Franz Kafka beschreibt in seinem bekannten Romanfragment „Der Verschollene“ nicht weniger als die idealtypische Vorstellung eines absolut inklusiven Theaters – eines Theaters von allen und für alle: Jede und jeder sei willkommen, das einzige was es braucht, ist der Wille zur Kunst.
Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahoma aufgenommen! Das große Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt Euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!
(Kafka 2016: 273)
Allerdings: Auch pünktlich muss man sein! Nur ein knappes Zeitfenster stellt Kafka seinem Ideal zur Verfügung und unterstreicht damit den zunächst rein potentiellen Charakter, der seiner Auffassung nach zu unterstellen ist.
Im Rahmen der Remscheider Tagung des Netzwerks Inklusion „Ausbildung für künstlerische Tätigkeit von und mit Menschen mit Behinderung“ stellte die Schauspielerin Jana Zöll fest, nicht jede und jeder könne jeden Beruf. Und das stimmt freilich: Ein Mensch, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, wird wohl niemals als Dachdeckerin oder Dachdecker Karriere machen können. Die Dachdeckerei ist ein Handwerk, das es zu beherrschen gilt. Kunst aber ist kein Handwerk – sie ist, genau genommen, sein Gegenteil; oder, weniger zuspitzend formuliert: Sie sollte nicht auf ihre bloße und regelhafte Handwerklichkeit reduziert werden. Der Künstler oder die Künstlerin muss kein spezifisches Handwerk beherrschen. Keine körperliche, seelische, gesundheitliche Beeinträchtigung, keine kulturelle Herkunft und keine soziale Position darf einen Menschen daran hindern, sich als Künstlerin oder Künstler zu identifizieren. Künstlerin oder Künstler zu sein, ist keine Profession, es ist eine Einstellung.
Leider hat diese Perspektive – jedenfalls, wenn man auf die institutionelle Realität historischer und zeitgenössischer Kunstpraxis blickt – eben jenen von Kafka beschworenen idealistischen Charakter. Warum ist das so? Und was haben die Ausbildungsprogramme für die unterschiedlichen Kunstformen damit zu tun? Wie können wir das ändern? Im Folgenden möchte ich ein paar Überlegungen zu diesen Fragen anstellen. Meine persönliche Perspektive ist dabei diejenige der Dozentin für zeitgenössisches Theater und Performancekunst. Es ist offensichtlich alles eine Frage der Normativität und betrifft unmittelbar ein wesentliches Thema des Theaters, einen alten Streit: Soll Theater uns zeigen, wie wir sein sollten (und wie sollten wir sein?) oder wie wir sind? Ich möchte hier kurz aufzeigen, inwiefern diese scheinbar unvermeidliche Normativität und das, was wir Handwerklichkeit nennen, unweigerlich zusammenhängen.
Vor einigen Jahren hatte ich einmal die Gelegenheit, einen Kollegen von der Schauspielausbildung an der Theaterakademie in Shanghai nach dem wichtigsten Aufnahmekriterium für Studierende in seine Schule zu fragen. „Beauty“, antwortete er, ohne zu zögern. „Schönheit“ – und noch bevor ich in westlicher Arroganz mit einem Schmunzeln darauf reagieren konnte, drängte sich mir die Frage auf: Ist es bei uns in Europa, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, denn so anders? Denn auch an deutschen Schauspielschulen herrschen landauf, landab klare, exklusive Körperideale. Sie entstammen allesamt einem dramatischen Dispositiv, der dominanten Erscheinungsform des Theaters der vergangenen Jahrhunderte, was zugleich immer weniger in die Entwicklungen der Gegenwart zu passen scheint. So gibt es in jeder Schauspielklasse, kaum zugespitzt formuliert, bis heute einen Romeo – heterosexuell, weiß, breitbeinig, männlich –, eine Julia – heterosexuell, weiß, mädchenhaft, „schön“ –, eine Amme – mütterlich, rundlich, weiblich, stark –, einen Narren – speziell, komisch, verschroben, schwach. Es stimmt, man kann derzeit in aller Vorsicht ein allmähliches Umdenken einiger Schulen feststellen. Spätestens seit der Aufnahme des querschnittgelähmten Schauspielers Samuel Koch und der eingangs zitierten Jana Zöll in das Ensemble des Staatstheaters Darmstadt ist es nicht mehr ganz undenkbar, dass ein Mensch mit einer Beeinträchtigung Schülerin oder Schüler einer Schauspielklasse wird. Doch bleibt dies, solange das dramatische Dispositiv und die ihm entlehnten handwerklichen und körperlichen Ideale dominant bleiben, lediglich der Sonderfall – keine neue Norm, sondern lediglich spektakuläre Abweichung von der Norm.
Es ist ihr Verhältnis zu diesem dramatischen Dispositiv und den mit ihm zusammenhängenden Körper- und Verhaltensnormierungen, das Schauspielschulen, das Ausbildungsprogramme für eine zeitgenössische Kunst generell ändern müssten, um weniger exklusiv zu sein. Und so lautet auch eine entschiedene Antwort auf die mir mit der Einladung zur Remscheider Tagung gestellte Frage „Wie sehen Sie eine schauspielerisch-handwerkliche Ausbildung von Menschen mit Beeinträchtigung?“: Ich sehe sie nicht. Ich sehe keine schauspielerisch-handwerkliche Lösung, um der Exklusivität zu entgehen, ich halte sie nicht für erstrebenswert: zu normiert, zu normativ würde sie zwangsläufig sein. Ich sehe allerdings sehr wohl eine Ausbildung (Heranbildung – Bildung) zu Spezialistinnen und Spezialisten der performativen Künste, die kritischer, reflektierter und zweifelnd-subversiver mit Fragen der Handwerklichkeit und Virtuosität umgehen. Wie könnte diese konkret aussehen? Zunächst einmal sollten wir an den Schulen sowie Hochschulen und Universitäten auf ein Theater neugierig machen, das von dem ausgeht, was da ist – den Menschen, den Materialien, den sozialen Situationen; ein Theater, das das erforscht, was ist, anstatt überkommenen und exkludierenden Normen nachzuhängen. Zweitens sollte niemals vom Handwerklichen allein ausgegangen werden – weder in der Lehre noch in der künstlerischen Praxis. Ausgehen sollten wir stattdessen immer von einem Wahrnehmen und einem Nachdenken. Man könnte auch sagen: von einer Idee von Theorie. Denn jedes Handwerk, das unreflektiert bleibt, wird ideologisch. Und drittens, Kafka hat es bereits erkannt: Das alles braucht seine Zeit. Studieren sollte wieder länger dauern dürfen; künstlerische Masterprogramm, die auf zwei Jahre beschränkt sind, sind für eine derartige Ästhetische Bildung, die persönliche Erfahrung und nicht selten auch soziales Engagement zur Grundlage hat, einfach nicht aus. Ein Studium darf nicht reduziert werden auf seine handwerkliche Seite.
Eine letzte Frage, die mir zur Vorbereitung auf die Tagung gestellt wurde, ist mehrteilig und lautet: Wie kann man künstlerisches Arbeiten mit Menschen mit Beeinträchtigung a) thematisieren und sowohl b) Studiengänge als auch c) Menschen mit Beeinträchtigung selbst darauf vorbereiten? Die Antwort auf den ersten Teil fällt mir dabei leicht, denn es ist bereits Thema. In Studiengängen, die nach dem hier beschriebenen Modell verfahren – die Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, das Studium der Szenischen Künste in Hildesheim oder das junge Masterprogramm für Szenische Forschung in Bochum – ist das bereits eine heiß diskutierte Frage. Arbeiten wie die jüngeren Produktionen, zum Beispiel des Performancekollektivs Monster Truck sind dabei ebenso eindrucksvolle wie bewusst streitbare Resultate.
Die Antwort auf den zweiten Teil ist schwieriger. Einen Studiengang zu reformieren, zum Beispiel im Sinne des oben Beschriebenen, gehört meines Erachtens zu den kompliziertesten Prozessen im nationalen wie internationalen Hochschulwesen. Vielleicht hatte der polnische Intellektuelle und Gründer der Gießener Angewandten Theaterwissenschaft ja Recht, als er konstatierte, es sei weitaus einfacher, einen neuen Studiengang zu gründen als einen alten zu verändern. Die Beantwortung auf den letzten Teil der Frage aber nach den Möglichkeiten der Ermächtigung von Menschen mit Beeinträchtigung, sich als Künstlerinnen und Künstler gesellschaftlich einzubringen und engagiert über Veränderungen zu streiten, scheint mir aber die mit Abstand größte Herausforderung zu sein. „Wer Künstler werden will, melde sich!“, so Kafka – es braucht dazu nicht mehr als einen Willen zur Kreativität und einen Willen zur Reflexion. Doch wie lassen sich mehr Menschen dazu ermutigen, sich zu trauen, sich als Künstlerin oder Künstler verstehen zu wollen? Das ist sicher ein passables Thema für eine nächste Tagung des Netzwerks und noch viele weitere. Auf nach Clayton!
Weitere Informationen:
www.inst.uni-giessen.de/theater/de/mitarbeiter_innen/philipp_schulte
Literatur
- Kafka, Franz (2016): Der Verschollene. Hamburg: fabula.
Weiterführende Literatur
- Schulte, Philipp (2010): „Revolutionäre, Geheimagenten? Umgang mit Spektakularität in Live Tonight! Von Monster Truck und 22. Juni 1974, 21:03 Uhr von Massimo Furlan“. In: Röttger, Kati (Hrsg.): Welt Bild Theater. Tübingen: Narr Verlag.
- Schulte, Philipp/Esch-van Kann, Anneka /Packard, Stephan (Hrsg.) (2013): Thinking – Resisting – Reading the Political. Zürich/Berlin: diaphanes.
Herunterladen als PDF