EUCREA, Verband Kunst und Behinderung e. V., hat im Sommer 2018 ein Positionspapier unter dem Titel „Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb in Deutschland – Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung sichtbar machen“ veröffentlicht. Das Papier beinhaltet eine Beschreibung der Situation von Künstlerinnen und Künstlern mit einer Beeinträchtigung, die Einordnung der Dimension Behinderung in die aktuell geführte Diversitätsdebatte und die mögliche Übertragbarkeit des englischen Modells des „Creative Case for Diversity“ (Arts Council England) auf die Situation in Deutschland.
Für mehr Diversität im Kulturbetrieb
Darüber hinaus werden kulturpolitische Forderungen aufgestellt, die sich auf eine Öffnung von Ausbildungs- und Arbeitsangeboten für Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung, auf eine Verbesserung der Förderbedingungen und der Wahrnehmung ihrer Werke in der Öffentlichkeit beziehen.
Der Arts Council in England hat mit dem Creative Case of Diversity ein auf zehn Jahre angelegtes Strukturprogramm angelegt und finanziell ausreichend ausgestattet, welches zum Ziel hat, spezifische Gruppen zu fördern, die bislang im Kultursektor unterrepräsentiert sind (u. a. auch Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung). Der Creative Case for Diversity hat darüber hinaus die künstlerisch-kreative Dimension, die eine Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb hervorruft, zum Thema gemacht. Mittelvergabe und Förderentscheidungen sind an den Nachweis gebunden, unterrepräsentierten Gruppen Zugänge zu geplanten Angeboten zu verschaffen. Besonders große Kulturinstitutionen, die staatlich gefördert werden, sind davon betroffen. Grundsätzlich werden alle Daten, die die Förderungen und damit alle Erhebungen darüber betreffen, veröffentlicht. Diversität wird in diesem Programm als großer Vorteil erkannt: Die künstlerische Qualität wird erweitert, mehr Zielgruppen erreicht und neue Arbeitsformen durch mehr Experimentierfreude entwickelt. Für die Umsetzung hat sich der Arts Council mehrere Instrumentarien überlegt: unter anderem Druck von oben auf die öffentlich geförderten Einrichtungen und Projekte (Barrierefreiheit, Diversität im Programm, Publikum und Personal) auszuüben; mehr internationale Kooperationen und mehr Wettbewerb in diesem Bereich; die Veröffentlichung von Kennzahlen, wie hoch der Anteil an Diversität in jedem Bereich einer Kulturinstitution ist und die Sensibilisierung und Weiterbildung des Personals.
Ziel des Positionspapieres von EUCREA war, Kunst- und Kultureinrichtungen, Politik und Verwaltung in Deutschland zum Umdenken anzuregen und eine verbesserte Infrastruktur in Bezug auf Arbeit und Ausbildung zugunsten von Künstlerinnen und Künstlern mit Beeinträchtigung einzufordern. Ausschlüsse auf verschiedenen Ebenen sind dafür verantwortlich, dass Kreative mit Beeinträchtigung in privaten und öffentlichen Kultureinrichtungen bislang wenig zu finden sind – weder im künstlerischen Betrieb noch in der Rolle der Kulturvermittelnden.
Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung sollen im etablierten Kulturbetrieb ihren Platz haben – nicht nur, weil sie einen großen Bestandteil der Bevölkerung ausmachen, sondern auch, weil sie die künstlerische Vielfalt in Deutschland stärken. Die Vision einer diversitätsbasierten Kulturlandschaft betrifft nicht allein neue Akteurinnen und Akteure im künstlerischen Betrieb, in Personalstrukturen und im Publikum, sondern künstlerische Inhalte und Formen sowie den Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.
Ausbildungsangebot und Qualifizierung für Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung
Eine Ursache für die mangelhafte Inklusion von Künstlerinnen und Künstlern mit Beeinträchtigung im deutschen Kulturbetrieb ist, dass sie und künstlerisch talentierte Menschen mit Beeinträchtigung, die sich außerhalb der Behindertenhilfe beruflich qualifizieren wollen, bisher kaum Angebote hierfür finden. Das bestehende Ausbildungsangebot in Deutschland, sei es nun an künstlerischen Hochschulen oder anderen beruflich orientierten Institutionen, ziehen viele für sich nicht in Betracht – die Anforderungen scheinen zu hoch, es bestehen Befürchtungen, Lerninhalte und Prüfungen aufgrund der Behinderung nicht absolvieren zu können. So bleibt für diese Gruppe meist nur die Möglichkeit, Künstlerarbeitsplätze innerhalb der Behindertenhilfe zu nutzen oder an Angeboten im Hobby- und Freizeitbereich teilzunehmen. Bei den wenigen – beruflich außerhalb der Behindertenhilfe aktiven – Künstlerinnen und Künstlern handelt es sich meist um geniale Autodidaktinnen und Autodidakten, die über ein starkes soziales Umfeld verfügen.
Künstlerische Ausbildungsinstitute – ob privat oder öffentlich – haben häufig wenig Berührungspunkte mit Interessierten mit Behinderung, da es meist gar nicht erst zu einer Bewerbung kommt. Weder bei den Lehrenden noch bei den Studierenden liegen inklusionsspezifische Erfahrungen vor.
Um mehr Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb erreichen zu können, ist EUCREA der Ansicht, dass für die Zielgruppe zunächst der Zugang zu Ausbildung und Qualifizierung qualitativ und quantitativ verbessert werden muss. Finden Ausbildung und Qualifizierung bereits in exkludierenden Strukturen statt, wird der spätere Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit zusätzlich erschwert. Die qualitative Verbesserung von Bildungschancen, in der die Zielgruppe ihre Talente adäquat ausbilden kann, ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer inklusiven Gesellschaft.
EUCREA zielt mit dem geplanten Programm ARTplus darauf ab, keine neue „zielgruppenspezifische Ausbildungslandschaft“ aufzubauen, sondern die vorhandene so zu modifizieren, dass sie für mehr Menschen zugänglich wird. Über das Programm sollen viele am Prozess einer inklusiven Gesellschaft beteiligten Akteurinnen und Akteure zusammengebracht werden. Bereits im ARTplus-Programm 2015 bis 2017 in Hamburg konnte die Erfahrung gemacht werden, dass Vermittlungsprojekte notwendig sind, um Parallelwelten durchlässiger werden zu lassen. Durch das gegenseitige Kennenlernen und die regelmäßige Abstimmung gemeinsamer Handlungsabläufe entsteht eine kontinuierliche Zusammenarbeit.
Eine andere Form der Verbindung wird von EUCREA gerade im Projekt CONNECT – Kunst im Prozess (2018 bis 2020) erprobt. Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes wurden in drei Bundesländern Kooperationen zwischen Kulturinstitutionen (Schauspielhäusern, Museen, Kunstvereinen) und Künstlergruppen aus der Behindertenhilfe angebahnt, die in einem Zeitraum von zwei Jahren modellhaft künstlerische Maßnahmen durchführen, an denen beide Gruppen partizipieren. Am Ende wird eine Dokumentation über das Projekt stehen und ein Summit, in dem die gemachten Erfahrungen ausgetauscht werden. Es ist schon heute absehbar, dass einige der Kooperationen weitergeführt werden und ihre Verstetigung in der Kulturinstitution erfahren werden.
In der Vergangenheit konnte EUCREA mehrfach Lösungsansätze zum Thema Ausbildung im deutschsprachigen Raum beobachten, die aus der Sicht des Verbands folgende Problematiken aufweisen:
- Sie wurden im Rahmen der Behindertenhilfe angesiedelt.
- Sie wandten sich ausschließlich an Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung.
- Sie wurden aufgrund fehlender finanzieller Mittel wieder aufgegeben.
Das Strukturprogramm ARTplus 2020 bis 2025
An dem geplanten Ausbildungs- und Qualifizierungsprogramm für Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung werden sich fünf Bundesländer beteiligen: Die Freie und Hansestadt Hamburg, das Land Nordrhein-Westfalen, das Land Hessen, die Freie Hansestadt Bremen und das Bundesland Berlin. In jedem Bundesland wird jeweils eine Koordinationsstelle eingerichtet, die an eine Institution angeschlossen ist. Bereits im Vorfeld haben diese in Zusammenarbeit mit der Projektleitung in Hamburg Kooperationen mit jeweils drei künstlerischen Ausbildungsinstitutionen pro Bundesland angebahnt. Dabei handelt es sichum Kunst- und Designhochschulen, Tanz- und Theaterakademien sowie Konservatorien und Musikhochschulen.
Bei Projektbeginn wird zusammen mit den künstlerischen Ausbildungsinstitutionen am Aufbau von Zwischenebenen im Ausbildungsbetrieb gearbeitet und für jeden potenziellen Interessierten ein passgerechtes Angebot entwickelt. Ziel ist dabei die Erreichung von dauerhaften Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit unterschiedlicher Behinderung am bestehenden Ausbildungs- und Qualifizierungsangebot in allen künstlerischen Disziplinen.
Möglichkeiten der Partizipation an einem künstlerischen Studiengang können sein: Kurse und Workshops, temporäre Teilnahme an Angeboten der Hochschule, Gasthörerschaften, Probesemester, Bildungsbausteine, Vollstudium und im späteren Projektverlauf betriebliche Praktika in Kulturinstitutionen für einzelne Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Das Programm wird wissenschaftlich begleitet und ausgewertet, Handlungsempfehlungen werden für weitere Hochschulen veröffentlicht. Begleitet wird das Programm von Tagungen, auf denen Ergebnisse vorgestellt werden, um anderen interessierten Hochschulen und Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung ein Forum zu bieten.
Ziele
Das Programm zielt darauf ab, dass Ausbildungsinstitutionen ihr Angebot aktiv Menschen mit Beeinträchtigung zur Verfügung stellen und die vorhandene Situation von kein Angebot – keine Nachfrage verändert wird.
Gegenseitiges Lernen ist das Motto des Strukturprogramms ARTplus. Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung sollen am Ausbildungsbetrieb teilhaben können, institutionelle Grenzen verwischt werden, in dem Studierende ohne Beeinträchtigung in den schon vorhandenen Ateliers und Theaterwerkstätten von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung partizipieren, sich dort inspirieren lassen und gemeinschaftlich künstlerisch produzieren. Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung erhalten somit Kontakt zu anderen künstlerischen Szenen außerhalb ihrer Einrichtungen.
Die Einbeziehung von Künstlerinnen und Künstlern mit Beeinträchtigung soll die Ausbildungsinstitutionen zu mehr Methodenvielfalt in der Vermittlung anregen. Unterschiedliche Voraussetzungen sollen als Quelle kreativer Auseinandersetzung von Lehrenden und Mitstudierenden begriffen werden. Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung werden durch die Einbeziehung in den Studienbetrieb sowie betriebliche Praktika in Kulturinstitutionen zunehmend für die Öffentlichkeit sichtbar.
Veränderungen für die Zielgruppe
Die am Programm beteiligten Künstlerinnen und Künstler erhalten häufig erstmals die Möglichkeit, an künstlerischer Bildung außerhalb der Behindertenhilfe in einem professionellen Rahmen teilzunehmen. Dies unterstützt sie darin,
- ihre künstlerische Ausdrucksfähigkeit zu steigern,
- Methoden-Know-how zu erlangen und sich Fertigkeiten und Fähigkeiten anzueignen,
- ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion weiterzuentwickeln,
- ein eigenes künstlerisches Profil herauszubilden,
- ggf. Zertifikate oder Ausbildungsabschlüsse zu erreichen.
Möglich ist auch, dass durch die Teilnahme an dem Programm für einzelne Personen ein konkreter Statuswechsel erreicht werden kann, z. B.:
- Eine bisher in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) tätige Person erlangt durch eine reguläre Immatrikulation den Status eines oder einer Studierenden/Auszubildenden.
- Eine bisher in einer WfbM tätige Person erhält einen Außenarbeitsplatz in einer Kulturinstitution.
- Eine bisher in einer WfbM tätige Person wird Angestellte oder Angestellter auf dem ersten Arbeitsmarkt, indem eine Kulturinstitution sie über das Budget für Arbeit beschäftigt.
- Die Qualifizierung einer Person, die keine berufliche Tätigkeit in einer WfbM anstrebt, kann anstatt im Berufsbildungsbereich über das persönliche Budget in einer Kulturinstitution betrieblich qualifiziert werden.
Prinzipiell geht es darum, Menschen mit Beeinträchtigung nicht hinsichtlich ihrer Defizite, sondern hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zu beurteilen. Das Programm soll zur Emanzipierung von Menschen mit Beeinträchtigung beitragen und diesem Personenkreis eine Lebensalternative jenseits von „Behütung“ und Fremdbestimmung inmitten der Gesellschaft ermöglichen. Das Programm soll dazu beitragen, dass ein gesellschaftlicher Konsens entsteht, der Verschiedenartigkeit als etwas Positives begreift und das Potenzial darin erkennt. Um dies überzeugend vermitteln zu können, müssen Menschen mit Beeinträchtigung allerdings auch erst einmal die Möglichkeit erhalten, ihre Talente adäquat ausbilden zu können, genau wie Menschen ohne Beeinträchtigung.
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