Seit 2016 wird an der Musikhochschule (MH) Trossingen das Seminar „Theater mit Musik – Inklusion im künstlerisch-pädagogischen Kontext“ des Fachbereichs Music & Movement unter der Leitung von Prof. Dr. Dierk Zaiser angeboten. Es wird von Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen der Musikhochschule und Erwachsenen mit geistiger Behinderung[1] aus der näheren Umgebung besucht.
Ende 2017 erhielt die Autorin dieses Beitrags Julia Wernicke, Diplom-Rhythmikerin und Gebärdensprache Bachelor of Arts, das an das Seminar gebundene, über 18 Monate laufende Promotionsstipendium der Aktion Mensch e. V. Als beobachtende Forscherin übernimmt sie keine aktiv gestaltende Rolle. Betreut wird ihr Promotionsvorhaben von Prof. Dr. Alexander Cvetko (Universität Bremen) und Prof. Dr. Christina Zenk (MH Trossingen). Die enthaltene Studie befindet sich noch in der Auswertung. In diesem Artikel werden daher keine Ergebnisse vorgestellt, sondern Aufbau, Ziel und Relevanz der Untersuchung beschrieben.
Leitend für die Forschungsstudie ist der Grundgedanke des Religionsphilosophen Martin Buber (1923/1983: 28): „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Auch wenn Buber keinen Bezug zu Lerntheorien herstellt, so spiegelt seine Aussage doch eine konstruktivistische Grundhaltung wider. Dieser Denkweise folgend ist die Wirklichkeit und damit die Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsweise nicht objektiv, sondern ergibt sich aus einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die einen starken Subjektbezug aufweisen (vgl. Reich 2001). Zu ihnen gehören auch Interaktionserfahrungen (vgl. ebd.: 366). Diese finden bei „Theater mit Musik“ zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung statt.
Die Entwicklung der Forschungsfrage fand in Anlehnung an das Seminarkonzept statt. Im Zeitraum der Datenaufnahme besuchten elf Männer und Frauen mit geistiger Behinderung sowie neun Studentinnen und Studenten das Seminar „Theater mit Musik“ regelmäßig.[2] Eine Bachelorstudentin des Studiengangs Music & Movement übernahm in Vorbereitung auf ihre Prüfungsleistung im Pflichtmodul „Didaktik/Methodik Erwachsene“ die Leitung der Gesamtgruppe. Im Falle ihrer Verhinderung übernahm der Projektleiter die Gruppenphase. Damit schafft das Seminar für Studierende aller Fachrichtungen Möglichkeiten zum Praxiserleben im Rahmen eines Lehrmoduls. Studierende pädagogischer Studiengänge erlangen zudem Erfahrungen für die eigene Lehrtätigkeit durch die Leitung der Gruppe oder das Erleben von Lehrpraxis im Sinne eines Modelllernprinzips. Die Teilnehmenden mit Behinderung besuchen das Seminar im Rahmen ihrer Freizeitaktivität (vgl. Zaiser 2017: 17).
Es wird daher untersucht, welche Entwicklungspotenziale sich für die aktiv an einem mixed-abled (fähigkeitsgemischten)[3] musikpädagogischen Studienseminar teilnehmenden Studierenden ergeben. Dabei wird versucht, die gesamte Breite an Entwicklungsmöglichkeiten zu erfassen und sich nicht auf Potenziale im Interaktionsbereich mit Menschen mit Beeinträchtigung zu beschränken. Die Studie schließt damit eine Forschungslücke im Bereich der Musikpädagogik und Inklusion. Bevor dies näher ausgeführt wird, bedarf zunächst der Begriff Entwicklungspotenzial einer Erklärung: Nach den Erziehungswissenschaftlern Heinz-Elmar Tenorth und Rudolf Tippelt (vgl. 2007: 191, Sp. 1) betrachtet Entwicklungsforschung in einem weiten Verständnis jene miteinander in Zusammenhang stehenden Veränderungen, die bestimmten Einflüssen im Lebenslauf einer Person zuzuordnen sind. Zudem verweisen die Autoren im Hinblick auf interindividuelle Unterschiede auf das Verständnis des Menschen als „Produzent seiner eigenen Entwicklung“ (ebd.). Der genannten Bedingung von Entwicklungsforschung als Betrachtung über die gesamte Lebensspanne (vgl. ebd., Sp. 2) kann diese Forschungsarbeit nicht entsprechen, da sie nur einen kurzen Lebensabschnitt von einem Semester untersucht. In der Studie werden folglich die Entwicklungseinflüsse herausgearbeitet und hinsichtlich darin liegender Potenziale (i. S. des lat. potentia: Macht, Vermögen) ausgewertet. Die Einschränkung des Forschungsgegenstands auf Studierende ergibt sich u. a. durch die übergeordnet bestimmende Einbindung in die Modulstruktur der Hochschule als Lehrprobenpraxis.
Zum anderen wird hinsichtlich universitärer Lehre gefordert, Lehrangebote als erlebte Inklusion zu gestalten (z. B. bei Plate 2016). Den interaktionspädagogischen Angeboten der Musikpädagogik wird diesbezüglich eine besondere Bedeutung zugeschrieben, welche bislang jedoch nur durch Erfahrungsberichte oder auszugsweise wiedergegebenen Tagebüchern von Studierenden belegt ist (z. B. bei Gehrs 2016; Kuhnke/Diehl/York 2016; Quinten 2015). Eine Ausnahme bildet der von Angelika Holzer (2018) veröffentlichte Artikel über ein Tanzprojekt mit Grundschülerinnen und -schülern „with special needs“ und Studierenden der pädagogischen Hochschule Steiermark. Den Einfluss der Teilnahme am Tanzprojekt auf die studentischen Fähigkeiten zur Interaktion und Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen (vgl. ebd.: 223f.) ermittelte die Autorin durch eine Inhaltsanalyse der schriftlichen und mündlichen Aussagen von 54 Studierenden (vgl. ebd.: 238f.). Da ergänzende Angaben wie Beispielaussagen oder inhaltliche Erläuterungen der von ihr ermittelten Kategorien fehlen, ist die Nachvollziehbarkeit des Berichts nur eingeschränkt möglich und lässt Fragen offen. Nichtsdestotrotz wertet Holzers Evaluationsbericht erstmalig die Perspektive von Musikhochschul-Studierenden aus, beschränkt sich dabei jedoch auf den Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung.
Um in der an „Theater mit Musik“ angebundenen Studie Einflussfaktoren und Entwicklungspotenziale zu erfassen, wird ein qualitatives Forschungsdesign gewählt. Cornelia Helfferich (vgl. 2011: 21f.) benennt als übergeordnete Zielsetzung qualitativer Forschung das Verstehen eines Forschungsgegenstands durch Rekonstruktion von Sinnstrukturen im Gegensatz zu einem quantitativen Messen. Weiter formuliert die Autorin zudem die Unmöglichkeit objektiver Wirklichkeiten (vgl. ebd.: 22), was der Grundannahme des Konstruktivismus entspricht, auf der auch die durchgeführte Studie aufbaut.
Interaktion spielt damit in mehrfacher Hinsicht in dieser Forschung eine übergeordnete Rolle: 1) Das gemeinsame Erleben von Menschen mit und ohne Behinderung wird als entscheidender Einflussfaktor auf die Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsweise der Studierenden angenommen. 2) Zudem benennt Helfferich bereits die in einer qualitativen Forschung zu rekonstruierende soziale Wirklichkeit als eine „interpretierte, gedeutete und damit interaktiv ‚hergestellte‘ und konstruierte Wirklichkeit“ (ebd.). Äußerungen seien damit zwar variabel, aber nicht beliebig, sondern basieren auf einem Grundkonzept oder Grundmuster. Dieses könne durch qualitative Forschung erfasst werden könne (vgl. ebd.). Sowohl Äußerungen bspw. in Interviews als auch Interpretationsprozess des Forschenden sind damit als Ergebnisse von Interaktionshandlung(-en) zu verstehen.
Die
Körpersoziologie differenziert „Wissen“ in unbewusst-implizites und
bewusst-reflexives Wissen (vgl. Böhle 2017: 144). Um beide Arten zu erfassen,
werden leitfadengestützte Interviews, die von einem hohen narrativen Anteil
geprägt sind, und videografische Aufzeichnungen jeder Seminarsitzung über den
Zeitraum des Beobachtungssemesters herangezogen. Beide methodischen Zugänge
werden als Triangulation (vgl. Flick 2011) ausgewertet. Für die Auswertung
werden zunächst die sechs geführten Interviews inhaltsanalytisch nach Udo Kuckartz
(vgl. 2014) strukturiert und zusammengefasst. Die dabei erarbeiteten
Kategorien werden anschließend an das Videomaterial angelegt und in die bereits
bestehenden Kategorien subsummiert bzw. ergänzen oder erweitern diese.
Das Promotionsvorhaben erfasst damit erstmalig umfassend den Mehrwert für Studierende durch den Besuch eines mixed-abled Seminars an einer Musikhochschule. Die Auswertung der Studie ist noch nicht abgeschlossen. Bereits jetzt sind jedoch Potenziale in verschiedenen Bereichen zu erkennen, welche sich auf Lehr- und Praxiserfahrungen gleichermaßen zurückführen lassen. Einige davon decken sich mit den Vermutungen und dem Wissen der musikpädagogischen Forschungsliteratur. Andere zeigen neue und unerwartete Erkenntnisse auf.
Literatur
- Böhle, Fritz (2017): Wissen. In: Gugutzer, Robert/Klein, Gabriele Klein/Meuser Michael (Hrsg.): Handbuch Körpersoziologie, Bd. 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, S. 143-147.
- Buber, Martin (1923/1983): Ich und du. Mit einem Nachwort von Bernhard Casper. 11., durchges. Aufl. Heidelberg: Reclam.
- Flick, Uwe (2011): Triangulation. Wiesbaden: Springer.
- Gehrs, Vera (2016): Persönlichkeit in Bewegung. Konzeption und Anwendung eines musik- und bewegungsorientierten diagnostischen Instruments für die Grundschule. Osnabrück: Electronic.
- Helfferich, Cornelia (2011): Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/Springer.
- Holzer, Angelika (2018): Let’s Dance Together! Students and Children in a Mixed-abled Project. In: Haugen, Torgeir/Skjerdingstad, Kjell Ivar (Hrsg.): Children and Young People, Aesthetics and Special Needs. An Interdisciplinary Approach. Oslo: Vidarforlaget, S. 223-240.
- Kuckartz, Udo (2014): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 2., durchges. Aufl. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
- Kuhnke, Yvonne/Diehl, Lis Marie/York, Jan (2016): Mehr DOMOkratie wagen. Chancen inklusionssensibler Lernformate. In: Dannenbeck, Clemens/Dorrance, Carmen/Moldenhauer, Anna/Oehme, Andreas/Plate, Andrea (Hrsg.): Inklusionssensible Hochschule. Grundlagen, Ansätze und Konzepte für Hochschuldidaktik und Organisationsentwicklung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 237-252.
- Plate, Elisabeth (2016): Lehrer_innenbildung für Inklusion braucht Lehrer_innenildung durch Inklusion. In: Dannenbeck, Clemens/Dorrance, Carmen/Moldenhauer, Anna/Oehme, Andreas/Plate, Andrea (Hrsg.): Inklusionssensible Hochschule. Grundlagen, Ansätze und Konzepte für Hochschuldidaktik und Organisationsentwicklung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 194-214.
- Quinten, Susanne (2015): Einstellung in Bewegung. Kann Tanzkunst helfen, Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung zu verändern? In: Zeitschrift für Inklusion, 4. https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/246 [Zugriff: 13.12.2019].
- Quinten, Susanne (2018): Teilhabe im Tanz. In: Quinten, Susanne/Rosenberg, Christiana (Hrsg.): Tanz – Diversität – Inklusion. Jahrbuch TanzForschung 2018. Bielefeld: transcript, S. 135-155.
- Reich, Kersten (2001): Konstruktivistische Ansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften. In: Hug, Theo (Hrsg.): Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Bd. 4. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 356-376. http://konstruktivismus.uni-koeln.de/reich_works/aufsatze/reich_34.pdf [Zugriff: 12.12.2019].
- Tenorth, Heinz-Elmar/Tippelt, Rudolf (Hrsg.) (2007): Beltz Lexikon Pädagogik. Weinheim: Beltz.
- UN (United Nations) (2016): Convention on the Rights of Persons with Disabilities, General comment No. 4 on the right to inclusive education, CRPD/C/GC/4 (Abs 39). https://www.right-to-education.org/resource/general-comment-4-article-24-right-inclusive-education [Zugriff: 27.03.2020].
- Zaiser, Dierk (2017): Rhythmik und Inklusion – Förderung eines Lehrforschungsprojekts. In: Rhythmik. Musik und Bewegungspädagogik, 53, S. 16-18.
[1] Die Verwendung des Begriffs Behinderung basiert auf der Grundlage des Förderantrags (unv.) des Seminars. Der Verwendung in diesem Artikel basiert auf dem Verständnis von Behinderung nach der UN-BRK, welche die Rechte von Menschen mit Behinderung auf supranationaler Ebene regelt. Hierin gelten all jene Menschen als behindert, die aufgrund von langfristigen körperlichen, geistigen, seelischen oder Sinnesbeeinträchtigungen durch Barrieren an einer vollen und wirksamen Teilhabe behindert werden (vgl. UN 2016, Art. 1).
[2] Neben den aktiven Teilnehmenden gab es auch passiv Beteiligte. Letztere spielten für die Studie keine Rolle. Wird im weiteren Verlauf des Artikels von „Studierenden“ gesprochen, sind damit ausschließlich die aktiv Beteiligten gemeint.
[3] Der mixed-abled Dance bezeichnet eine Tanzform, die von Tänzerinnen und Tänzern mit und Behinderung gemeinsam gestaltet wird (vgl. Quinten 2018: 140f.). Die deutsche Übersetzung „fähigkeitsgemischt“ wird im Fall der Forschungsarbeit auch für die gemischte Teilnehmendengruppe im Rhythmikseminar „Theater mit Musik“ verwendet, obwohl sich das Seminar nicht auf die Tanzform bezieht.
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