Mein Sohn hat den gleichen Traum, wie so viele junge Menschen: Dennis will Schauspieler werden, er „brennt“ für die Bühne. Der einzige Haken: Er hat ein zusätzliches Chromosom, Trisomie 21, Downsyndrom. Und damit ist es unmöglich, an einer privaten oder gar staatlichen Schauspielschule angenommen zu werden.
Die Kriterien für die Aufnahmeprüfung passen auf niemanden wie Dennis. Als ich mich beim Deutschen Bühnenverein nach Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung erkundigte, hieß es, man „könne so eine spezielle Frage nicht beantworten“. Und auch die Zentrale Arbeitsvermittlung (ZAV) reagierte ähnlich ratlos. Wer mit einer Beeinträchtigung lebt, ist nicht vorgesehen, nicht eingeplant und hat so gut wie keine Möglichkeit, sein Talent zu entdecken, geschweige denn, es an einer Schauspielschule auszubilden. Da sind die Barrieren haushoch.
Menschen mit Behinderung, ja sie gibt es bisweilen auf der Bühne, meist aber nur in der Rolle des „Behinderten“. Ich empfinde das fast als ausbeuterisch und zudem als höchst unfair, einen nicht ausgebildeten Schauspieler mit Behinderung mit einem ausgebildeten Schauspieler ohne Behinderung konkurrieren zu lassen.
Warum wird einem Menschen mit einer Beeinträchtigung der Beruf des Schauspielers nicht zugetraut? Warum soll er oder sie den künstlerischen Beruf nicht professionell ausüben können, und zwar mit einem Zeugnis nach der abgeschlossenen Berufsausbildung in der Tasche? Warum hält man stattdessen für solche Talente dann gern einen „geschützten Rahmen“ bereit, wo man vorwiegend unter sich bleibt? Keine Frage, auch hier wird großartige Arbeit geleistet, die mit bewegenden und schönen Theaterproduktionen einen hohen künstlerischen Stellenwert einnimmt. Das aber ändert nichts daran, dass künstlerisch talentierte Menschen mit Behinderung keine Wahlmöglichkeiten haben. Ihren Berufswunsch können sie – so sie es wollen – nicht zusammen mit Schauspielschülerinnen und -schülern ohne Behinderung verwirklichen. Aber gerade ein solches Miteinander würde für alle Studierenden, ob mit oder ohne Beeinträchtigung, neue spannende Perspektiven, neue Möglichkeiten und Herausforderungen schaffen.
In Theaterkreisen höre ich auf meine Fragen oft, dass der Anspruch einer herkömmlichen Schauspielausbildung für einen Menschen mit Behinderung nicht erfüllbar sei. Da sei es wichtig, dass der Schauspieler oder die Schauspielerin vollends hinter einer Figur, hinter der Rolle verschwinden könne. Eine sichtbare Beeinträchtigung oder eine Verhaltensauffälligkeit (z. B. sprachliche oder motorische Ticks wie beim Tourettesyndrom) zeige aber stets den Menschen hinter der Rolle. Das hieße, dass ihr Talent nur sehr begrenzt in einem performativen Rahmen einsetzbar sei. Beeinträchtigungen im kognitiven Bereich verhinderten, dass das notwendige Verständnis für komplexe Rollen und narrative (Spiel-)Situationen fehle. Zudem könne die gewünschte Identifikation von Zuschauenden ohne Behinderung mit dem Schauspieler oder der Schauspielerin mit Behinderung wegen des sichtbaren Unterschieds nicht gelingen.
Durch meine Erfahrungen als Leiterin eines inklusiven Theaters und durch viele großartige Bühnenbegegnungen mit Schauspielern und Schauspielerinnen mit Behinderung kann ich solchen Sichtweisen nur vehement widersprechen und sie als überholte Einstellung voller festgezurrter Vorurteile bezeichnen.
Modern sind die neuen Wege, die zu einer inklusiven Theaterkultur führen. Um sie zu gehen, braucht es Neugier. Neugier auf diese bisher ausgegrenzten Künstlerinnen und Künstler und ihre Potentiale; Neugier, sich zu begegnen, sich kennenzulernen, die Kunst des Anderen zu entdecken und Raum für neue Ausdrucksformen zu schaffen. Die Vielfalt an künstlerischem Ausdruck ist immer eine Bereicherung. Das künstlerische Potential von Menschen mit Behinderung zu erkennen, auszubilden und sichtbar zu machen, bedeutet einen enormen Mehrwert für das Theater wie auch für die Gesellschaft. Durch inklusiv ausgebildete Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung entsteht eine ganz neue Theatersprache, eine neue Ästhetik, die nicht das Bestehende verdrängt, sondern es erweitert.
Nimmt man Schauspielerinnen und Schauspieler mit Beeinträchtigung ernst, so verschwindet das „Ungewohnte“ schnell, das vielleicht anfangs den Blick und die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Warum sollte Romeos Julia nicht im Rollstuhl sitzen können oder Wilhelm Tell keine Trisomie haben? Wer eigentlich kann solchen Schauspielerinnen und Schauspielern absprechen, nicht in der Lage zu sein, die Tiefe des menschlichen Dramas auszuloten? Wenn Theater bedeutet, zu berühren, herauszufordern, zu bewegen, zu provozieren und lebendig in der Gesellschaft zu sein, dann darf es Darstellerinnen und Darsteller mit Behinderung nicht ausgrenzen.
Der Erfolg von inklusiven Theaterproduktionen in Europa drängt zu einem Umdenken in der Ausbildung. Dazu braucht es den politischen Willen.
Zugang zu Schauspielschulen und BAföG-Förderung sollten auch jene bekommen, die – ihrer Beeinträchtigung geschuldet – keinen Schulabschluss vorweisen können. Ebenso sollten inklusive Schauspielschulen eine BAföG-Anerkennung bekommen.
Alle Schauspielschulen sollten ihre Türen für Bewerberinnen und Bewerber mit Behinderung öffnen, individuelle Studiengänge entwickeln, und inklusives Lernen unter einem Dach ermöglichen.
Anders und breiter ausbilden wäre der notwendige Ansatz, von dem alle Seiten profitieren. Sicherlich müsste sich die Ausbildung verändern und an die neuen Umstände anpassen. Die Aufnahmekriterien wie auch die gesamte Ausbildung müssten individueller sein, der Lehrplan in vielen Punkten flexibler. Doch welches Feld, wenn nicht das Theater, ist dazu in der Lage, sich schnell und vielfältig aufzustellen?
Andererseits braucht es für die notwendigen Veränderungen zu einer inklusiven (Theater-)Kultur auch Kraft und Mut der Menschen mit Behinderung und ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer. Lasst euch nicht behindern! Reißt die Barrikaden ein! Fordert euer Recht auf Ausbildung und freie Berufswahl ein! Werdet laut, geht an die Presse, schreibt an Politikerinnen und Politiker! Mischt euch ein! Werdet sichtbar, werdet hörbar!
Wie schwer das oft auch ist, erlebe ich durch meinen Sohn Dennis. Weil es keine Ausbildungsmöglichkeiten für sein schauspielerisches Talent gab, haben wir, seine Geschwister und ich, nach nächtelangen Diskussionen und mit viel Arbeit das inklusive Theater Freie Bühne München e. V. (FBM) initiiert und den gemeinnützigen Trägerverein zusammen mit großartigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern gegründet. Zur FBM gehören neben einem Workshop-Angebot auch ein einjähriges Orientierungs- und ein dreijähriges Ausbildungsprogramm. Heute ist Dennis als ausgebildeter Schauspieler Mitglied im inklusiv besetzten Ensemble der FBM und spielt auf renommierten Theaterbühnen in ganz Bayern. Einladungen nach Hamburg und Berlin liegen auf dem Tisch.
Die Kulturreferate der Landeshauptstadt München und des Bezirks Oberbayern, die die Theaterprojekte der FBM unterstützen, haben eigene Stellen geschaffen für die Förderung inklusiver Kunst und Kultur. Ihre Vertreterinnen und Vertreter sind Beiräte in dem neu gegründeten Verein Impulsion-Netzwerk inklusiver Kunst und Kultur e. V., der Impulse geben will, auch zu Fragen der inklusiven Ausbildung von Bühnen-Künstlerinnen und -Künstlern.
Vieles ist in Bewegung. Inklusive Kunst- und Kulturprojekte erobern die Theaterwelt von den Rändern her. Und es ist höchste Zeit, dass die Schauspielschulen und -akademien nun auch ihre Türen öffnen für solche Talente, die bis heute keine Chancen hatten.
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