Die 4. Netzwerktagung des von der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien geförderten Netzwerks „Kultur und Inklusion“ widmete sich in der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW dem Thema „Kultur oder Soziales?“.
Seit seiner Gründung hat sich das Netzwerk zur Aufgabe gemacht, für die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung einzutreten und dabei nicht nur die Rezeption, sondern auch die künstlerische Produktion – hier auch die professionelle künstlerische Produktion – in den Blick zu nehmen.
Zur Genese des Tagungsthemas
In den vorangegangenen Netzwerktagungen wurde immer wieder deutlich, dass künstlerische Produktionen von Menschen mit Beeinträchtigung nicht im Fokus der klassischen Kultureinrichtungen und der Kulturförderung stehen, sondern vielfach von sozialen Verbänden aus sozialen Fördertöpfen finanziert werden. Daher wollte sich die 4. Netzwerktagung explizit mit den künstlerischen Qualitäten inklusiv ausgerichteter Kunst auseinandersetzen. Folgende Fragen sollten dabei fokussiert werden:
Was muss eine Kunstproduktion von und zusammen mit Menschen mit Beeinträchtigung leisten, damit sie vom Kulturetat und nicht von Fördermitteln des Sozialreferats gefördert wird? Ist Kunst weniger professionell, wenn sie von Menschen mit Behinderung produziert wurde und wird? Oder hat Kunst nicht sogar eine besondere Qualität, wenn sie Heterogenität in Beteiligung und Perspektiven ermöglicht? Müssen im Kontext Kultur und Inklusion neue Qualitätsmerkmale und Förderkriterien entwickelt werden? Oder sind die bestehenden Kriterien des Kulturbetriebs übertragbar?
Zum Bild der Künstlerin oder des Künstlers in unserer Gesellschaft
Ein möglicher Grund für die Finanzierung von Kunstproduktionen von Künstlerinnen und Künstlern mit Beeinträchtigung durch soziale und nicht kulturelle Fördermittel liegt auch im Blick auf Menschen mit Beeinträchtigung und in der Einschätzung ihrer Produktionen. Ist der Künstler, ist die Künstlerin „defizitär“ – ist es dann auch das Werk?
Aus dieser Perspektive stellt sich die berechtigte Frage: Wird das Bild der oder des Kunstschaffenden oder des Genies in der Gesellschaft mit dem Merkmal der Unversehrtheit verknüpft? Ist für die gesellschaftliche Anerkennung einer Künstlerin oder eines Künstlers die körperliche und geistige Unversehrtheit Voraussetzung? Und wird eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung bei Künstlerinnen oder Künstlern nur dann akzeptiert, wenn diese eintreten, nachdem der oder die Kunstschaffende schon Anerkennung und Berühmtheit erlangt hat? Warum wird beispielsweise bildenden Künstlerinnen und Künstlern mit körperlicher Beeinträchtigung, die ihre handwerkliche Arbeit nur mit Assistenz ausführen können, professionelle Anerkennung oder beispielsweise der Besuch einer Kunsthochschule versagt? Umgekehrt wird das Werk eines anerkannten Künstlers wie Jörg Immendorff, der in späten Jahren aufgrund des Nervenleidens ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) seine Kunst ausschließlich mithilfe einer Assistenz aufs Papier dirigierte, nicht infrage gestellt.
Der Mythos von Genie und Wahnsinn – wo sind hier Grenzen?
Der Mythos vom Künstler oder von der Künstlerin zwischen Genie und Wahnsinn manifestierte sich vor allem in der Romantik bzw. Sturm- und Drangzeit. Ein möglicher Grund für die Etablierung dieses Mythos in dieser Epoche wird unter anderem darin gesehen, dass Kunstschaffende eine „Identitätskrise“ und das Bedürfnis der Abgrenzung gegenüber dem Bürgertum hatten, das aus Liebhaberei selbst künstlerisch aktiv wurde (vgl. Baudson 2008a). Eine weitere Abgrenzungsstrategie bestand in dem Mythos der „dionysisch-göttlichen Inspiration“ des Künstlers oder der Künstlerin. Helga de la Motte-Haber verweist dabei auf die Praxis „einer Ästhetik, die die Kunst zum Religionsersatz machte und den Künstler als Propheten und Märtyrer erscheinen lassen musste. […] Er wird gezeigt als ein Sich-berufen-Fühlender, ein ständig Ringender, der nicht selten dem Wahnsinn verfällt […].“ (de la Motte-Haber 1996)
In der Tat gab und gibt es bis heute immer wieder Untersuchungen in der Psychologie zu dem Zusammenhang zwischen künstlerisch-kreativem Schaffen und Geisteskrankheiten(vgl. Baudson 2008b; Redfield Jamison 1993; Sass 2001) – nicht zuletzt angesichts zahlreicher Beispiele von Künstlerinnen und Künstlern, die in ihrem Biografie-Verlauf als psychisch krank charakterisiert bzw. diagnostiziert wurden, wie Robert Schumann, Vincent van Gogh, Friedrich Hölderlin, Edvard Munch, Edgar Allen Poe und viele mehr. Es stellt sich daher die kritische Frage, warum nur in Ausnahmefällen Menschen mit Beeinträchtigung oder psychischen Erkrankungen heute ein Künstlerstatus eingeräumt wird. Eine der wenigen Ausnahmen bildete das künstlerisch-kreative Schaffen von Adolf Wölfli, der die psychoanalytische These stützen sollte, „dass eine psychische Krankheit das schöpferische Potenzial in einem Menschen freisetzen könne, also ‚Kunst die Sublimierung von Triebimpulsen sei‘“ (de la Motte-Haber 1996: 334f.; vgl. auch Bullerjahn 2004). Dass Kunst eine Triebfeder sei, sich mit den eigenen „Defiziten“ auseinanderzusetzen, vertrat auch Bazon Brock, der auf der 4. Netzwerktagung referierte und die These vertrat: „[…] für Künstler galt und gilt die Aufforderung, die eigenen Defizite zu bewirtschaften und eingeschränkte Fähigkeiten, welcher Art auch immer, durch Schöpfungswillen zu kompensieren“ (vgl. Brock 2018).
Ist das Künstlerbild oder das Kunstwerk Ausgangspunkt der Bewertung?
Analysen von Biografie-Verläufen zeigen, dass bereits anerkannte Künstlerinnen und Künstler bei Eintreten einer Beeinträchtigung der Künstlerstatus nicht aberkannt wird. Umgekehrt ist daher nicht nachvollziehbar, dass Menschen mit geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung bis heute Schwierigkeiten haben, als Kunstschaffende anerkannt zu werden und öffentliche Kunstförderung zu erhalten. Möglicherweise existiert innerhalb der Gesellschaft immer noch ein stereotypes Bild des genialen Künstlertums, das von Merkmalen der Geschichtsschreibung des Bürgertums geprägt ist – wie Männlichkeit, Armut, Schwierigkeit im Umgang mit Menschen und dem alltäglichen Leben sowie möglicherweise körperlicher und geistiger Unversehrtheit. So stellt auch der Psychologe Robert Weisberg hierzu fest (1989: 118f.): „Anders das Genie – hier handelt es sich um eine Eigenschaft, die dem Künstler durch die subjektive Reaktion eines Publikums zugeschrieben wird.“
Die Musikwissenschaftlerin Claudia Bullerjahn vertritt die These, dass stereotype Künstlerbilder möglicherweise deshalb für die Anerkennung als Künstlerin oder Künstler in der Bewertung wichtig sind, da es so schwierig ist, objektive Qualitätskriterien für Kunstwerke aufzustellen (vgl. Bullerjahn 2004). Sie verweist unter anderem auf die Kriterien Neuheit, Originalität und Bedeutsamkeit zur Bewertung von künstlerisch-kreativen Leistungen und der Schwierigkeit, diese Kriterien objektiv anzuwenden. In diesem Sinne vermutet Reinhard Andreas, dass die Bewertung der Künstlerinnen und Künstler bzw. ihres Werks vor allem durch aktuelle Werte und Konventionen der Gesellschaft bzw. des Publikums bestimmt werden (vgl. Andreas 1993: 520f.). Die Schwierigkeit einer Bewertung der Qualität des Kunstwerks wird zudem allgemein erschwert durch den Umstand, dass es eben in der Kunst kein Richtig oder Falsch gibt, der Regelbruch innerhalb der Künste explizit verankert ist.
Umkehrung der Beweisführung
Entsprechend des vorherigen Diskurses entschied das Netzwerk, die Tagung so auszurichten, dass die Beweislast bei den eingeladenen Expertinnen und Experten aus dem Kulturbereich lag. Expertinnen und Experten aus der Kulturpolitik, den Kultureinrichtungen und der Verwaltung sollten ihre Förderkriterien darlegen und begründen, warum inklusive Kunstdarbietungen und -werke mit Kultur- und/oder Sozialmitteln gefördert wurden. Was sind Kriterien des öffentlich geförderten Kulturbereichs, um Kunst und Kultur zu fördern? Und gibt es hier Ausschlusskriterien für inklusiv ausgerichtete Kulturprojekte? Und wie sehen umgekehrt die Förderkriterien des Sozialressorts für inklusiv strukturierte Kulturarbeit aus?
Daraus leiten sich eine Reihe weiterer Fragen und mögliche Konsequenzen ab: Was bedeutet es für Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung, wenn sie mit Mitteln des Sozialbereichs finanziert werden? Wird seine oder ihre künstlerische Arbeit dann überhaupt im Feuilleton aufgegriffen? Und was bedeutet es, wenn er oder sie nicht von Geldern des Sozialbereichs profitiert? Vor allem mit Blick auf möglichen finanziellen Mehrbedarf, beispielsweise für eine Assistenz!
Zur Notwendigkeit der Entwicklung neuer Kriterien für neue künstlerische Ausdrucksformen
Die Tagung wurde, wie in der Vergangenheit, von künstlerischen Beiträgen gerahmt. In diesem Jahr verdeutlichte eine Tanz-Performance der DIN A 13 tanzcompany, dass inklusiv orientierte Kunstproduktionen einen professionell künstlerischen Anspruch erfüllen und die Künste durch neue Ausdrucksformen bereichern. Deutlich wurde dies auch in der parallel zur Tagung erstmals erscheinenden Sonderbeilage zum Thema Inklusion in der Zeitschrift „politik und kultur“ des Deutschen Kulturrats (2018). Mit Blick auf neue künstlerische Ausdruckformen der Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung stellt sich eine weitere berechtigte Frage zu den Förderkriterien inklusiv ausgerichteter Kulturarbeit: Haben wir überhaupt schon Qualitätskriterien für neue künstlerische Ausdrucksformen, die durch diese Kulturarbeit entstehen? Haben wir beispielsweise Kriterien, an denen wir die Professionalität einer Tänzerin im Rollstuhl bemessen? Oder die Fotografie eines sehbehinderten Künstlers? Hier sind auch das Feuilleton, die mediale Berichterstattung und die Kunstwissenschaften gefragt, sich mit neuen künstlerischen Ausdrucksformen auseinanderzusetzen und so zu einer Professionalisierung der Kulturreflexion im Kontext inklusiv ausgerichteter Kulturproduktionen beizutragen, sodass sich künftig nicht mehr die Frage stellt: Kunst oder Soziales?
Literatur
- Andreas, Reinhard (1993): Kreativität. In: Bruhn, Herbert/Oerter, Rolf/Rösing, Helmut (Hrsg.): Musikpsychologie. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
- Baudson, Tanja Gabriele (2008a): „Genie und Wahnsinn“. Sind Hochbegabte so anders? In: MinD-Magazin 64. www.uni-trier.de/fileadmin/fb1/prof/PSY/HBF/mindmag64.pdf [Zugriff: 04.06.2019].
- Baudson, Tanja Gabriele (2008b): Kreativität und Psychopathologie – „We of the craft are all crazy“. In: Dresler, Martin/Baudson, Tanja (Hrsg.): Kreativität. Stuttgart: Hirzel, S. 165–180.
- Brock, Bazon (2018): Ein Raffael ohne Hände? Antworten auf die Frage nach Inklusion im Bereich der Künste. https://bazonbrock.de/werke/detail/?id=3701 [Zugriff: 23.05.2019].
- Bullerjahn, Claudia (2004): Der Mythos um das kreative Genie: Einfall und schöpferischer Drang. In: Bullerjahn, Claudia/Löffler, Wolfgang (Hrsg.): Musikermythen – Alltagstheorien, Legenden und Medieninszenierungen. Hildesheim: Olms, S. 125–161.
- Deutscher Kulturrat (Hrsg.) (2018): Dossier „Inklusion in Kultur und Medien“. In: Politik und Kultur 06. www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2018/10/Inklusion.pdf [Zugriff: 04.06.2019].
- Motte-Haber, Helga de la (1996): Handbuch der Musikpsychologie. Unter Mitarbeit von Reinhard Kopiez und Günther Ritter. 2., erg. Aufl. Laaber: Laaber.
- Redfield Jamison, Kay (1993): Touched with Fire. Manic-Depressive Illness and the Artistic Temperament. New York: Free Press Paperbacks.
- Sass, Louis A. (2001): Schizophrenia, Modernism, and the „Creative Imagination“: On Creativity and Psychopathology. In: Creativity Research Journal 13 (1), S. 55–74. Weisberg, Robert W. (1989): Kreativität und Begabung. Was wir mit Mozart, Einstein und Picasso gemeinsam haben. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Angelika Hildebrandt-Essig. Heidelberg: Spektrum.