Deutschland hat das „Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“am 30. März 2007 unterzeichnet und am 24. Februar 2009 ratifiziert. Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, abgekürzt meist UN-BRK, hat Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft, fordert sie doch von den Staaten die aktive Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft, einer Gesellschaft also, die all ihren Mitgliedern auf der Basis der Menschenrechte die gleichberechtigte Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen ermöglicht.
Die UN-BRK hat sich in den vergangenen Jahren als durchaus wirksames Instrument erwiesen: Inklusion ist heute nicht nur als umfassendes gesellschaftliches Thema platziert, Inklusion wird auch schrittweise umgesetzt – wenngleich meist nicht in dem Tempo, das sich viele der Akteure wünschen. Der Begriff Inklusion, in der englischen Version der UN-BRK Inclusion, löst im Übrigen in der Bundesrepublik im Kontext Menschen mit Behinderung den der Integration ab. Der Begriff Integration wiederum verlagert sich derzeit schwerpunktmäßig in den Kontext Menschen mit Migrationshintergrund; eine „Umwidmung“ wie diese zeigt, dass Gebrauch und Verständnis von Begrifflichkeiten immer neu und kritisch justiert werden müssen.
Drei der 50 Artikel der UN-BRK sind insbesondere für den Bereich Kultur und Inklusion von Interesse: Artikel 8 befasst sich mit der Bewusstseinsbildung der gesamten Gesellschaft, Artikel 24 mit dem Bereich Bildung und Artikel 30 mit der Teilhabe am kulturellen Leben. Artikel 8 behandelt die Frage des Bewusstseins und der Bewusstseinsbildung der gesamten Bevölkerung im Kontext des „Phänomens Behinderung“ und fordert, „das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern“ (Art. 8 Abs. 1a). An Maßnahmen werden u. a. Kampagnen gefordert, die „eine positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen und ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein ihnen gegenüber [...] fördern“(ebd. Abs. 2a, ii). Kampagnen selbst sind Ausdruck medial-ästhetischen Handelns, sie können sich selbst durchaus als künstlerisch, z. B. im Sinne von Fotokunst, verstehen. Sie können aber auch künstlerische Aktivität und Teilhabe am Kulturleben thematisieren und Menschen mit Behinderung in ihrer Kompetenz als künstlerisch aktive Menschen und damit auch als Sympathieträger zeigen. So verstanden ist die Umsetzung des Artikels 8 der UN-BRK ein Teilbereich medialer Kultur und Vermittlung.
Artikel 24 der UN-BRK thematisiert das gemeinsame Lernen von Anfang an für alle Kinder in einer Schule – mit den hinreichend bekannten Diskussionen um die Gestaltung und Finanzierung der Umsetzung. Eine Schule für alle bedeutet auch den gemeinsamen Unterricht in den künstlerischen Fächern: Eine neue Ebene der Berücksichtigung der Verschiedenheit der Kinder und Jugendlichen fordert einen neuen und sich immer wieder aktualisierenden Blick auf ziel- und binnendifferenten Unterricht. Alle Ausbildungsstätten, die auf eine zukünftige künstlerische bzw. künstlerisch-pädagogische Berufstätigkeit vorbereiten, haben vor dem Hintergrund der inklusiven Schule und Lernsituation den Auftrag, Ausbildungsangebote für Studierende zu entwickeln und Didaktiken und Methodiken der künstlerischen Unterrichtsfächer zu lehren, die bereits in der Ausbildung auf die neue Situation in der schulischen Praxis vorbereitet.
Artikel 30 der UN-BRK „Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“bezieht sich auf den breiten Bereich der Kultur, der kulturellen Teilhabe und der Kulturellen Bildung, der überwiegend außerhalb der Institution Schule stattfindet.
(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen
1. Zugang zu kulturellem Material in zugänglichen Formaten haben;
2. Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmen, Theatervorstellungen und anderen kulturellen Aktivitäten in zugänglichen Formaten haben;
3. Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen, wie Theatern, Museen, Kinos, Bibliotheken und Tourismusdiensten, sowie, soweit wie möglich, zu Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller Bedeutung haben.
(Art. 30 Abs. 1)
Zugang zu kulturellem Material und zu Orten der Kultur und der kulturellen Darbietung sowie zu den Medien bezieht sich auf die Tätigkeitsebene der Rezeption, d. h. des Sehens und Zuschauens, des Hören und Zuhörens usw., im weitesten Sinne also auf Aneignung durch Wahrnehmung. Die Schaffung geeigneter Maßnahmen zu jeder Form kulturellen Ausdrucks meint Barrierefreiheit. Barrierefreiheit wiederum meint hier nicht nur die Schaffung von barrierefreien Zugängen zu Orten, wie sie im Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 (Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen – Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) bereits verlangt werden, sondern auch die Schaffung des Zugangs zu kulturellen Inhalten, wie z. B. die verständliche Information für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in Leichter Sprache, die Induktionsschleife für Menschen mit Schädigung des Gehörs, die Audiodeskription des Films usw. Barrierefreiheit ist – hierauf verweist auch die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen immer wieder – keine Speziallösung für Menschen mit Behinderung, sie kommt sehr oft auch allen Bürgerinnen und Bürgern zugute.
Im Gegensatz zur Tätigkeitsebene der Rezeption war die der künstlerischen Aktion und Produktion bis zu Art. 30 Abs.2 der UN-BRK noch nie Thema eines Textes mit Gesetzescharakter. Die UN-BRK schreibt Menschen mit Behinderung ausdrücklich die persönliche künstlerische und kreative Ausdruckskompetenz zu:
„Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft.“ (Art. 30 Abs. 2)
Dies ist ein neuer und erweiterter Blick auf Menschen mit Behinderung und auch auf deren Positionierung in der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung haben grundsätzlich künstlerisches und kreatives Potenzial, sie brauchen – wie alle anderen auch – die Möglichkeit, es zu entwickeln; und sie geben über ihre erworbenen Kompetenzen und Ausdrucksmöglichkeiten der Gesellschaft etwas zurück – wie alle anderen auch. Beschrieben wird hier ein völlig normaler Prozess, der sich im Generationenwechsel und im Zuge des lebenslangen Lernens vollzieht: Aus- und ebenso auch Weiterbildung wirken in einem Kreislauf von Geben und Nehmen in die Gesellschaft zurück. Neu ist nun, dass in diesem Kreislauf Menschen mit Behinderung mitgedacht werden. Durch die Einbindung in diesen „normalen“ Kreislauf werden sie gleichzeitig aus dem lange vorherrschenden „Sonder“-Kreislauf der medizinisch-defizitären und fürsorglichen Sicht und der damit assoziierten Unmündigkeit entlassen.
Die Ratifizierung der UN-BRK war in vielerlei Hinsicht ein „inklusiver Paukenschlag“, allerdings haben auch in den Jahrzehnten vor diesem politischen Ereignis zahlreiche Aktivitäten im künstlerischen Bereich stattgefunden, welche die Haltung der UN-BRK bereits verkörperten. Akteure einer – wie sie seinerzeit genannt wurde – integrativen Kulturbewegung waren Künstlerinnen und Künstler mit wie ohne Behinderung, Eltern künstlerisch begabter Kinder mit Behinderung und immer wieder auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, die sich vehement für gemeinsames Lernen von Anfang an und künstlerische Ausbildung eingesetzt haben. Die Umsetzung der UN-BRK im Aktionsfeld Kultur beginnt also keineswegs von einem imaginären Punkt Null.
Ein Beispiel für ein frühes „inklusives“ Projekt aus dem Bereich der Musik ist der Bochumer Modellversuch „Instrumentalspiel mit Behinderten“ in den Jahren 1979–1983 (vgl. Probst 1991). Dieser Modellversuch führte dazu, dass sich die Musikschulen für das Unterrichten von Kindern aus Sonderschulen öffneten. Zu Zeiten des Modellversuchs waren in ganz Deutschland 400 Kinder mit Behinderung Schülerinnen und Schüler an Musikschulen, heute sind es etwa 6.500.
Projekte aus anderen Disziplinen: Im Jahr 1986 wird in Bremen das Blaumeier-Atelier mit Malgruppe und Theater gegründet, 1993 entsteht in Hamburg das Arbeitsprojekt „Schlumper von Beruf“, eine Ateliergemeinschaft verschiedener Künstlerinnen und Künstler. Weitere Gründungen sind die Rockband Station 17(1988) und die Theater Thikwa (1990) und RambaZamba (1990).
Das erste Netzwerk zum Thema Kultur und Menschen mit Behinderung besteht seit 1989:
EUCREA wurde Ende der achtziger Jahre in einer Zeit gegründet, als sich die künstlerische Arbeit behinderter Menschen in Europa im Aufbruch befand. Durch den emanzipatorischen Ansatz im Bereich Kunst und Kultur der achtziger Jahre begünstigt, entstand ein zunehmendes öffentliches Interesse dieser Arbeit gegenüber. Immer mehr Projekte – insbesondere in den bildenden und darstellenden Künsten – entwickelten sich, die in Form und Idee nicht unterschiedlicher sein konnten: Während einzelne Vorhaben therapeutische oder kreativitätsfördernde Ziele in den Vordergrund stellten, nutzten andere die Einbeziehung behinderter Menschen zur Erprobung neuer Kunstformen.
(EUCREA o. J.)
Die Ausstellung „Der (im)perfekte Mensch“ im Hygienemuseum in Dresden in den Jahren 2000/2001 ist ein Meilenstein, nicht nur für eine neue Sicht auf den Menschen, sondern auch für eine Museumspädagogik, welche die Themen Exklusion und Inklusion sinnlich erfahrbar macht. Im Jahr 2000 starten das Festival „Kultur vom Rande“ in Reutlingen, der „Europäische Kunstpreis für Malerei und Grafik“ – „euward“ –von Künstlerinnen und Künstlern im Kontext von geistiger Behinderung wird ebenfalls 2000 erstmals vergeben. Seit 2005 besteht das Theaterfestival „no limits“ in Berlin, seit 2006 das Festival „Alles muss raus“ in Kaiserslautern. Ebenfalls 2006 entstehen die Idee und Konzeption einer Online-Galerie, die bis heute unter dem Namen „Insider Art“ als virtuelle Galerie Künstlerinnen und Künstlern eine Plattform bietet. „Sie differenziert erstmals nicht nach Art der Beeinträchtigung und ermöglicht den Künstlern, sich kostenlos in einem attraktiven und professionellen Rahmen einer breiten, interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren.“ (Insider Art o. J.)
All diese – im Übrigen bis heute bestehenden Projekte und Initiativen verfolgen viele Jahre vor der Formulierung der UN-BRK bereits deren Ziele:
- Entfaltung persönlicher künstlerisch-kreativer Kompetenzen;
- Entwicklung neuer künstlerischer Professionalität von Kulturschaffenden mit Behinderung; damit verbunden auch die Entwicklung neuer Berufsfelder für Kulturschaffende mit Behinderung;
- Entwicklung neuer künstlerischer Professionalität durch die Zusammenarbeit von Kulturschaffenden mit und ohne Behinderung;
- selbstverständliche Präsenz von Kulturschaffenden mit Behinderung im Kulturleben.
In den Kontexten der genannten und vieler anderer inklusiver Projekte sind Fragen und Probleme deutlich geworden, die sich bei der praktischen Umsetzung auf verschiedenen Ebenen gezeigt haben.
Thema Berufstätigkeit
- Schaffung von Teilzeit- und Vollzeit-Arbeitsmöglichkeiten als Akteure in Kulturinstitutionen;
- Schaffung von neuen Berufsbildern in kulturvermittelnden Berufen;
- Finanzierung freiberuflicher künstlerischer Tätigkeit bei Assistenzbedarf;
- Einsatz des Persönlichen Budgets für spezifische Bedarfe künstlerischer Tätigkeit;
- Künstlerinnen- und Künstler-Werkstattarbeitsplätze.
Thema Ausbildung
- Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung im künstlerischen Bereich;
- Entwicklung neuer inklusiver Ausbildungssituationen in künstlerischen Disziplinen;
- Aufnahme der Ausbildungsaspekte für zukünftige inklusive Arbeit in die Curricula der künstlerischen Ausbildungsstätten.
Thema Präsenz im Kulturleben
- Darstellungsweisen von Menschen mit Behinderung in den Medien;
- barrierefreie Medienangebote;
- Förderung inklusiv ausgerichteter Kultur.
Die Aufgaben des Bereichs Kultur und Kulturelle Bildung werden auch im Kontext Inklusion verfassungsgemäß durch die einzelnen Bundesländer erfüllt, übergeordnete bundesweite Aufgaben auch durch den Bund, insbesondere durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Sie sieht es als ihre Aufgabe, die Gelegenheit zu schaffen, unterschiedliche Entwicklungs- und Erfahrungsstränge aus den Bundesländern im Themenfeld Kultur und Inklusion zusammenzuführen und in Austausch zu bringen: Zu diesem Zweck ist das Netzwerk Kultur und Inklusion 2015 gegründet worden. Die vorliegende Dokumentation ist Arbeitsergebnis der ersten Arbeitstagung 2014, die als erstes und dringliches Thema den Bereich der künstlerisch-beruflichen Tätigkeit von Menschen mit Behinderung in der Werkstatt, in der Selbstständigkeit und in Kulturinstitutionen behandelt hat.
Literatur
- Behindertengleichstellungsgesetz vom 27. April 2002 (Bundegesetzblatt Jahrgang 2002, I, S. 1467–1468, ausgegeben zu Bonn am 27. April 2002).
- Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2016 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008, Teil II, Nr. 35, S. 1419ff., ausgegeben zu Bonn am 31. Dezember 2008).
- EUCREA (o. J.): Geschichte von EUCREA [www.eucrea.de/index.php/eucrea/geschichte, zuletzt aufgerufen am: 20.05.2016].
- Insider Art (o. J.): Herzlich willkommen in der Online-Galerie für Insider Art [www.insiderart.de/index.php?id=71, zuletzt aufgerufen am: 20.05.2016].
Links
- Alles muss raus
- Atelier Blaumeier
- Der [im]perfekte Mensch
- Die Schlumper
- EUCREA
- Euward
- Insider Art
- No Limits
- RambaZamba
- Station
- Theater Thikwa
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