Seit nahezu 40 Jahren befassen sich Musikschulen mit der Frage, wie sie nahezu allen Kindern, die Musik machen wollen, ermöglichen können, ein Instrument zu erlernen. Musikschulen verfügen bereits über eine lange Tradition der Implementierung von Inklusion. Die erfolgreiche Umsetzung ist an viele Bedingungen geknüpft.
Der Prozess begann vor vier Jahrzehnten mit dem Bochumer Modell durch Werner Probst, Leiter der Bochumer Musikschule und ab 1979 Professor an der Pädagogischen Hochschule Dortmund. Er forschte an Haupt- und Sonderschulen, unter welchen Bedingungen Kinder und Jugendliche mit Behinderung und von Behinderung Bedrohte – gemeint waren die Kinder der damaligen „Gastarbeiter“ mit ihren Sprachdefiziten – an ein Instrumentalspiel herangeführt werden könnten. Er „rüttelte mit seiner Feststellung ‚Jeder Mensch ist für Musik empfänglich, also in diesem Sinne musikalisch‘ am bisherigen Selbstverständnis der Musikschulen und am Begriff der Musikalität“ (VdM 2015: 1).
Im Leitbild der öffentlichen Musikschulen im Verband deutscher Musikschulen (VdM), verabschiedet auf dem Musikschulkongress in Münster 2015, heißt es inzwischen:
Wir bekennen uns zur Inklusion als Anspruch und Aufgabe. Wir ermöglichen jedem Menschen, an der Musik teilzuhaben – durch diskriminierungsfreie, auch aufsuchende Angebote, durch weitgehende Selbstbestimmung jedes Einzelnen sowie eine äußere und innere Barrierefreiheit. Vielfalt und Heterogenität erkennen und nutzen wir als Chance und stellen dabei den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt.
Unter anderem durch die Arbeit des Bundesfachausschusses Menschen mit Behinderung an Musikschulen/Inklusion im VdM seit 1981 gibt es aktuell an vielen Musikschulen eine Beauftragte oder einen Beauftragten, die oder der die Belange von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung koordiniert sowie Kolleginnen und Kollegen berät. Darüber hinaus organisieren Fachsprecherinnen und -sprecher in den einzelnen Bundesländern Fortbildungen und bieten Kollegiale Beratung in Bezug auf die Arbeit mit Menschen mit Behinderung an. Sie verfügen seit Langem über entsprechende Erfahrungen und tauschen sich regelmäßig in gemeinsamen Treffen über Probleme in ihren Bundesländern aus. Dabei geht es meistens um Fragen der nicht vorhandenen oder mangelhaften Strukturen und der Wertschätzung der eigenen Arbeit. Das Thema Barrierefreiheit scheint in den Kommunen angekommen zu sein, ist aber nicht immer zu lösen, da viele Musikschulgebäude so alt sind, sodass z. B. ein Aufzug gar nicht eingebaut werden kann. Größer allerdings sind die Probleme der Passung von Schülerinnen und Schülern in das eigene Unterrichts- und Lernkonzept und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, eigene Konzepte zu erweitern und zu verändern.
Die Fortbildung „Berufsbegleitender Lehrgang Instrumentalspiel mit Behinderten an Musikschulen“ (BLIMBAM) richtet sich seit 1981 an Musikschullehrkräfte, die in inklusiven Settings arbeiten. Dieser Teilnehmerkreis wurde vor Kurzem ausgeweitet auf Förderschullehrkräfte mit Musik und Studierende für das Lehramt Musik. So bilden sich multiprofessionelle Teams, die die verschiedenen Sichtweisen auf die musikalisch-künstlerische Arbeit mit Menschen mit Behinderung in Austausch bringen können. Die Gruppen arbeiten über zwei Jahre in vier fünftägigen Phasen miteinander und entwickeln gemeinsam eigene Arrangements. Darüber hinaus absolvieren sie Praxisphasen, in denen sie vorgestellte Projekte der Fortbildung ausprobieren, z. B. Musikstücke so arrangieren, dass Angebote für unterschiedlichste Fähigkeitsniveaus entwickelt werden und das Stück als Ganzes perfekt klingt. Dies führt zu einer hohen Verbindlichkeit, ermöglicht einen Kompetenztransfer und die Arbeit an den unterschiedlichsten Fragen und Problemen.
Wichtige Aspekte, die immer wieder eine Rolle dabei spielen, wann und wo Inklusion gelingt und warum sie nicht gelingt, sind:
Der Gebrauch des Inklusionsbegriffs
In der Potsdamer Erklärung (VdM 2014)wird ein weiter Begriff favorisiert, der alle Diversitäten in den Blick nimmt und die individuellen Ressourcen und Möglichkeiten als Normalität und als entwickelbar ansieht.
Sie benennt vier Perspektiven inklusiver Arbeit: 1) Musikschule und Menschen mit Behinderung, 2) Musikschule und kulturelle Vielfalt, 3) Musikschule und Erwachsene, alte oder pflegebedürftige Menschen und 4) das Handlungsfeld Musikschule und Veränderungen in der Gesellschaft (hier auch: Entfaltung von Begabung bei Veränderung von allgemeinbildender Schule).
Ohne die Akzeptanz von Diversität ist Inklusion nicht denkbar oder wie Matthias Berg, Hornist, auf dem 2. Inklusionstag von UN-Label in Köln am 30. Oktober 2019 konstatiert: „Überschrift für Inklusion ist Diversität. Dies sollte inzwischen gelebte Selbstverständlichkeit sein“ (Un-Label 2019).
Dementgegen steht eine Praxis, die Integration und Inklusion gegeneinander ausspielt. Integration ebenso wie der Begriff der Diversität gelten primär dem Kriterium Migration/Interkulturalität, sowie den Kriterien Alter und Geschlecht. Inklusion wird mit Behinderung konnotiert. Die Normalität der von Diversität geprägten Lebensweisen von Menschen mit Behinderung und ihrer für den vorliegenden Kontext relevanten künstlerischen und ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten wird bis heute eher selten mitgedacht (vgl. Krebber-Steinberger 2017: 134).
Behinderung als Diskursprodukt
Die allgemeine Erwartung an Menschen mit Behinderung, vor allem mit Blick auf die professionelle Musizierfähigkeit ist gleich null. Ein blinder Musiker, eine gehörlose Musikerin, eine Tänzerin mit Downsyndrom scheinen nicht vorstellbar und da sich beim Versuch auf jeden Fall eine ganze Reihe Barrieren auftun, sich im Rahmen einer Hochschulausbildung zu professionalisieren, werden diese zum Ausschlusskriterium.
In dem Buch „Kreativität grenzenlos!?“ (Henning/Sauter/Witte 2019: 7) heißt es:
Behinderte Menschen beschreibt in diesem Zusammenhang einen eingeschränkten Zugang zu Kunst und Kultur, trotz vorhandener Fähigkeiten, handwerklicher Fertigkeiten und erkennbarem Talent. Mit dieser durchaus ambivalenten Bezeichnung behindert verweisen wir auf einen zeitgemäßen Behinderungsbegriff, der im Sinne der Disability-Studies sowie den aktuellen Diskursen um Bildung, Teilhabe, Menschenrechte keinen Zustand körperlicher oder kognitiver Abweichung bezeichnet. Er reflektiert vielmehr erfahrene Barrieren auf dem Weg zu gesellschaftlicher Teilhabe.
Zuschreibungen/Konstruktionen/Vorurteile versus aktuelle Praxis
Voreingenommenheit beginnt schon wirksam zu werden, wenn in Bezug auf kulturelle Teilhabe von Studierenden über Lehrende und Schulräte … erklärt wird, dass z. B. Musikausübung, ein Instrument lernen für Kinder/Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen oder gar mit Behinderung „nichts sei“. Dazu müsse man begabt und entsprechend sozialisiert sein. Diese Konstruktionen werden vor allem aufgrund mangelnder anderer Erfahrung bzw. fehlender Kontakte immer wieder verstetigt.
Im Musikschulkontext geht es vor allem um die aktive Ausübung musikpraktischer, künstlerischer Art, die in Präsentationen mündet. Der Lehrgang BLIMBAM (s. o.) findet im Winter immer gemeinsam mit einem inklusiven Tanzprojekt unter der Leitung von Wolfgang Stange statt, zu dem es im Verlauf des Wochenendes zu gemeinsamen Zeiten und Erfahrungen kommt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Lehrgangs können sich ein Bild von dem machen, was an künstlerischer Qualität, persönlicher Fähigkeit und Selbstverständlichkeit der Teilnahme trotz Behinderung möglich ist. Darüber hinaus werden Kontakte zur Musikschule Bochum, z. B. mit der Möglichkeit der Hospitation in inklusiven Ensembleproben, angeboten. So kommen auch Expertinnen und Experten in eigener Sache zu Wort. So auch Lucca Keller, Pianist mit dyskinetischer Zerebralparese, der durch Spastiken in den Händen eine individuelle Fingertechnik beim Spielen von Jazzstücken – seiner tiefen Leidenschaft – entwickelt hat.
Inklusives pädagogisches Arbeiten begann für mich mit Peter Horcher [seinem Lehrer; Anm. d. Verf.], der mit mir gemeinsam überlegte, wie Stücke vereinfacht werden können, um diese für mich spielbar(er) zu machen. Durch diesen Ansatz schaffte ich es, komplexere Stücke bis hin zu ersten Jazzstandards zu spielen und darüber zu improvisieren.
(Lucca Keller 2018: o. S.)
Der Umgang mit Normen wird relativiert und erhält eine andere Bedeutung. Das ist besonders für künstlerisch Tätige und Lehrende hart zu hinterfragen, weil sie sich ständig positionieren und profilieren müssen und ihre Expertise unter Beweis stellen müssen. Notwendig ist daher ein Perspektivwechsel, der statt einer Vergleichbarkeit der Studienleistungen Erfahrung von Verschiedenheit und Vielfalt auf einem denkbar hohen Niveau ermöglicht. Dieser thematisiert auch die eigenen Zugänge der künftigen Vermittlerinnen und Vermittler, denn u. a. ist eine hohe Improvisationsfähigkeit, die Impulse aufgreifen und weiterentwickeln kann, gefragt. Es geht um einen Paradigmen- oder Perspektivenwechsel von der Norm zur Feststellung individuenzentrierter Lernbedürfnisse und entsprechend binnendifferenzierter Lehrangebote (vgl. VdM 2017).
Das Primat der Wissenschaftlichkeit
Dieses Primat an den lehrerausbildenden wie künstlerischen Hochschulen führt dazu, dass künstlerische Vermittlung einen weniger hohen Stellenwert hat als künstlerische Ausbildung selbst, Lehrämter für Gymnasien einen höheren als die für Grund- und erst recht Förderschulen, und an Musikschulen Kolleginnen oder Kollegen mit vielen Schülerinnen und Schülern, die erfolgreich „Jugend musiziert“ durchlaufen, mehr Wertschätzung entgegengebracht wird als jenen, die Grundlagen vermitteln oder mit Schülerinnen und Schülern mit Behinderung arbeiten. Außerdem werden die Praxisbezüge an vielen Hochschulen nicht ernsthaft unter dem Qualitätsaspekt gestaltet bzw. von den Studierenden als wichtig wahrgenommen. Obwohl initiiert durch den Lehrstuhl Musik in den Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund gelingt es häufig nicht, Studierende für die Teilnahme an inklusiven Veranstaltungen außerhalb der Hochschule zu gewinnen.
Der mangelnde Praxisbezug und/oder die Erfahrung, dass Inklusion nicht wirklich funktioniert, obwohl es ausreichend viele gute bis sehr gute Konzepte gibt, führen zu wenig positiver Haltung gegenüber inklusiven Settings. Wichtig wären daher dringend mehr Einblicke in die beispielhafte Praxis.
Darüber hinaus gibt es eine hohe mangelnde Veränderungsbereitschaft der Systeme Schule wie Hochschule, aus Angst etwas zu verlieren – den Ruf, die Professionalität, das Alleinstellungsmerkmal – und davor, sich mit Menschen auseinandersetzen zu müssen, die sich nicht nahtlos einfügen und für deren Einbeziehung mehr Zeit als verfügbar nötig ist.
Vernetzung und Kooperation der beteiligten Profis
Wichtig wird immer mehr die Vernetzung und Kooperation in multiprofessionellen Teams. Die Frage der Zuständigkeit ist eine zentrale: Immer wieder beginnen z. B. im Rahmen von Musikschulkongressen und anderen Fortbildungen Gespräche damit, dass eine Person an der Musikschule, die für die Inklusion zuständig war, jetzt aber ausscheidet und man gefragt worden wäre ... Die Zuständigkeit wird auf eine Person, eine Veranstaltung reduziert und alle anderen Lehrkräfte sind nicht einbezogen. Das ist ein grundsätzliches und schwerwiegendes Problem, weil sich so die meisten Kolleginnen und Kollegen nicht für alle Schülerinnen und Schüler verantwortlich fühlen müssen.
In Berlin entsteht gerade über die Teilnahme an verschiedenen Fachtagungen des VdM ein Netzwerk an den Musikschulen der zwölf Berliner Bezirke, die ihren Auftrag darin sehen, die Bedingungen strukturell wie personell zu identifizieren und zu verbessern. Grundlagen dieser Arbeit sind Kommunikation und Transparenz der Leitungsentscheidungen, eine flache Hierarchie und die Beteiligung der Fachkräfte an der Gestaltung und Entwicklung inklusiver Strukturen und Praxis auf der Basis einer entsprechenden Kultur des Umgangs miteinander.
Repräsentanz von Menschen mit Behinderung
Wie sichtbar sind Menschen mit Behinderung an lehrerbildenden und künstlerischen Hochschulen und künstlerischen Produktionen? Wie vertreten diese ihre eigenen Bedürfnisse und Bedarfe? Wer partizipiert eigentlich woran? Oder wie geht Teilhabe? Die Erfahrung von Kompetenz von Menschen mit Behinderung führt zu einer Wahrnehmungserweiterung. Ein Beispiel: Wenn in einer Veranstaltung beim Inklusionstag von UN-Label gehörlose Menschen nicht nur durch Gebärdendolmetscherinnen und -dolmetscher an den Diskursen teilhaben können, sondern selbst etwas zu sagen haben und dies mittels ihrer Gebärden tun, die dann wiederum von den Dolmetscherinnen und Dolmetschern in hörbare Sprache übersetzt werden müssen, sorgt das für Irritationen, die unmittelbar in eine veränderte Wahrnehmung der entsprechenden Personen münden. Es braucht dringend mehr Kommunikation aller Beteiligten und Transparenz der Entscheidungswege, d. h. mehr Kontakt und Wertschätzung gegenüber den jeweils anderen Sichtweisen, denn, wie Matthias Berg sagt: „Die Menschen machen den Unterschied.“ (Un-Label 2019)
Literatur
- Henning, Ina/Sauter, Sven/Witte, Katharina (Hrsg.) (2019): Kreativität grenzenlos!? Inner- und außerschulische Expertisen zu inklusiver kultureller Bildung. Bielefeld: transcript.
- Keller, Lucca (2018): Die Behinderung ist nur ein Teil von mir. In: neue musikzeitung, 67 (9), o. S.
- Krebber-Steinberger, Eva (2017): Bildungsgerechtigkeit. Inklusion. Diversitätsbewusstsein – Annäherung an das Feld diskriminierungsfreier kultureller Teilhabe. In: Hübner, Kerstin/Kelb, Viola/ Schönfeld, Franziska/ Ullrich, Sabine (Hrsg.) (2017): Teilhabe. Versprechen?! Diskurse über Chancen- und Bildungsgerechtigkeit, Kulturelle Bildung und Bildungbündnisse. München: kopaed, S. 131-138.
- UN-Label (Un-Label Performing Arts Company) (2019): Re:construction in der Oper Köln. 2. Inklusionstagung in der Oper Köln.
- VdM (Verband deutscher Musikschulen) (2015): Leitbild der öffentlichen Musikschulen im Verband deutscher Musikschulen (VdM), verabschiedet von der Bundesversammlung des VdM am 7. Mai 2015 in Münster. https://www.musikschulen.de/medien/doks/Positionen_Erklaerungen/leitbild_vdm-musikschulen.pdf [Zugriff: 15.01.2020].
- VdM (Verband deutscher Musikschulen) (2014): Musikschule im Wandel – Inklusion als Chance: Potsdamer Erklärung des Verbandes deutscher Musikschulen (VdM). https://www.musikschulen.de/medien/doks/vdm/potsdammer_erklaerung.pdf [Zugriff: 15.01.2020].
- VdM (Verband deutscher Musikschulen) (Hrsg.) (2017): „Spektrum Inklusion. Wir sind dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen“. Bonn: Eigenverlag.
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