Im Lehr- und Forschungsbereich „Kulturelle Bildung und Inklusion“ an der Universität Siegen verbinden sich in Lehre und Forschung interdisziplinär künstlerische Fachbereiche (Schwerpunkte sind Musik und Bildende Kunst) mit dem Themenfeld Inklusion.
Im 3. Raum eines Kunstprojekts können andere Positionen auftauchen, sich gegenseitig irritieren, befruchten, inspirieren und zu neuen Ausdrucksformen verschmelzen. Es geht um Toleranz, das Aushalten von Unterschieden, das Aushandeln von Differenz und die Identifikation mit Erfahrenem.
(Sieber 2012: 100–107)
Im Rahmen der Lehrveranstaltungen des Lehr- und Forschungsbereichs erlangen die Studierenden Kenntnis über Projekte im Bereich inklusiver Kunst und Kultur im deutschsprachigen wie im internationalen Raum. Ein weiterer Schwerpunkt ist die persönliche und individuelle Auseinandersetzung mit künstlerischer Betätigung. Studierende setzen sich theoriebasiert und reflexiv im Sinne Kultureller Bildung mit künstlerischen Prozessen auseinander. So erwerben sie Kompetenzen, die sie dazu befähigen, mit vielfältigen Zugängen und Wahrnehmungsqualitäten umzugehen und diese wertzuschätzen. Auf diese Weise begreifen sie Kunst und Kultur auch als Zugangsoption zu Menschen, die sonst nur schwer oder gar nicht zugänglich erscheinen. Sowohl für zukünftige Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen als auch für Lehrerinnen und Lehrer kann dies eine wertvolle Erfahrung bedeuten – insbesondere im Hinblick auf eine inklusionsspezifische Entwicklung der entsprechenden Berufsfelder.
Der Lehr- und Forschungsbereich „Kulturelle Bildung und Inklusion“ hat seit dem Wintersemester 2016/17 ein neues Seminarformat etabliert, die interdisziplinären und inklusiven Lehr- und Forschungsseminare „Klanglabor 30“ und „Kunstlabor 30“. Im Rahmen der sowohl theoretisch-reflektierend als auch praktisch-künstlerisch orientierten Lehrveranstaltungen setzen sich Studierende unterschiedlicher Studiengänge gemeinsam mit Werkstattbeschäftigten der AWO-Werkstatt Netphen-Deuz mit inklusiven künstlerischen Prozessen auseinander.
Studierende und Werkstattbeschäftigte sollen die Möglichkeit erhalten, sich über die experimentellen Arbeitsformen im Umgang mit den Künsten einen Zugang zum Themenbereich Inklusion zu erschließen. Die Studierenden belegen die „Labore 30“ als reguläre Seminare innerhalb ihres Studienverlaufs, für die Werkstattbeschäftigten sind sie arbeitsbegleitende Maßnahmen im Sinne des § 5, Abs. 3 und 4 der Werkstättenverordnung für Werkstätten für behinderte Menschen (WVO).
Die inklusiven Seminare verfolgen das Ziel, gemeinsame experimentelle Lernfelder für Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten herzustellen, die gleichberechtigte Entwicklungsmöglichkeiten für alle Teilnehmenden eröffnen. So treten Menschen, aber auch die jeweiligen Institutionen, denen sie angehören (Hochschule und Behindertenwerkstatt), miteinander in Dialog – Lebenswelten, die ansonsten weit voneinander entfernt liegen und sich selten berühren. Die Hochschule öffnet im Rahmen der Labore ihre Türen auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten.
Die „Labore 30“ als Lernorte mit experimentellem Setting
Im künstlerischen Tun entsteht eine besondere Art der Interaktion mit der Welt. Soll die offene Struktur künstlerischer Prozesse als Erkenntniszugang genutzt werden, so liegt dieser Herangehensweise ein Kunstbegriff zugrunde, der Perspektiven künstlerischer Bildung in Anlehnung an Carl-Peter Buschkühle prozessorientiert versteht: „Künstlerische Bildung meint die Etablierung von künstlerischen Denk- und Handlungsweisen im Bildungsgeschehen“ (Buschkühle 2003: 25). Zielsetzung soll sein, „kunst-ähnliche“ Prozesse zu initiieren und auf diesem Weg neue Kunst- und Alltagserfahrungen zu ermöglichen. Innerhalb dieser Interaktionsräume eröffnet sich eine Vielzahl von Produktionsmöglichkeiten und individuellen Lösungsmöglichkeiten für ästhetische Fragestellungen – Falsch und Richtig gibt es nicht. So können Normen und Bewertungsroutinen in künstlerischen Kontexten unabhängigen von Etikettierungen, wie beispielsweise Behinderung, re-, de- und konstruiert werden (Gerland 2014). Im Experimentieren mit dem ästhetischen Material wird jede und jeder künstlerisch Tätige zum taktilen Forscher, zur Pionierin und zum Entdecker neuer Möglichkeiten und originärer Lösungen. Aus einer künstlerischen Sichtweise heraus hat jeder Mensch dieses Potential. Er lernt, indem er spielt und gestaltet, indem er (sich) verändert und ausprobiert. In den Laboren werden alle Beteiligten als Expertinnen und Experten, als Forscherinnen und Forscher angesprochen. Im Zentrum stehen verschiedene Arten der Wissensgenerierung – „nicht nur kognitive, empirische Ergründung, auch sinnliche Erkenntnis, ästhetische Erfahrung und Subjektivität werden zu Erzeugern spezifischer Wissensformen“ (von Bernstorff 2013: 109). Die ästhetischen Erfahrungen, die in den „Laboren 30“ in unterschiedlichen künstlerischen Handlungsfeldern gemacht werden, öffnen einen Raum für Improvisationen und Individualität. Die Methoden sind ergebnisoffen und prozessorientiert. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht das gemeinsame künstlerische Tun, das unterschiedlichste Bearbeitungsformen und verschiedene Zugänge zulässt. Unerwartetes, Störungen und individuelle experimentelle Handlungsformen sind willkommen und sollen helfen, bestehende Denkformen, Vorurteile und Stereotypen aufzubrechen und damit neue Erkenntnisse hervorbringen. Dieser Raum des Nichtwissens, der Forschung und der besonderen Begabungen, ermöglicht allen Beteiligten Erfahrungen auf Augenhöhe. „Der Ort dieses Dazwischen ist kein Ort des Spezialistentums, der metier-besessenen Kunst- und Textproduktion, sondern der Ort einer Suchbewegung, des Tastens, des Zweifelns […].“ (Radelfinger 2015: 290)
Im Experimentieren mit dem künstlerischen Material entdecken die Teilnehmenden individuelle und auch gemeinsame Gestaltungsmöglichkeiten. So können sich zum Beispiel beim plastischen künstlerischen Arbeiten über das Verbinden unterschiedlicher Materialien gemeinsame Themen entwickeln und einfache Gesetzmäßigkeiten der Plastik (Gewicht, Balance, Gleichgewicht der Kräfte etc.) spielerisch erfahren werden. Die Materialien entwickeln sich im gemeinsamen Tun in eine skulpturale Form hinein. Es entstehen Kunstwerke, die das gemeinsame ästhetische Tun für den Betrachtenden rezipierbar machen und ihre eigene Geschichte erzählen.
„Kulturprojekte können in diesem Kontext über die universelle Sprache der Künste, die allen Menschen vertraut ist, als offene, hierarchiefreie Artikulationsräume fungieren, in denen kulturelle Praxis immer wieder neu im Dialog miteinander verhandelt, erinnert und aktualisiert wird und Gestalt gewinnt.
Bedeutung für die Lehre
Zum einen verfolgen die künstlerischen Lehr- und Forschungslabore das Ziel, Einblick in die inklusive musikalische und bildnerische Praxis in unterschiedlichen Arbeitsfeldern zu geben, zum anderen – neben der Vermittlung von notwendigem theoretischem Grundlagenwissen – auch praktische Erfahrungsspielräume im universitären Raum zu eröffnen. Der Umgang mit Verschiedenheit wird im Rahmen der „Labore 30“ als Schlüsselkompetenz definiert. Praktische lebensnahe Erfahrungen durch das jeweilige Medium Kunst oder Musik unterstützen die fachtheoretische Arbeit in den Seminaren und inklusive Prozesse werden im Austausch mit Menschen mit Beeinträchtigung erlebbar. So entstehen inklusive Lehr- und Lerngelegenheiten, durch die eine Professionalisierung der Studierenden im Umgang mit heterogenen Gruppen erreicht wird. Durch die spezifische künstlerische Verzahnung von Theorie und Praxis werden die Haltung eines forschenden Lernens bei den Studierenden gefördert und ausgebildet und Transformationsprozesse zwischen Theorie und Praxis erleichtert. Gemeinsam mit den Teilnehmenden werden Besonderheiten des inklusiven Prozesses im Anschluss an die Praxisphase im Seminar reflektiert und Barrieren sowie Lösungswege zu ihrer Überwindung herausgearbeitet. Ein Lernziel ist es, verständlich zu machen, dass inklusive Praxis als experimentelle Praxis verstanden wird, die kontinuierlich reflektiert und stetig weiterentwickelt werden muss. Auch persönliche und individuelle Erfahrungen, die im künstlerischen Prozess sichtbar werden und Form gewinnen, können gemeinsam reflektiert werden und spielen bei der Entwicklung einer inklusiven Haltung eine maßgebliche Rolle.
Durch den hohen Innovationsgrad der gesamtgesellschaftlichen inklusiven Entwicklung hat die begleitende Reflexion des Erlebens von inklusiven Bildungsprozessen in Praxisphasen eine hohe Bedeutung in den Seminaren. Das Erleben und Beobachten individueller Zugänge der anderen Teilnehmenden eröffnet wichtige Perspektiven für die Reflexion der eigenen Anteile und kann dazu beitragen, die jeweiligen Aneignungskompetenzen zu erweitern. Erklärtes Ziel ist es, den Austausch mit Menschen mit Beeinträchtigung im Rahmen der Seminare als gewichtige grundlegende Schritte im Hinblick auf eine Öffnung von Hochschule in Richtung einer inklusiven Lehre zu verstehen. So betonen auch Saskia Schuppener, Tobias Buchner und OIiver Koenig (2016: 330):
Dabei sehen wir in der gemeinsamen Konzeption und Gestaltung von experimentellen Settings einer angewandten Hochschuldidaktik, die eingebettet in Schleifen der Praxis und Reflexion der Frage nachgehen, was notwendig ist, damit inklusive (Lehr- und Entwicklungs-)Prozesse im Erwachsenenalter gelingen, ein wichtiges zukünftiges Lern- und Anwendungsfeld inklusiver Forschung.
So findet sich die Leitidee der Inklusion in der methodisch-didaktischen Gestaltung der „Labore 30“ wieder: inklusive Praxen und Strukturen werden erlebbar und inklusive Lern- und Bildungsprozesse didaktisch praxisbezogen umgesetzt. Menschen mit Beeinträchtigung treten als Expertinnen und Experten in eigener Sache in Erscheinung. In diesem Sinne verstehen sich die Kunst- und Musiklabore auch als innovatives Forschungs- und erprobendes Handlungsfeld auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft.
Und warum heißen die „Labore 30“ eigentlich „Labore 30“? Im Artikel 30 der UN-Behindertenrechtskonvention ist das Recht aller Menschen auf gleichberechtigte Teilhabe am kulturellen Leben der Gesellschaft grundgesetzlich verankert. Im zweiten Absatz heißt es: „Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potential zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft.“
Hier setzen das „Klang-“ und das „Kunstlabor 30“ an, um einen Beitrag zu einer inklusionsorientierten Hochschulentwicklung und einer inklusiveren Gesellschaft insgesamt zu leisten.
Weitere Informationen:
www.uni-siegen.de/start/news/oeffentlichkeit/755012.html
Literatur
- Bernstorff, Elise von (2013): Das Undisziplinierte im Transdisziplinären. Das pädagogische Verhältnis in der künstlerischen Forschung mit Kindern. In: Peters, Sybille: Das Forschen aller – Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Bielefeld: transcript, S. 95–120.
- Buchner, Tobias/Koenig, Oliver/Schuppener, Saskia (Hrsg.) (2016): Inklusive Forschung. Gemeinsamkeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten forschen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
- Buschkühle, Carl-Peter (2003): Konturen künstlerischer Bildung. In: Ders. (Hrsg.): Perspektiven Künstlerischer Bildung. Köln: Salon Verlag, S. 19–45.
- Gerland, Juliane (2014): Wahrnehmungsveränderung in Bildungsprozessen im künstlerischen Medium Musik. Möglichkeiten zur De- und Neukonstruktion von Wahrnehmungsstereotypen und daraus resultierende Bedarfe in der Studierendenausbildung. In: Zeitschrift für Inklusion, 4 [www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/252/243, zuletzt aufgerufen am: 27.07.2016).
- Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen [www.un.org/depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf, zuletzt aufgerufen am: 27.07.2016].
- Radelfinger, Peter (2015): Atelier. In: Badura, Jens/Dubach, Selma/Haarmann, Anke/Mersch, Dieter/Rey, Anton/Schenker, Christoph/Toro Pérez, Germán: Künstlerische Forschung. Ein Handbuch. Zürich: Diaphanes, S. 289–294.
- Schuppener, Saskia/Buchner, Tobias/Koenig, Oliver (2016): Einführung in den Band: Zur Position Inklusiver Forschung. In: Dies. (Hrsg.): Inklusive Forschung. Gemeinsam mit Menschen mit Lernschwierigkeiten forschen. Bad Heilbrunn S. 13–23.
- Sieber, Cornelia (2012): Der „dritte Raum des Aussprechens“ – Hybridität – Minderheitendifferenz. Homi K. Bhaba: „The Location of Culture“. In: Reuter, Julia/Karentzos, Alexandra: Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 97–108.
- Werkstättenverordnung vom 13. August 1980 (BGBl. I S. 1365), die zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes vom 22. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2959) geändert worden ist [www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/schwbwv/gesamt.pdf, zuletzt aufgerufen am: 27.07.2016].
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