Für Menschen mit Behinderung als Akteure im Kunstbetrieb ist der Nachholbedarf in den vielfältigen Sektoren von Kunst und Kultur inklusiv zu denken, riesig, meint der ehemalige Geschäftsführer der Lebenshilfe.
1) Wie beurteilen Sie die Präsenz der Kultur im Inklusionsdiskurs?
Im öffentlichen Inklusionsdiskurs spielen die Belange von Kunst und Kultur eine deutlich nachgeordnete Rolle. Dabei wird eine große Chance vertan: Die Umsetzung des Inklusionsgedankens ist im Bereich von Kunst und Kultur tendenziell weniger aufwendig als dies im Zusammenhang mit den „dicken Brettern“ der Bildung und des Arbeitslebens möglich ist. Dadurch können Haltungen verändert werden – als Voraussetzung, um auch in den genannten hoch komplexen Feldern inklusive Strukturen zu schaffen und Finanzen zu generieren. Innerhalb der Kulturszene rückt der Teilaspekt „Barrierefreiheit“ verstärkt ins Bewusstsein. Dies betrifft Menschen mit Behinderung in erster Linie als Nutzerinnen und Nutzer von kulturellen Angeboten (Vorstufe zur und Voraussetzung für Inklusion). Barrierefreiheit sollte aber als umfassende Zugänglichkeit verstanden werden, welche die Aspekte der Kommunikation, der Orientierung oder der Kunstvermittlung beinhaltet. Dies betrifft z. B. Theater und Museen. Oft ist z. B. der Museumsbesuch für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder geistiger Behinderung weniger attraktiv. Sinnvoll und notwendig sind beispielsweise Informationen in Leichter Sprache – auch als Indiz, dass inklusive Kommunikation über Menschen mit Behinderung hinaus anderen Personengruppen (Laien, Menschen, für die Deutsch eine Fremdsprache ist, dem eiligen Lesenden …) nutzt.
2) Schildern Sie Ihren persönlichen Blick auf Kultur im inklusiven Kontext!
Für Menschen mit Behinderung als Akteure im Kunstbetrieb ist der Nachholbedarf in den vielfältigen Sektoren von Kunst und Kultur inklusiv zu denken, riesig. Chancen wie diese bleiben ungenutzt:
- Menschen mit Behinderung, die talentiert und gewillt sind, künstlerisch tätig zu sein, ist der Weg neigungsorientierter Berufsausübung als Künstlerin oder Künstler zumeist – vorurteilsbedingt – verbaut.
- Dem „Kunstbetrieb“ entgehen Impulse, die von diesem Personenkreis ausgehen. Sie sind mit ihrer Fantasie, ihrer emotionalen Überzeugungskraft und Spiritualität in der Lage, Kunst und Kultur zu bereichern.
- Kunst bietet eine Plattform intensiver Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung, auch und gerade dann, wenn sie in Teams realisiert wird (Theater, Tanz, Musik, Gruppenausstellungen).
3) Welche Ideen und Wünsche haben Sie perspektivisch für den Kontext Kultur und Inklusion?
Ganz konkret, wohl aber auf Basis konzeptionell-programmatischer Überlegungen:
- Systematische Ermittlung der individuellen Neigungen und (Berufs-) Wünsche von Menschen mit Behinderung, um Talente zu entdecken.
- In der Folge dann entsprechend des Wunsch- und Wahlrechts adäquate Ausbildungsmöglichkeiten. Hierbei sollten auch im Blick auf Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen Kooperationen mit Kunstakademien erwogen werden.
- Öffnung museums- und musikpädagogischer Angebote auch für Menschen mit Behinderung.
- Vorurteilsabbau im Bereich des Kunstmarkts und dessen Öffnung für Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung. Dies betrifft Galerien, Kunstvereine, Museen, Kunstsammlungen, Ausstellungsmacherinnen und -macher, Veranstalter von Kulturereignissen.
- Kunstvermittlung auf Konferenzen/Symposien durch Präsentationen/Vorträge („Nichts über uns ohne uns“).
- Schaffung von Berufsbildern für Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung in der Vermittlung künstlerischen Handelns.
- Verstärktes Engagement der Organisationen aus dem Behindertenbereich (Selbsthilfe- und Trägerorganisationen) in den Bereich Kunst und Kreativität mit inklusiver Zielrichtung.
- Schaffung von neuen oder Anreicherung bestehender Strukturen, auch außerhalb der Behindertenszene, die Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung als Interessenvertretung und zur Vermittlung in die unterschiedlichen Kunstmärkte dienen.
Auf dem Weg der „Inklusion in Kunst und Kultur“ gelingt „Inklusion durch Kunst und Kultur“. Wenn Menschen mit Behinderung die Chance haben, über die Ergebnisse ihres kulturellen Schaffens Lebensfreude und Leistungsfähigkeit zu zeigen, kann dieses Lebensfeld zum Motor werden, gesellschaftliches Handeln und persönliche Haltungen im Geist der Inklusion zu verändern.
Bundesgeschäftsführer der Lebenshilfe i. R. In: Gerland, Juliane/Keuchel, Susanne/Irmgard Merkt (Hrsg.): Kunst, Kultur und Inklusion. Teilhabe am künstlerischen Arbeitsmarkt. Schriftenreihe Netzwerk Kultur und Inklusion, Bd. 1. Regensburg: Conbrio, S. 118-120.
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