Vertreterinnen und Vertreter von Hochschulen und Bildungseinrichtungen waren eingeladen, die Verortung des Themas „Inklusion“ bzw. bestehende Projekte unter dem Gesichtspunkt „inklusive Ausbildung“ an ihrer Einrichtung kurz zu präsentieren. Der Workshop diente auch dem Austausch über eigene Fragestellungen, über noch nicht erreichte Ziele, Barrieren und Wünsche sowie Forderungen an Politik, Kulturpolitik, Hochschulen und andere relevante Ausbildungsebenen, die sich aus der Arbeit ergeben haben.
Zunächst beleuchtete Dr. Philipp Schulte, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und freier Autor und Dramaturg mit einem Input den Diskurs zwischen „Normativität und Handwerklichkeit“. Schulte ist unter anderem verantwortlich für das Performancekollektiv Monster Truck mit den Produktionen „Comeback. Ein Schreckensszenario“ – Koproduktion sophiensaele Berlin und Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main und „Everything is Flux“ – Koproduktion Schauspielhaus Düsseldorf und HAU Berlin.
Im Studiengang „Angewandte Theaterwissenschaft“ in Gießen wird ein 50-50-Prozent-Verhältnis von Theorie- und Praxisanteilen angestrebt. Die Veranstaltungen setzen sich sowohl in Form von theoretischen Seminaren und Übungen als auch von szenischen Projekten mit historischen und zeitgenössischen Theaterformen, mit Theorie, Ästhetik und Semiotik theatraler Prozesse sowie mit dem Verhältnis von Theater und den benachbarten Künsten auseinander. Schulte stellte die Idee von Joseph Beuys „Jeder Mensch ist ein Künstler“, die Infragestellung des Respekts vor Kunst und den Ansatz über Improvisation theatrale Prozesse zu gestalten der Reproduktionskunst des Dramatischen Theaters, das auf Tradition aufbaut, entgegen. Will man beide miteinander in Kontakt bringen, muss über Aufnahmekriterien für Studierende neu nachgedacht werden. Schulte legte dar:
Wird Ausbildung in Darstellender Kunst als performative Bildung verstanden, die im Diskurs erarbeitet, welche Art von Kunst gemeinsam entwickelt werden kann, braucht es notwendigerweise eine Balance zwischen Handwerk und kritischem Nachdenken darüber. Als Problem erweist sich der Faktor Zeit, da individuelle Ausbildungen schwer in modularisierten Studiengängen umzusetzen sind.
Thematisch führte der Input direkt in die nachfolgenden Berichte und Diskussionsebenen ein.
Vertreterinnen und Vertretern der Hochschulen, in denen das Thema Inklusion zumindest ansatzweise in Curricula oder Projekten inhaltlich aufgegriffen wird, waren gebeten, in ihren Berichten unter anderem über folgende Fragen Auskunft zu geben:
- Gibt es in Ihren Instituten entsprechende Lehrpläne, in denen das Thema Inklusion verortet ist?
- Wurden spezielle Module für Inklusion in die bestehenden Studiengänge eingebracht? Welchen Anteil haben diese an den Studiengängen?
- Wer vertritt diese Inhalte (Lehrpersonal)?
- Mit welchen Einrichtungen kooperieren Sie?
- Sind Prüfungen in diesem Themenkomplex möglich?
Formalen Bildungseinrichtungen wie Musikhochschulen und Hochschulen mit künstlerischen Lehramtsstudiengängen sind inzwischen mit dem Thema Inklusion befasst, die inhaltliche Verortung inklusiver Inhalte in Lehrplänen und Modulen erscheint jedoch umso schwieriger, je höher der Anspruch an die künstlerische Professionalität formuliert ist. Musikhochschulen tun sich schwer, überhaupt einen Nachteilsausgleich zum Beispiel für Studierende mit motorischer Beeinträchtigung oder Sinnesbehinderung zu gewähren. Das System Musikhochschule scheint sich auf das hohe Maß an Individualität nicht einstellen zu können. Ebenso fehlt bisher die Fähigkeit, den künstlerischen Gegenstand an das Individuum anzupassen.
Andernorts werden erste Lösungen gesucht: an der Musikhochschule Lübeck übernahm Dr. Björn Tischler 2014 die externe Beratung zur Implementation von Inklusion. Mit einem „Inklusionsteam“ wurden „inklusionsorientierte Kompetenzbereiche“ entwickelt und ein Bezugsmodul eingerichtet, das die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler thematisiert. Inklusion soll fester Teil der gesamten Lehrerausbildung werden. Ziel ist es, die künftigen Musiklehrkräfte für Probleme von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung zu sensibilisieren und ihnen Lösungsmöglichkeiten zu zeigen. Auf dem sogenannten „InklusionsCampus“, erstmals 2015 durchgeführt, werden Studierenden, aber auch Dozentinnen und Dozenten Grundkenntnisse über Behinderungsarten, Förderkonzepte und didaktische Methoden vermittelt (vgl. Gerland 2016: 57).
An Hochschulen wie der Universität Paderborn gibt es das Fach Musikdidaktik mit besonderer Berücksichtigung von Inklusion, unter anderem mit den Schwerpunkten Inter-/Transkulturelle Musikpädagogik sowie Musikpädagogik und Inklusion (Prof. Dr. Klingmann). Hier wird im Rahmen des BA-Studiums bisher ein „Praxismodul kulturelle Vielfalt/Percussion“ angeboten und eine Erhebung zum rhythmischen Lernen durchgeführt. Klingmann merkte an, dass der Inklusionsbegriff zwar in das Schulsystem eingebracht wurde, das Regelsystem sich aber dann auch ändern müsse.
Dr. Annette Ziegenmeyer, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Lehrgebiet Musikpädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW), berichtete von der Aufnahme des Themas Inklusion in den Lehrplan, ohne dass dadurch aber bisher wesentliche Änderungen der Studienordnung eingetreten seien. Ziel sei, Fragen sonderpädagogischer Förderung in den Lehrplan einzubringen, Kontakte zu knüpfen, um zu zeigen, wie Schülerinnen und Schüler durch künstlerische Mittel gefördert werden können. Gemeinsam mit Christine Löbbert, die als blinde Cellistin an der Domsingschule Freiburg mit gehörlosen Schülerinnen und Schülern arbeitet und dabei das Singen mit Gebärden als ein wichtiges Element beschreibt, entwickelt sie im Tandem Lösungsansätze für inklusive Bildung. Ganz praktisch geht es dabei zum Beispiel auch um Fragen, wie Fahrten von Menschen mit Behinderung, die an Kultureller Bildung teilnehmen wollen, durch die Kostenträger abgerechnet werden können.
Größere Spielräume ergeben sich im Bereich der Elementaren Musikpädagogik. Prof. Dr. Tamara Mc Call, Professorin mit Schwerpunkt Musik und Bewegung/Performance/Inklusion am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück leitet dort seit 2010 das inklusive Tanztheater eigenwert in Kooperation mit der Heilpädagogischen Hilfe Osnabrück. Zusammen mit Carolin Nowak stellte sie das Projekt „Diversity Day“ vor, in dem Künstlerinnen und Künstler mit und ohne Behinderung auftreten.
Die „Diversity Days“ werden seit 2014 an der Hochschule Osnabrück angeboten. Auf dem Programm stehen Vorträge, Diskussionen und Workshops, in denen es um Themen wie Gleichheit und Verschiedenheit oder um die persönliche, eigene Tanzsprache geht. Sie gelten in Ergänzung zu einem Inklusionsmodul als bewertungsfreies Übungsfeld für Studierende (vgl. Schleper 2014).
An der Hochschule für Musik und Tanz (HfMT) Köln, Studiengang Lehramt, lehrt Dr. Daniela Laufer mit einer halben Stelle als Lehrerin im Hochschuldienst Sonderpädagogische Musikerziehung/Inklusive Musikdidaktik für Menschen mit und ohne Behinderung. Ihr Ziel sieht sie in der Bildung von Netzwerken in der Ausbildung zwischen Studierenden und Schulen, um das Thema Inklusion auch praxisbezogen in den Blick zu rücken. In Kooperation mit dem Kölner Institut für Musikpädagogische Forschung (KIM) und der Musikschule Köln entstand ein Beratungskonzept sowie das Angebot einer offenen Sprechstunde zu Fragen des Umgangs mit besonderen Bedarfen und Bedürfnissen von Schülerinnen und Schülern im Unterricht.
Während in den vorgestellten Beispielen eher über die Inklusion vor allem von Menschen mit Behinderung nachgedacht wird und darüber, wie künftige (Sozial-)Pädagoginnen und -Pädagogen oder Künstlerinnen und Künstler auf die Arbeit mit ihnen vorbereitet werden können, geht das Institut für Inklusive Bildung – gemeinnützige GmbH bereits einen Schritt weiter. 2013 von der Stiftung Drachensee in Kiel gegründet, ist das Institut heute An-Institut an der Christian-Albrechts-Universität. Es ermöglicht Menschen mit Behinderung, als Expertinnen und Experten in eigener Sache in Fach- und Hochschulen als „Bildungsfachkraft“ zu lehren. Laura Schwörer und Sara Groß berichteten davon, wie Menschen, die vormals in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) tätig waren, über drei Jahre eine umfassende „Qualifizierung zur Bildungsfachkraft“ durchlaufen. Ziel des Instituts ist die Schaffung existenzsichernder Arbeitsplätze im Bildungsbereich.[1]
Auf künstlerischer Ebene hat sich unter dem Aspekt Begegnung auf Augenhöhe bereits ein neues Bewusstsein entwickelt. Lis Marie Diehl begleitet wissenschaftlich die eher experimentellen oder improvisatorischen Projekte „ARTplus“. Die Projekte ermöglichen (angehenden) Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung Erfahrungen an verschiedenen Kulturinstitutionen. Es gibt u.a. die Gelegenheit, am Deutschen Schauspiel Berlin als Regieassistenz zu agieren, die Hochschule für Künste im Sozialen (HKS) Ottersberg als Gasthörerin und -hörer zu besuchen, ein inklusives Kursangebot an der Hip-Hop-Akademie Hamburg sowie am Hamburger Konservatorium wahrzunehmen.
Den Berichten zufolge scheint das Thema Inklusion in der Ausbildung jedoch noch wenig präsent, es wird an einzelne Lehrende oder Lehrbeauftragte delegiert und damit mehr oder weniger abhängig vom Engagement einzelner Personen. Im Tanzbereich existiert bisher noch keine inklusive Ausbildung. Beispielhaft zeigt die Compagnie DIN A13 mit Gerda König als Choreografin die Potentiale künstlerischer Arbeit.
Diskussionsebenen
Die Workshopbeiträge machten die große Vielfalt und Verschiedenheit der vorgestellten Konzepte oder Projekte deutlich. Alle gehen von unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Zielgruppen aus; sie sind im Prinzip nicht vergleichbar. Unterschiedliche Sichtweisen zeigten sich:
- zwischen den künstlerischen Sparten wie Tanz, Theater, Musik,
- zwischen Künstlerinnen oder Künstlern und (Sozial-)Pädagoginnen und -Pädagogen
- zwischen Reproduktionskunst versus freie Kunst,
- zwischen der Verpflichtung gegenüber der Kunst/dem Werk und der Ausbildung von Virtuosinnen und Virtuosen und dem Ansatz über Improvisation/„Punk-Kunst“ theatrale Prozesse zu gestalten
- in Bezug auf Ausbildungsziele der Studiengänge mit künstlerischem Anspruch und der Studiengänge für Vermittlungsberuf
- im unterschiedlichen Gebrauch von Begriffen wie dem der „Inklusion“
- in der Notwendigkeit, Verschiedenheit einerseits zu berücksichtigen und andererseits Kriterien für Qualität zu benennen. Der Qualitätsanspruch erfordert Ausbildende, die Menschen mit Behinderung so fördern, dass sie Kompetenzen entwickeln können. Welche Bedarfe formulieren die Betroffenen selbst?
- in der Reaktion auf die Zuschreibung Behinderung: Auch Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung wollen an ihrer Leistung gemessen werden.
Als dringende Anliegen und Probleme wurden formuliert:
- Gleichwertigkeit der Ausbildung von Menschen mit Behinderung an Hochschulen einerseits und der Ausbildung von Studierenden für die Arbeit mit einer heterogenen Schülerschaft andererseits,
- Gleichwertigkeit der künstlerischen Bereiche Produktion und Reproduktion im Rahmen der Ausbildungen,
- Lösungsorientierte Konzeption und Umsetzung inklusiver Ausbildungs- und Studiengänge
- Mehr Ausbildungsplätze bzw. -inhalte für nicht-reproduktive Angebote,
- Anpassung des künstlerischen Gegenstands an das Individuum
- Perspektivenwechsel von der Norm zur Rezipientenorientierung.
- Parallelität der Entwicklung künstlerischer Arbeit und institutioneller Rahmung
- Öffnung von Tanzstudiengängen unter Wahrnehmung bzw. Sichtbarmachung einer anderen Körperlichkeit.
- Schaffung von Modulen für die Aus- und Weiterbildung von Menschen mit verschiedenen Körperlichkeiten, gegenseitiges und bereicherndes Von-einander-Lernen durch Auseinandersetzung mit verschiedenen Ästhetiken.
- Entwicklung neuer Ästhetiken aus dem Blickwinkel von Menschen mit Behinderung.
- Tandemlösungen (Tandems von Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen) in der Lehre: Betroffene vermitteln ihre tatsächlichen Bedarfe.
- Änderungen von Veranstaltungen wie Kongressen, damit sich Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeitsprofilen dort wohlfühlen.
- Verweis auf rechtliche Verpflichtungen, die sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ableiten.
- Verweis auf Verteilungskampf zwischen neuen und alten Strukturen.
Nach einer sehr lebhaften Diskussion schlug die Workshopgruppe vor, eine nächste Tagung zum selben Themenfeld anzubieten, um die angefangenen Diskurse fortsetzen zu können.
Literatur
- Gerland, Juliane/Zielbauer, Sisko (2016): Inklusionsforschung im Kunstlabor | Kunstforschung im Inklusionslabor. In: Diagonal, 37 (1), S 219–228.
- Schleper, Holger (2014): Bewegende Vielfalt: Diversity Days an der Hochschule Osnabrück. In: Informationsdienst Wissenschaft, 24.03.2014 [https://idw-online.de/de/news578918, zuletzt aufgerufen am: 06.05.2017].
[1] Siehe www.inklusive-bildung.org/de/institut.
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