenes: Philipp Singer kritisiert, dass im inklusionspädagogischen Ansatz Andersheit nur im Sinne von Verschiedenheit, nicht aber im Sinne von Fremdheit verstanden wird und dass es so zu dem Irrglauben einer alles in sich vereinenden und versöhnenden Ordnungsvorstellung kommt (vgl. ebd.). Gerade im Jugendstrafvollzug wird stark deutlich, dass ein „inklusives Wir“ nicht immer von allen erwünscht ist. Beeindruckt von illegalen Möglichkeiten, schnell viel Geld zu verdienen sowie eingebunden in familiäre Clan-Strukturen, sind nicht alle inhaftierten Jugendlichen bereit, ihren Weg in die Gesellschaft zu finden und streben vielmehr danach, sich „beim nächsten Mal nicht erwischen zu lassen“. Diese Ebene von Fremdheit zeigt sich darin, dass sie anderen gehört und damit im Gegensatz zum Eigenen steht (ebd.: 229).
Resümee
Es handelt sich bei Behinderung keineswegs nur um ein gesellschaftliches Konstrukt, sondern um eine Realität, mit der sich Behinderte in ihrem Alltag konfrontiert sehen. Anstatt diese Realität zu marginalisieren, wurde in diesem Text aufgezeigt, in welcher Weise die Auseinandersetzung mit Behinderung als etwas Fremdes eine Voraussetzung für die konstruktive Gestaltung von Inklusionsprozessen darstellt. Diese Auseinandersetzung kann nicht erst in der schulischen Praxis erfolgen, sondern sollte bereits ein Teil der musikpädagogischen Qualifizierung sein. Hieraus folgt, dass eine umfassende Musiklehrkräftebildung die Ausbildung einer künstlerischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Qualifikation beinhalten muss, die Studierende befähigt, mit unterschiedlichen Personengruppen zu arbeiten, die das gesamte heterogene Leistungsspektrum einer Gesellschaft abbilden. Aufgabe von Hochschulbildung muss darüber hinaus auch sein, Studierende für Personengruppen zu sensibilisieren, die aus unterschiedlichen Gründen (z. B. Alter, Krankheit, Strafvollzug) von der umfänglichen Teilhabe am öffentlichen Leben ausgeschlossen und auf aufsuchende Angebote angewiesen sind. Dies setzt Neugier und Lust am Umgang mit dem Fremden und die Auseinandersetzung der Studierenden mit dem eigenen Befremden und der eigenen Zerbrechlichkeit voraus. Nicht nur der Wissens-, sondern auch der Erfahrungstransfer muss gewährleistet werden, sodass der Inklusionsprozess ohne eine weitere Vertiefung der scheinbar unüberwindbaren Gräben zwischen Inklusionsbefürworterinnen wie Inklusionsgegnern zum Wohle aller vorangetrieben werden kann.
Literatur
- Ahrbeck, Bernd (2014): Inklusion. Eine Kritik. Stuttgart: Kohlhammer.
- Entorf, Horst/Sieger, Philip (2018): Unzureichende Bildung: Folgekosten durch Kriminalität (Studie im Rahmen der Bertelsmann Stiftung). https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/?tx_rsmbstpublications_pi2%5Bitemuid%5D=3553&cHash=afddb2ceab341b04455125fbe9692d37 [Zugriff: 26.01.2020].
- Gummich, Judy (2017): Inklusion – Das Menschenrechtsprinzip als Handlungsorientierung. In: Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.): Spektrum Inklusion. Wir sind dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen (Grundlagen und Arbeitshilfen). Bonn: Eigenverlag, S. 41-46.
- HRK (Hochschulrektorenkonferenz)/KMK (Kultusministerkonferenz) (2015): Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt. Gemeinsame Empfehlung von HRK und KMK. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2015/2015_03_12-Schule-der-Vielfalt.pdf [Zugriff: 22.12.2019].
- Singer, Philipp (2018): Inklusion und Fremdheit. Abschied von einer pädagogischen Leitideologie. Bielefeld: transcript.
- VdM (Verband deutscher Musikschulen) (2017): Spektrum Inklusion. Wir sind dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen. Bonn: Eigenverlag.
- Waldenfels, Bernhard (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Welte, Andrea (2017): Für eine Musikschule der Vielfalt ausbilden. Überlegen, Empfehlungen, Fragen. In: Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.). Spektrum Inklusion. Wir sind dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen (Grundlagen und Arbeitshilfen). Bonn: Eigenverlag, S. 78-81.
- Wocken, Hans (2012): Das Haus der inklusiven Schule. Baustelle – Baupläne – Bausteine. Hamburg: Feldhaus.
[1] Aufgrund von institutionell bedingten Auflagen, wie z. B. plötzliche Verlegungen, Einschluss etc., kann die Zahl der Inhaftierten jedoch von Probentermin zu Probentermin sehr stark variieren.
[2] Sommersemester 2018, Wintersemester 2018/19, Sommersemester 2019.
[3] Siehe hierzu auch die Studie von Horst Entorf und Philip Sieger (2018), in der der Zusammenhang von mangelnder Schulbildung und kriminellem Verhalten untersucht wurde.
[4] „Fremd ist erstens, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt als Äußeres, das einem Inneren entgegensteht […].“ (Waldenfels 2006: 111)
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