Die Anton Bruckner Privatuniversität ist eine Universität für Musik, Schauspiel und Tanz. Ich[2] bin in dieser Universität für das Institut für Musikpädagogik (IMP) verantwortlich. Ein zentrales Anliegen des IMP ist die Vermittlung einer inklusiven Grundhaltung.
Dies stellt angesichts mancher Vorerfahrungen der Studierenden und im Hinblick auf die an sie gestellten Studienbedarfe eine besondere Herausforderung dar: Die Studierenden sind meist schon von Kindesalter an auf Exzellenz trainiert. Sie üben täglich viele Stunden auf ihrem Instrument – meist allein. Viele von ihnen bestreiten Wettbewerbe und alle müssen regelmäßig auf der Bühne solistische Spitzenleistungen abliefern. Jede Studentin und jeder Student ist schon zu Beginn des Studiums in ganz persönlich gefärbter Weise profiliert.
Der folgende Beitrag beschreibt die Entwicklung eines Konzepts im Institut für Musikpädagogik für eine Lehrveranstaltung, in der die Heterogenität der Studierenden als Ressource für einen inklusiven Lernprozess genutzt wird. Nachdem ich den Kontext, die Universität und die Studienmöglichkeiten zuerst kurz allgemein beschreibe, komme ich zu der Frage, warum dieses Thema überhaupt relevant wurde und beschreibe zuletzt konkret das Projekt.
Die Anton Bruckner Privatuniversität für Tanz, Musik und Schauspiel in Linz hat ca. 850 Studierende, 220 Lehrende und 12 Institute. Gegründet wurde sie 1932 als Anton Bruckner Konservatorium, seit 2004 ist sie als Privatuniversität akkreditiert. An der Universität werden Bachelor- und Masterstudien angeboten, die mit Bachelor of Arts und Master of Arts abgeschlossen werden können:
- Instrumental- und Gesangsstudium (Bühne, Podium) sowie Dirigieren und Komposition;
- Studium Jazz und Improvisierte Musik;
- Studium Alte Musik;
- Schauspielstudium;
- Tanzstudium;
- Studium Instrumental- und Gesangspädagogik (Klassik, Jazz und Alte Musik);
- Studium Elementare Musikpädagogik;
- Universitätslehrgang Musikvermittlung.
In dem vierjährigen Instrumental-(Gesangs-)Pädagogikstudium, das pro Studienjahr ca. 50 Studierende belegen, gibt es wählbare Schwerpunkte, die mit 16 ECTS (European Credit Transfer Systems) und einer Dauer von vier Semestern eine ziemlich große Gewichtung haben. Unter anderen können die Studierenden Schwerpunktthemen wie „Musizieren in Gruppen“ und auch „Musizieren mit behinderten Menschen“ auswählen. In diesem Schwerpunkt geht es um Methoden aus der Musikpädagogik, um das Musizieren von Menschen mit Behinderung im Kontext von Musikschule – bzw. überhaupt im Kontext von Instrumental- und Gesangsunterricht zu ermöglichen und zu praktizieren.
Neben medizinisch orientierten theoretischen Lehrveranstaltungen hospitieren die Studierenden in diesem Schwerpunkt in der Musikschule in dem Fach „Kreatives Musikgestalten“[3] und übernehmen mehrere Unterrichtseinheiten. Die Erfahrung zeigt, dass meistens die Studierenden den Schwerpunkt belegen, die bereits irgendeine persönliche Erfahrung mit Menschen mit Beeinträchtigung gemacht haben, sei es im Zivildienst, in der Familie oder im Bekanntenkreis.
Und eigentlich berichten in den den Schwerpunkt abschließenden Diskussionen alle von der immer selben Erkenntnis: Sie erkennen, dass es letztlich um die Wahrnehmung der Individualität eines jeden Menschen geht, und dass man jede Schülerin und jeden Schüler den Voraussetzungen entsprechend „abholen“ muss. Und die Studierenden stoßen in diesem Schwerpunkt auch auf grundlegende instrumentalpädagogische Fragen:
Was sind die Ziele und was sollten die Inhalte von Instrumentalunterricht sein? Wie definiert sich eigentlich Kunst bzw. künstlerisches Tun in diesem Zusammenhang? Welche Fragen ergeben sich aus der üblichen Konnotation des Begriffs „Leistung“ im Instrumentalunterricht mit der bestmöglichen technischen Beherrschung eines Instruments?
Diskussionen zu diesen Fragestellungen führen wir selbstverständlich auch in den allgemeinpädagogischen Seminaren mit allen Studierenden. Jedoch scheint das Nachdenken nach einer grundlegenden leibhaftigen Erfahrung wesentlich größere Nachhaltigkeit zu haben. Aus diesem Grund denkt das IMP schon lange über Strategien und Konzepte nach, mit denen inklusive Erfahrungen allen unseren Instrumental- und Gesangsstudierenden zugänglich gemacht werden könnten.
Bei der Reakkreditierung der Universität 2014 durch die Agentur für Qualitätssicherung und Akkreditierung Austria (AQ Austria) wurde festgestellt, dass weder die Worte „Inklusion“ noch „multikulturell“ im Studienplan zu finden waren. Statt gesamtuniversitär nachzudenken, wurde bezeichnenderweise das IMP vom damaligen Rektorat aufgefordert, sich dieser Inhalte anzunehmen.
Die Kolleginnen und Kollegen des IMP waren zunächst überrascht, denn selbstverständlich war und ist Inklusion im Sinne von Gleichheit aller Menschen und Anerkennung jeder künstlerischen Ausdrucksform grundlegend für unser pädagogisches Handeln: zum Beispiel in den Arbeitsfeldern unserer Absolventinnen und Absolventen – wie Schulen mit hohem Migrationshintergrund, Blindenschulen, Gehörlosenzentren, zum Beispiel in dem oben beschriebenen Schwerpunkt, in den Konzerten der „Elementare Musikpädagogik“-Studierenden, den „Elementaren Musikpräsentationen“. Sie werden für die verschiedensten Zielgruppen geplant und erreichen ein breites vielfältiges inklusives Publikum. Das IMP versucht seit vielen Jahren, die Barriere „Klassisches Konzert“ mit anderen Konzertformaten zu durchbrechen. Im Sinne einer zukünftigen Berufsrealität regen wir die Studierenden an, sich Gedanken über neue Publikumsschichten zu machen. Sie sollen selbständig agieren können und neue interdisziplinäre und interkulturelle Formate der Musikvermittlung entwickeln. Und der inklusive Gedanke ist auch für unsere Musizierpraxis „Elementares Musizieren“ grundlegend. Allerdings – der Akkreditierungsrat hatte recht: nirgendwo tauchte in den Lehrveranstaltungstiteln das Wort „Inklusion“ und auch nirgendwo „multikulturell“ auf.
Uns wurde dadurch bewusst, dass das inklusive Arbeiten und eine Pädagogik der Vielfalt für die Pädagogik-Community von Lehrenden und Schwerpunkt-Studierenden unseres Instituts selbstverständlich waren, aber für die Außenwelt und damit auch für die Instrumental- und Gesangsstudierenden der anderen Institute offensichtlich nicht sichtbar.
Statt einer einfachen Veränderung des Titels bzw. der genaueren Beschreibung einer Lehrveranstaltung, wurde die Gelegenheit ergriffen, über eine Veränderung im bestehenden Lehrveranstaltungsangebot für alle Studierenden nachzudenken.[4]
Zunächst haben wir uns als Institutsteam weitergebildet. Ich erwähne dies deshalb gesondert, weil eine gemeinsame Weiterbildung wohl nicht unbedingt üblich ist, wir es alle als ungemein bereichernd empfunden haben und es die für die Entwicklung des Themas von großer Bedeutung war. Wir haben Workshops zum Thema „Inklusion“ besucht. Wir haben gemeinsam Literatur, besonders auch die Ausführungen zur Pädagogik der Vielfalt von Annedore Prengel (1993) diskutiert und anschließend ein spezielles Konzept für unsere Instrumentalstudierenden entwickelt.
Warum brauchen unsere Studierenden ein spezielles Konzept?
Anders als andere haben unsere Studierenden bereits die große Hürde der Aufnahmeprüfung an einer künstlerischen Universität überwunden. Sie haben sich darauf – je nach Instrument – ein Leben lang oder auf jeden Fall viele Jahre vorbereitet. Der Exzellenzgedanke also liegt der gesamten Lehre in besonderem Maße zugrunde. Die selektiven Auswahlverfahren zu Beginn des Studiums lassen nur die allerbesten Studierenden zum Studium zu. Und dann bereiten sie sich in ihrem zentralen künstlerischen Hauptfach im Grunde vier Jahre auf ein solistisches Programm auf der großen Bühne vor. Das zu erreichende Niveau ist durch die Vorgabe von zu spielenden Werken vorgegeben und eine individuelle Auswahl relativ eingeschränkt. Man spielt das, was die Professorin oder der Professor vorschlägt. Und ebenso durchlaufen die Lehrenden der zentralen künstlerischen Fächer strenge Auswahlverfahren, um an einer Kunstuniversität zu unterrichten. Die Zughörigkeit zur „Elite“ liegt der gesamten Ausbildung zugrunde.
Und damit komme ich zur konkreten Schilderung des Projekts. Zunächst haben wir uns folgende Fragen gestellt:
- Wie vermittelt sich diesen besonderen Studierenden der Gedanke der Inklusion im Sinne eines „Instrumental-(Gesangs-)Unterrichts für alle“?
- Wie vermittelt sich Studierenden überhaupt eine grundsätzliche pädagogische Haltung?
Was meine ich mit inklusiver pädagogischer Grundhaltung in unserem künstlerischen Kontext?
Die Lehrerin und der Lehrer respektieren die Schülerinnen und Schüler als Künstlerinnen und Künstler mit schöpferischem Potential und als gleichberechtigte Musizierpartnerinnen und -partner. Die Lehrerin und der Lehrer erkennen die Vielfalt und Gleichberechtigung aller künstlerischen Ausdrucksformen an.
Diesen Forderungen nachzukommen, erfordert bei Musikerinnen und Musikern erfahrungsgemäß einen grundsätzlichen Umdenkprozess. Instrumental- und Gesangsunterricht ist immer noch vom Meisterklassenprinzip durchdrungen. In einem solchen Unterricht gibt es keine gleichberechtigten Musizierpartnerinnen und -partner. Die Studierenden haben zumeist einen Unterricht erlebt, in dem sie nicht mit dem oder der Lehrenden gemeinsam musiziert haben und auch (noch) nicht als vollwertige Künstlerinnen und Künstler anerkannt wurden.[5]
Auch eine klare Hierarchie des Werts musikalischer Ausdrucksformen scheint unumstritten zu sein. Schon in der Musikschule gibt es den Wettbewerb „Jugend musiziert“, bei dem der Wert von Musik allein durch die Beschreibung des technischen Niveaus der zu spielenden Stücke festgelegt ist. Und neben dem technischen Niveau geht es auch um die fehlende Anerkennung verschiedener Musikstile. Gerade letzte Woche habe ich Studierende abfällig über den Geiger David Garrett sprechen hören: Wie kann er sich mit seinem technischen Können (sein Geigenspiel bei einer Paganini Caprice wird anerkannt) solcher Crossover-Musik widmen? Und dann noch auf einer Stradivari!
Und wenn wir diese Haltung in den Anfängerbereich hineindenken: Das Spielen eines Tons oder das Spielen eines Volkslieds ist für viele meiner Studierenden kein künstlerisches Tun bzw. ein Volkslied keine richtige Musik.
Was meine ich noch mit inklusiver pädagogischer Grundhaltung in unserem künstlerischen Kontext?
Die Lehrerin und der Lehrer beurteilen nicht, sondern haben eine anerkennende Haltung, er oder sie verwandelt Fehler und Störungen in Auslöser für neue produktive Wendungen, er oder sie hat Vertrauen, ist offen und unvoreingenommen und ermöglicht Entfaltung.
Mit diesen Forderungen wird oft die selbst erlebte Lernbiografie der Studierenden auf den Kopf gestellt. Sie haben mehr oder weniger während ihres gesamten Instrumentallebens ein „Richtig“ und „Falsch“ zu hören bekommen. Sie sind jede Woche zum Einzelunterricht gegangen, um dort zu hören, ob sie sauber oder unsauber intonieren, ob sie gerade oder schief streichen, ob der Ansatz gut oder schlecht ist etc. Selbst, wenn Studierende bereits auf höchstem Niveau musizieren, kann es passieren, dass sie nach einer Aufnahmeprüfung gesagt bekommen: „… So kann man doch nicht Bach spielen …“ Und nahezu jede Instrumentalistin und jeder Instrumentalist kennt das Phänomen des Umlernens nach einem Lehrerwechsel. Da fängt man dann, womöglich schon an einer Musikuniversität studierend, quasi wieder von vorne an, weil die Lehrerin oder der Lehrer eine andere Haltungsideologie vertritt.
Das IMP-Team kam zu der Überzeugung, dass unsere in dieser Art geprägten Studierenden mit diesem „Instrumental- und Gesangsunterrichtsrucksack“ so eine pädagogische Grundhaltung nicht theoretisch und durch Hospitation erwerben könnten. Sie müssten zunächst selbst Erfahrungen als Künstlerinnen und Künstler und als mitspielende Musikerinnen und Musiker in einer heterogenen Musiziergruppen machen können. Im Anschluss könnten sie das Erlebte reflektieren. Erst in einem dritten Schritt sollten sie als Lehrende agieren und solcherart Gruppenprozesse initiieren.
Die Studierenden der Anton Bruckner Privatuniversität kommen aus vielen verschiedenen Ländern. Im Studienjahr 2015/16 waren zum Beispiel Studierende aus Burma, China, Deutschland, Finnland, Griechenland, Italien, Japan, Kroatien, Österreich, Schweiz, Serbien, Spanien und der Türkei inskribiert. Sie sind sowohl kulturell und musikalisch als auch pädagogisch unterschiedlich sozialisiert, jede oder jeder kommt mit einer anderen Lernbiografie, jede oder jeder hat andere Erfahrungen mit Lehrenden und Unterrichtsformen gemacht. Die überwiegende Zahl der Studierenden haben ihr instrumentales oder vokales Können im Einzelunterricht vermittelt bekommen.
Diese Heterogenität der Erfahrungsvielfalt wollten wir nutzen: Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, Sängerinnen und Sänger aus den Bereichen Klassik, Jazz und Volksmusik, Dirigenten, Komponistinnen und die Lehrpraxisschülerinnen und -schüler (das sind bei uns je nach Lehrpraxisgruppe Vorschulkinder, Schulkinder, Jugendliche – oft mit hohem Migrantenanteil, unbegleitete Minderjährige aus dem naheliegenden Flüchtlingswohnheim und auch erwachsene Laien) musizieren gemeinsam elementar, um einen inkludierenden Umgang mit der Verschiedenartigkeit der Menschen als Grundvoraussetzung von künstlerischen Gruppenprozessen zu erleben.
Elementares Musizieren – was ist das?
Die Musizierpraxis „Elementares Musizieren“ (Schneidewind 2011) ist eine bedingungsoffene Musizierpraxis. Jede und jeder kann mit den Bedingungen, die sie oder er mitbringt, künstlerisch tätig werden. Die musikalische Verwirklichung der Klangideale ist unterschiedlich. Jede teilnehmende Person schöpft aus dem vorhandenen Potential, um gleichberechtigt im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu agieren. Diese inklusive Musizierpraxis eignet sich für alle Gruppen, ob in der Elementaren Musikpädagogik, im instrumentalen Gruppenunterricht, im Klassenmusizieren, in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung, in der Seniorenarbeit, mit erwachsenen Laien oder professionellen Musikern und Musikerinnen.
Die Musik in dieser Praxis entsteht im Prozess, in dem Moment, in dem sie erklingt und meist ohne Noten, in der Improvisation. Das Leitbild des elementaren Musizierens ist es, jeder und jedem Teilnehmenden einen Platz in der Gruppe zu gewährleisten und eine Atmosphäre und Rahmenbedingungen zu schaffen, in der alle Musizierenden ihre Inputs nach eigenem Wunsch, Können und Ermessen einbringen können. Jede und jeder Einzelne ist wichtig und beeinflusst das individuelle, musikalische Gesamtbild der Gruppe.
Praktisch läuft das zum Beispiel so ab: Nach einem gemeinsamen Warm-up bitte ich diejenigen, die ein Instrument spielen können oder wollen ihr Instrument zu holen. Wir haben dann möglicherweise ein Ensemble mit Saxofon, Cello, Klangstäben, Gesang, Triangel und E-Gitarre. Wir spielen das Lied „Guten Abend, gute Nacht“. Einige können die Melodie nach Gehör mitspielen, andere spielen die Grundtöne der jeweiligen Tonart, wieder andere spielen jeweils auf Eins einen Triangel-Sternenton. Anschließend gebe ich ein paar Traumideen in die Gruppe, die spontan musikalisch umgesetzt werden: Auf einer herrlichen Sonneninsel liegen – verfolgt von einem wilden Tier – auf einem Teppich fliegend – gefangen in düsteren feuchten Höhlen – etc. In kleineren Gruppen entwickeln die Teilnehmenden jeweils eigene Traumideen. Zuletzt werden alle Ideen und das Lied zu einer Traumkomposition miteinander verbunden und musiziert.
Die beschriebene Szene liest sich wohlmöglich gar nicht als etwas Besonderes: Die Teilnehmenden spielen halt das Arrangement eines bekannten Lieds und entwickeln zu vorgegebenen Themen kleine Musikstücke. Für Instrumental-(Gesangs)Studierende allerdings stecken da eine Menge an Herausforderungen drin:
- Ein Lied ohne Noten nach Gehör zu musizieren, ist für viele Studierende der klassischen Musik eine neue Erfahrung und sie bereitet ihnen Angst. Dies wird in folgender Szene deutlich, die sich in einer Lehrveranstaltung abgespielt hat: Ein hervorragender Pianist verweigerte sich bei einer Aufgabe und sagte, er könne nicht ohne Noten spielen. In der Gruppe war auch ein blinder Studierender. Der meinte, er solle sich nicht so anstellen, er selbst würde schon sein ganzes Leben lang ohne Noten Musik machen. (Die Ansage hätte aber genauso gut auch von einem Autodidaktiker aus dem Jazzbereich kommen können).
- Die Grundtöne nach dem Gehör zu einem Lied dazu zu spielen, erfordert vertikales Zuhören. Das ist für Instrumentalistinnen und Instrumentalisten von Melodie-Instrumenten, die meistens allein spielen, eine ungewöhnliche Aufgabe. Die Volksmusikerinnen und -musiker zeigen ihnen, wie das geht: Einfach losspielen, keine Angst vor falschen Tönen, Hauptsache „es foat“. Die Komponistinnen und Komponisten liefern interessante harmonische Wendungen für die jeweiligen Besetzungen.
- Das völlige Fehlen einer Unterweisung und einer Beurteilung von Richtig und Falsch verunsichert die Studierenden. Im Laufe des Semesters nehmen allerdings die Fragen nach einer genauen Aufgabenstellung und einer Beurteilung langsam ab.
- Improvisation ist für die klassischen Musikerinnen und Musiker oft eine große Hürde. Aber einen Traum zu improvisieren, ist sogar für die Jazzerinnen und Jazzer eine Herausforderung. Denn da gibt es keine Pattern oder Skalen, an die man sich halten kann. Da wiederum sind diejenigen, die schon Erfahrung mit Klangerzeugung in moderner Musik haben, im Vorteil.
- Das Spielen im Ensemble ohne Leitung, und daraus folgend Verantwortung für sich selbst und für die anderen Gruppenmitglieder übernehmen zu müssen, ist für viele neu, denn im Orchester gibt es klar hierarchische Strukturen. Und in dieser Gruppe dann eine Musik mit dem Anspruch zu entwickeln, dass jedes Mitglied auf seinem Niveau mitspielen kann, ist vermutlich die größte Herausforderung. Da entstehen plötzlich berührende Momente, wenn der 19-jährige Jazzer aus Oberösterreich der 30-jährigen japanischen Akkordeonistin sagt, sie brauche keine Angst zu haben: Er spielt und sie kann sich an ihn dranhängen.
- Die Verantwortung für die eigene Musik hinsichtlich ihrer expressiven Unmittelbarkeit und Drastik zu übernehmen, erfordert oft ein Schritt über die Schwelle der eigenen Schamgrenze.
Nach dieser gemeinsamen praktischen Erfahrung und dem begleitenden Studieren ausgesuchter Texte zum Thema werfen die Studierenden einen reflektierten Blick auf ihre eigenen künstlerischen und pädagogischen Lernerfahrungen und diskutieren (ohne die Lehrpraxisschülerinnen und -schüler) Konsequenzen für das Handeln als Lehrende.
Und besonders wird der Wert der Musik, die produziert wurde, thematisiert: Zuerst lasse ich sie ihre selbstproduzierte Musik wechselseitig beschreiben und frage: „Könnten wir diese Musik heute Abend im großen Saal der Universität aufführen? Und hier ist ein Wandel der Wahrnehmung und Anerkennung über das laufende Semester festzustellen. Während am Beginn viele die Musizierergebnisse nicht für eine Bühne geeignet finden (technisch zu einfach, selbst produziert, kein anerkanntes Werk, teilweise nur ganz wenige Töne), verändern sich die Kriterien für eine Aufführung zum Ende des Semesters hin zu berührend oder authentisch, und die musikalischen Äußerungen werden ernst genommen und erfahren Wertschätzung.
In den Gesprächen und genauso in den reflektierenden Tagebüchern
sind zarte „Gedankenpflänzchen“ dahingehend zu bemerken, dass die Studierenden
einen Blick über den Tellerrand ihrer eigenen musikalischen Sozialisation
werfen können, ihre eigenen Kompetenzen wahrnehmen und schätzen lernen und neue
künstlerische Erfahrungen in einer heterogenen Gruppe aus Musikerinnen und
Musikern und Nichtmusikerinnen und -musikern zulassen und anerkennen können.
Aus den Tagebüchern
Es war sehr gut zu beobachten, wie aus dieser Gruppe bunt zusammengewürfelter Studenten immer mehr eine Einheit wurde. Verschiedene Instrumente, Institute und Musikrichtungen trafen aufeinander. Im Laufe der Vorlesung wuchsen wir immer mehr zusammen, besonders in den kleinen Ensembles, in denen wir musikalische Aufträge umsetzen mussten, erzielten wir sehr interessante Ergebnisse. Es war angenehm, ohne Noten und Zwänge der Perfektion und mit den verschiedenen Instrumenten etwas Neues zu kreieren. Oftmals überraschten uns die Resultate selbst und man konnte wirklich über seine Grenzen hinauswachsen. Die Herausforderungen in diesen Ensembles lagen vor allem in der Überwindung der eigenen Scham seiner Grenzen. Auch die musikalische Kreativität wurde gefordert. Außerdem war es durchaus spannend, auch die Projekte der anderen Gruppen zu beobachten und auch aus diesen neue Inputs mitzunehmen.
(Ein österreichischer Trip, Klassik)
Im Laufe der Lehrveranstaltung habe ich erkannt, dass ich gar nicht wirklich etwas zu verlieren hatte, dass ich auf meine Fähigkeiten vertrauen kann und auch einfach das beitragen darf, was ich gerade kann. Zentrale Erkenntnis: was jetzt möglich ist, was ich jetzt kann, ist vorerst einmal okay! Das ist ja auch später für meine Schülerinnen und Schüler wichtig. Die Herausforderung des spontanen Musizierens, ein Maximum an eigener Kreativität ins Musizieren einbringen und ein Sich-Einlassen auf das, was im Moment entsteht. Ich bekam Gelegenheiten zu improvisieren und merkte, wie viel Spaß es mir macht, und dass ich da auch Talent dafür hätte.
(Eine spanische Sängerin, Klassik)
Gemeinsam in dieser Gruppe habe ich heute zum ersten Mal erlebt, dass man ohne Angst Musizieren kann.
(Eine chinesische Akkordeonstudierende, Klassik)
Ich habe nicht geglaubt, dass diese verschiedenen Musiker aus Klassik und Jazz gemeinsam Musizieren könnten. Es hatte unglaubliche Qualität und wir haben sogar einen Ohrwurm produziert. Wir hätten auf Tournee gehen können.
(Ein deutscher Gitarrenstudent, Jazz)
Davor dachte ich, dass das nichts für mich wäre, weil ich der Überzeugung war, dass ich das gar nicht könnte. Meine Sorgen diesbezüglich waren aber absolut unbegründet. Ich durfte in der Gruppe eine totale Unbeschwertheit erfahren und habe auch viel über mich selbst gelernt.
(Eine österreichische Sängerin, Klassik)
So eine Lehrveranstaltung bringt jeder Schülerin und jedem Schüler positive Energie und Lust mitzuwirken. Das gemeinsame Musizieren ohne Noten hat mir am besten gefallen und hat mir gezeigt, wie wichtig Teamwork sein kann. Die gesamte Lehrveranstaltung ‚Elementares Musizieren‘ wird mir sehr viel für meine Zukunft bringen, da ich verschiedene Dinge anders sehe und anders angehe und ich vor allem sehr viel dazu gelernt habe. Ich sehe die Welt anders!
(Ein serbischer Schlagzeuger, Jazz)
Wir haben letztlich auch den Lehrveranstaltungstitel im Studienplan verändert. Er heißt nun „Elementares Musizieren – Inklusive Pädagogik“. Man wird also bei der nächsten Reakkreditierung gleich erkennen können, worum es in der Lehrveranstaltung geht.
Und wir Kolleginnen und Kollegen arbeiten weiter intensiv daran, unseren exzellenten Studierenden zu vermitteln, dass das Zulassen von Vielfalt ihren zukünftigen Beruf um einiges aufregender und attraktiver machen wird – nämlich vor allen Dingen für sie selbst!
[1] Der Text führt Gedanken weiter, die bereits in dem Artikel „‚Ich sehe die Welt anders!‘“ Vom Versuch, die Heterogenität von Studierenden und LehrpraxisschülerInnen als Beispiel für Inklusion zu nutzen“ veröffentlicht worden sind (Wüstehube 2016: 22–25).
[2] Da der vorliegende Text ursprünglich vorgetragen wurde, versuche ich, in dieser Publikation den Charakter des gesprochenen Wortes beizubehalten.
[3] „Kreatives Musikgestalten“ ist der Titel für den elementareren Musikunterricht für Menschen mit Behinderung an oberösterreichischen Musikschulen. Dieses Fach gibt es seit über 20 Jahren.
[4] Eine zusätzliche verpflichtende theoretische, exklusive Lehrveranstaltung „Inklusion“ konnte unserer Ansicht nach dem Thema nicht gerecht werden. Die Studierenden haben ohnedies viele ergänzende Veranstaltungen. Und insgeheim denken viele, dass sie das Thema „Inklusion“ als zukünftige Instrumentallehrerinnen und -lehrer nichts angeht.
[5] Dazu passt der im Instrumentalunterricht oft gehörte Satz: „Zuerst muss man die Technik des Instruments erlernen und später kann man Musik machen.“
Weitere Informationen:
Literatur
- Prengel, Annedore (1993): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Schneidewind, Ruth (2011): Die Wirklichkeit des Elementaren Musizierens. Wiesbaden: Reichert Verlag.
- Wüstehube, Bianka (2016): „‚Ich sehe die Welt anders!‘ Vom Versuch, die Hete-rogenität von Studierenden und LehrpraxisschülerInnen als Beispiel für In-klusion zu nutzen“. In: Üben & Musizieren, 1 (16), S. 22–25.