Vollgas kann befreiend sein, bedeutet es doch in der Regel freie Fahrt ohne Hindernis, selbstbestimmt und so schnell wie man möchte. Vollgas kann aber auch lähmend sein, beim Fahren gegen die Wand. Und Vollgas kann ermüdend sein, angefüllt mit vermeintlicher Sinnlosigkeit, wenn man sich in einem Hamsterrad befindet. Wenn plötzlich der Dreh- und Angelpunkt nicht mehr stimmt, um den sich alles dreht. Oder wenn er noch nie gestimmt hat. Die Rezeption von Kunstschaffenden mit Assistenzbedarf ist leider nicht frei von den ein oder anderen Hamsterrädern.
Die Frage ist, ob wir uns darauf einlassen, einsteigen, rennen und rennen und rennen oder ob wir versuchen, sie aufzusägen und auszubreiten zu einem Gleis oder gar zu einem fliegenden Teppich.
Zu Beginn des Beitrags sollen die zentralen Dreh- und Angelpunkte im Fokus stehen, die sich in den Rahmenbedingungen des Kunstbetriebs und der Rezeption von bildenden Künstlerinnen und Künstlern zu erkennen geben, die als ‚geistig behindert‘ kategorisiert werden.[1] In ihrem Fall lassen sich aufgrund von Statusdifferenzen marginalisierende und hierarchische Strukturen besonders deutlich beobachten, da zwei gesellschaftlich konstruierte Pole aufeinandertreffen: zum einen Kunst als symbolisch und ökonomisch nobilitierte Gestaltungs- und Handlungsform, zum anderen die defizitorientierte Subjektkonstruktion von Menschen mit ‚geistiger Behinderung‘, denen ein niedriger sozialer Status zugewiesen wird. Anschließend beginnt die Suche nach Drahtscheren und Ausstiegshilfen, um fernab von Hamsterrädern eigene Wege zu entdecken.
Bildende Kunstschaffende mit Assistenzbedarf und ihre Werke sind alles in allem bis dato von regulären Ausbildungs- und Vertriebswegen ausgeschlossen. Das bedeutet für die Rezeption, dass diese zu Teilen anders verläuft als bei ‚nicht behinderten‘ Kunstschaffenden. Ersteren stehen bedeutende Netzwerke zur Präsentation und Rezeption ihrer Werke nicht offen, da unter anderem Galeristinnen und Galeristen als die sogenannten ‚Türsteher‘ des institutionalisierten Kunstbetriebs aus wirtschaftlichen Gründen oder aus Desinteresse von einer Kooperation größtenteils absehen. Dadurch erreichen die Werke bestimmte Käufer- und Sammlerschichten nicht. Zwar übernimmt die Assistenz der Kunstschaffenden weitgehend die Vermittlungsarbeit, allerdings werden die Produzentengalerien der Kunstwerkstätten nicht als gleichberechtigtes Mitglied im symbolischen und ökonomischen Wertschöpfungsprozess betrachtet. Was die Präsenz auf Messen betrifft, die sich in den vergangenen Jahren zu einem maßgeblichen Umschlagplatz entwickelt haben (vgl. Goodrow 2014: 211), sind ihre Werke in der Regel fast ausschließlich auf jenen Messen zu sehen, die sich auf Art Brut und Outsider Art spezialisiert haben – also auf einen Sektor, der sich vom ‚etablierten‘ Kunstgeschehen abgrenzt und seinen eigenen Rezeptionshorizont über die Werke wölbt. Für Künstlerinnen und Künstler ist es in solch einer Ausgangslage insgesamt eigentlich so gut wie unmöglich, ihre Werke in Museen des ‚anerkannten‘ Kunstbetriebs zu präsentieren. Also dort, im Dreh- und Angelpunkt der Kunstpräsentation und -rezeption. Da Museen als vermeintlich neutrale, unabhängige und renommierte Instanzen gelten, sind sie mit ihren Ausstellungen und ihrer Bewertung die maßgeblichen Impulsgeber im Prozess der kulturellen und symbolischen Anerkennung der Werke, was sich wiederum auf deren ökonomischen Wert niederschlägt (vgl. Weinhold 2005: 126). Kuratierende und Kunstvermittelnde haben demnach eine besonders wichtige und verantwortungsvolle Stellung inne, sei es in öffentlichen oder privaten Museen, Kunsthallen und Kunstvereinen. Sie ebnen zusammen mit den Kunstschaffenden und der Assistenz eigene Wege, sodass zum Beispiel die Werke der Schlumper und von Harald Stoffers aus der Galerie der Villa in der Hamburg Kunsthalle zu sehen waren oder von den Goldsteinkünstlern Hans-Jörg Georgi und Stefan Häfner im Arp Museum Bahnhof Rolandseck sowie von Julius Bockelt im Museum Folkwang. Das zeigt, welches gewaltige Potenzial trotz einer ungleichberechtigten Ausgangslage vorhanden ist.
Bei der Rezeption durch die Medien werden einige Konstanten erkennbar, wenn man den Bogen von heute bis zurück in die 1970er Jahre spannt, nachdem die 1966 gegründete Maltherapie der Anstalt Stetten unter der Leitung der Kunstpädagogin und Heilerziehungspflegerin Anne Dore Spellenberg pioniergleich öffentlich in Erscheinung trat. Insgesamt bemühen sich die Medien um eine verständnisvolle Darstellung und Vermittlung, gehen dabei jedoch mehrheitlich oberflächlich vor und reproduzieren weitestgehend den gesellschaftlichen Status quo, ohne selbst Impulse zu setzen. Der Mangel an eigenständigen Beiträgen und Kritik, die Fokussierung auf biografische Informationen statt eingehender Werkbesprechungen oder eine fehlende Selbstreflexion kritisieren Autorinnen und Autoren auch hinsichtlich Kunstschaffender ohne ‚Behinderung‘ (vgl. unter anderem Wagner 1996: 178f.; Saehrendt/Kittl 2007: 98, 173 und 194). Durch sozial und politisch motivierte Rücksichtnahmen können sich die kunstkritischen und medialen Probleme bei Kunstschaffenden mit Assistenzbedarf jedoch verstärken.
Die
Rezeption verändert sich bewusst oder unbewusst, je nachdem, ob eine
gesellschaftliche Kategorisierung in Bezug auf die Urhebenden bekannt ist
oder nicht. So berichtet beispielsweise die Kunstkritikerin Claudia Dichter in einem Interview über die Ausstellung „Andere
Wirklichkeiten“ im Arp Museum Bahnhof Rolandseck 2016 (Dichter 2016):
„[…] Man geht jetzt nicht durch diese Ausstellung mit den gleichen, sag mal
strengen Kriterien, mit denen man durch Ausstellungen normaler zeitgenössischer
Kunst läuft.“ Ein Journalist verdeutlicht Ende der 1990er Jahre unbeabsichtigt
das bis heute allgegenwärtige Destillat der Rezeption mit folgenden Worten:
„Das Besondere an den ausgestellten Werken ist, dass sie von geistig
behinderten Menschen gemalt worden sind. Mit diesem Wissen wird ein Rundgang
durch die Ausstellung noch interessanter.“ (O. A. 1999)
Feststellbar war in der Analyse: Zu einer gleichberechtigten Rezeption führten bisher lediglich kategorienbefreite Orte der Kunst, an denen kunstbezogene Bewertungskriterien wirken können, indem die Werke losgelöst von gesellschaftlichen Klassifizierungen in Bezüge und Ausstellungsthemen eingebettet sind. Das ist nicht gleichzusetzen mit einer Rezeption, bei der die ‚Behinderung‘ der Kunstschaffenden hierarchiefrei als ein Persönlichkeitsaspekt neben vielen betrachtet wird, und bei der auch die Werke weiterhin gleichberechtigt anerkannt und behandelt werden. Beim bisher vorherrschenden, besondernden Umgang mit den Kunstschaffenden und Werken können sich die Rezipientinnen und Rezipienten hingegen ihrer Positionierung innerhalb des Normalitätsspektrums vergewissern und ihre Identitätsbildung demgemäß ausrichten. Dieses Hamsterrad erweist sich aufgrund dessen als besonders stabil, wenn nicht sogar als unzerstörbar.
Das Interesse an einer endogen konzipierten, also allein am Individuum fixierten ‚Behinderung‘ ist bis in die Gegenwart ungebrochen und scheint durch Inklusionsbestrebungen eher aktualisiert, als hinterfragt zu werden. Kunstausstellungen, die sich inklusiv präsentieren, fördern bisher kaum eine gleichberechtigte Rezeption. Inklusion scheint exklusiv in Inkludierende und Inkludierte zu spalten. Dabei erhalten medizinische Diagnosen erhöhte Aufmerksamkeit. Zuschreibungen von ‚Andersheit‘ und ‚Fremdheit‘ nehmen zu. Das betrifft sowohl die Künstlerinnen und Künstler als auch ihre Werke. An einigen Stellen kann in der Sprache und Darstellungsweise der Medien sogar diesbezüglich von einem Rückschritt in die 1990er Jahre gesprochen werden, selbst wenn ansonsten die Werke aufwertend und intensiv besprochen werden und ein Künstler- und Kunststatus mit Nachdruck vorgesehen wird. Hinzu kommt, dass bisweilen die Assistenz auf der einen sowie Journalistinnen und Journalisten auf der anderen Seite gezielt die Kategorie ‚Behinderung‘ thematisieren, um in der Gesellschaft inklusive Veränderungen zu initiieren. Mit dem Hinweis ‚Behinderung‘ spiele keine Rolle, wird sie ausdrücklich betont. Und schon dreht sich das Hamsterrad mit Vollgas.
Neben Diagnosen werden in den Medien mitunter auch soziale wie therapeutische Aspekte herausgearbeitet, selbst wenn die Präsentation davon explizit Abstand nimmt. Die Verortung in therapeutischen und sozialen Bereichen scheint die Werke erklärbar zu machen vor dem Hintergrund einer defizitorientierten Subjektkonstruktion, die für die betroffenen Künstlerinnen und Künstler vorgesehen wird. Dabei kann die Anerkennung der Werke als kulturelle wie individuelle Leistung verloren gehen gleichwie ihre Rezeption als Beitrag zum zeitgenössischen Kunstgeschehen. Zur Aberkennung eines gleichberechtigten Kunst- und Künstlerstatus ist der Schritt dann konsequenterweise nicht mehr weit. In integrativen Projekten besteht die Gefahr, dass sich die Künstlerinnen und Künstler ohne ‚Behinderung‘ bewusst oder unbewusst gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen positionieren, zum Beispiel als der konzeptgebende Part, wodurch die Urheberschaft in der Rezeption leicht ihren gleichberechtigten Charakter verliert: Während erstere als Künstlerinnen und Künstler begriffen werden, finden sich letztere daraufhin in der Rolle des aus sozialen oder gesellschaftlichen Motiven gewählten Mitarbeitenden. Der Mechanismus des sozial-therapeutischen Hamsterrads dürfte sich wesentlich einfacher knacken lassen als es bei den beiden vorangegangenen Aspekten der Fall ist.
Distanzierte, besondernde Präsentationsrahmen entstehen unglaublich schnell und können eine eingeschränkte Rezeption bewirken. Diese Konstellation entsteht beispielsweise dadurch, dass Kunstschaffende mit Assistenzbedarf im Kontext separater Kunstgruppen künstlerisch arbeiten und ausstellen, die wiederum von Sondereinrichtungen der Behindertenhilfe getragen sind. Eine gesonderte Präsentationsplattform entwickelt sich auch bei Ausstellungen, deren Werkauswahl von der gesellschaftlichen Kategorisierung der Kunstschaffenden bestimmt ist. Distanzierte Präsentationsrahmen fallen demnach nicht vom Himmel, man kann sie als selbstgebaute Hamsterräder einstufen.
An vielen Stellen im Kunstbetrieb etabliert sich die Zuordnung zu den gesellschaftsbasierten Kunstkategorien Outsider Art und Art Brut zunehmend weiter. Man könnte sich zufrieden zurücklehnen und sagen: „Prima, die Werke sind doch somit inner- und außerhalb des ‚Mainstream‘-Kunstbetriebs angekommen.“ Wenn da nicht im Schlepptau das Etikett der ‚Anderen‘, der Außenseiterinnen und Außenseiter, unbeirrt haften bliebe. Alteritätszuschreibungen stehen hier deshalb auf der Tagesordnung. Von ihren Befürworterinnen und Befürwortern werden diese Kategorien unter anderem zu Zwecken der Gesellschafts- und Kunstmarktkritik gehegt und gepflegt – und verteidigt. Kriterien, die bei der Aufwertung moderner Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielten, werden dabei exklusiv auf Urhebergruppen übertragen, die im ‚etablierten‘ Kunstbetrieb bisher nicht gleichberechtigt anerkannt sind. Die Translation gelingt dieser Logik entsprechend nur, wenn die Marginalisierung von ‚exklusiv Exkludierten‘ – also das Gegenteil von Inklusion – aufrechterhalten bleibt. Wie die Analyse zeigt, dreht die Rezeption von Outsider Art und Art Brut im Gesamten seit Jahrzehnten die stets gleichen Kreise, obschon derzeit punktuell auch kritische Punkte im Rahmen inklusiver Ausstellungen thematisiert werden. Entgegen mancher Erwartungen, durch Polarisierungen eine gleichberechtigte Rezeption herbeizuführen, tragen die beiden Kunstkategorien auf diese Weise beträchtlich zur Aktualisierung hierarchischer Zuschreibungen bei. Darum ist das mehrheitlich selbst gewählte Hamsterrad mit Vorsicht zu genießen.
Mag die Anzahl existierender Kunstwerke beträchtlich sein, so stehen in der Rezeption meist die Werke relativ weniger Künstlerinnen und Künstler im Fokus. Dies hängt zum einen mit der unterschiedlich bewerteten Qualität und Aussagekraft der Werke und ihrer Anschlussfähigkeit in verschiedenen, auch zeitabhängigen Rezeptionsprozessen und -bereichen zusammen, zum anderen aber auch mit den Strukturen des Kunstbetriebs, die sich gemäß des vorherrschenden, institutionalistischen Kunstverständnisses (vgl. Dickie 1969; Ullrich 2001: 557, 566–569) auf die Deutungshoheit einiger anerkannter Meinungsgeberinnen und -geber beziehen. Und schon setzt sich eine „Rotationsschleife“ (Weinhold 2005: 113) – Stichwort Hamsterrad – in Gang. Provokativ zusammengefasst: Die ambitionierte Suche nach Superlativen endet im Einheitsbrei. Die Fokussierung auf eine überschaubare Menge an ‚Künstlergenies‘, die die Museen und Kunstgeschichten bevölkern dürfen, mutet an wie das Starren auf Riesen in einer Welt voller Zwerge. Davon abgesehen, dass die Welt bekanntlich weder nur aus Zwergen noch ausschließlich aus Riesen besteht: Ob jemand als Zwerg oder Riese betrachtet wird, hängt von vielen Faktoren abseits jeglicher Größenverhältnisse ab. Hier ein breit gefächertes Spektrum an Kunst und Kunstschaffenden zu präsentieren und rezipieren, stellt eine bereichernde Aufgabe für alle Beteiligten dar. Unter diesem Blickwinkel mutet der Ausstieg aus diesem Hamsterrad sehr attraktiv an.
Im Anschluss an diesen kleinen Rundumschlag zu den Rahmenbedingungen und der Rezeption von Kunstschaffenden, die als ‚geistig behindert‘ kategorisiert werden, gelangen wir nun zu den Aspekten, die für den Weg zu inklusiven Arbeitsformen sowie einer gleichberechtigten Präsentation und Rezeption dringlich erscheinen.
Schaffung individuell optimierter, künstlerischer Tätigkeitsfelder
Damit Kunst entstehen kann, braucht es Menschen, die die Möglichkeit haben, künstlerisch zu arbeiten. Was sich wie eine Binsenweisheit anhört, die in Sekundenschnelle in Tiefschlaf versetzt, ist leider für Menschen mit Assistenzbedarf keine Selbstverständlichkeit. Eine grundlegende Prämisse sollte sein, dass künstlerische Tätigkeit unabhängig vom Professionalitätsgrad gesellschaftlich als sinnstiftend betrachtet wird und als förderungswürdig gilt. Viel zu oft stehen Interessierten noch alltägliche, lösbare Probleme im Weg, zum Beispiel eine fehlende Fahrgelegenheit zum Atelier oder ein fehlendes Budget etc. Oder aber im direkten Umfeld gehört der Satz: „Das kann weg!“ zum Standard, während der zweite Teil der bekannten Frage „… oder ist das Kunst?“ erst gar nicht gestellt wird. Die Schaffung und Optimierung individuell abgestimmter Arbeitsbedingungen für die Kunstschaffenden besitzt meiner Ansicht nach oberste Priorität. Zum Aufgabengebiet gehört hierbei auch die Entwicklung inklusiver Optionen, wie es das Programm „art+“ von EUCREA in einem ersten Schritt für professionell arbeitende Kunstschaffende in Angriff genommen hat.[2] Wichtig wäre es meines Erachtens, eine zentrale Kompetenzstelle und Thinktanks zu schaffen, an die die Kunstschaffende und ihre Assistenz bei Bedarf wenden können, damit inklusive Vorhaben nicht aufgrund mangelnder Information und Unterstützung schon im Vorfeld aus Mangel an Zeit, Kraft und Überblick scheitern.
Insgesamt stellt sich dabei auch die Frage nach der Zielrichtung von ‚Inklusion‘ (vgl. Tiedeken 2018: 173–177). Ausgerichtet an der bisherigen gesellschaftlichen Normalität von Kunstschaffenden würde Inklusion in letzter Konsequenz die Ausweitung prekärer Lebensverhältnisse auf Menschen mit Assistenzbedarf bedeuten. Deshalb bedarf es neuer, gerechter, konkurrenzbefreiter, innovativer Formate und Räume, es bedarf der Geldmittel, es bedarf des ausdauernden Engagements vieler Menschen an vielen Orten, es bedarf praktikabler Förderungsstrukturen, ohne erdrückenden oder gar überfordernden Verwaltungsballast, es bedarf kurz und knapp also noch an so ziemlich vielem. Und es bedarf der lauten und klaren Antwort: „Nein, das kann nicht weg. Das ist Kunst.“
Gleichberechtigte Präsentations- und Rezeptionsmöglichkeiten
Für Künstlerinnen und Künstler, die als ‚behindert‘ gelten, wäre eine Präsentation und Rezeption anzustreben, die ihre Individualität hierarchielos als einen Aspekt neben anderen anerkennt und sich gleichberechtigt mit ihren Werken auseinandersetzt – abseits von Hemmschwellen oder einem Behindertenbonus. Förderlich können inklusive Präsentationsmöglichkeiten ohne distanzierten Rahmen oder hierarchisch geprägten Sonderstatus sein, damit die Kunstwerke und ihre Urhebenden in Bezug zum Kunstgeschehen sowie übergreifenden Themengebieten gesetzt werden können. Dabei stellt sich der Assistenz und Kuratierenden wie Kunstvermittelnden gleichermaßen die Frage, wie die Präsentationen den ausstellenden Kunstschaffenden gerecht werden, ihren Intentionen sowie ihren Werken und deren Inhalten. Vielversprechende Schritte in diese Richtung wurden von einigen Kunstgruppen und Museen bereits unternommen und könnten beliebig weiterentwickelt werden. Der Fantasie sind auch außerhalb von Kunstinstitutionen keine Grenzen gesetzt. In Bezug zu den Medien könnten Akteurinnen und Akteure stärker ermutigt werden, eigenständige Beiträge zu erstellen. Das kann aber auch bedeuten: loslassen und im Nachhinein vielleicht enttäuscht schlucken.
Differenzierte Kommunikation
Da die Mitgliederstruktur der Kunstgruppen und deren Ambitionen allgemein sehr verschieden sind, wäre eine differenzierte Kommunikation bzw. Öffentlichkeitsarbeit für eine angemessene Rezeption sehr hilfreich. Kunstgruppen, die sich locker in ihrer Freizeit zusammenfinden, werden kaum den Weg in renommierte Museen suchen – und finden. Wer jedoch dezidiert den Anspruch auf die Anerkennung eines Künstlerstatus für sich und eines Kunststatus für seine Werke erhebt, sollte sich hingegen auf die Kriterien, Regeln und Rahmenbedingungen des Kunstbetriebs einstellen und dementsprechend agieren. Wer es mit Goliath aufnimmt, sollte wie David handeln bzw. aus der Sicht von Fußballern: Wer in der ersten Liga mitspielen will, sollte auch wie sein Erstligist kicken. Anderenfalls setzen die Beteiligten kontraproduktiv ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Wie an so vielen Stellen kommt auch hier der Assistenz eine besondere Bedeutung zu.
Endogene Definitionen von ‚Behinderung‘ hinterfragen
Das Bestreben von Projekten im Einzelnen und der Gesellschaft im Allgemeinen, sich möglichst inklusiv zu geben, scheint endogene bzw. medizinische Definitionen von ‚Behinderung‘ zu aktualisieren, anstatt sie zu hinterfragen. Es mutet dringend notwendig an, ein kulturelles Verständnis von ‚Behinderung‘ zu fördern, das die gesellschaftliche Konstruiertheit von Körpern und ‚Behinderung‘ thematisiert, die Verantwortung der Gesellschaft einfordert und die selbstreflexive Suche nach neuen Handlungsräumen eröffnet (vgl. Waldschmidt 2010: 58f.). Dem Atelier Goldstein waren in der Vergangenheit diesbezüglich Verschiebungen gelungen, indem die Mitglieder entschieden ein hierarchisches Verständnis von Reflexivität sowie einen generalisierenden Normalismus ablehnten und eine stärkenorientierte Subjektkonstruktion nach außen kommunizierten. Dies kam in Formulierungen, Publikationen und Gesprächen zum Ausdruck, in der Regel ohne direkten Bezug zu einzelnen Kunstschaffenden oder Ausstellungen. Hierdurch wurde vermieden, die Rezeption der Ausstellungen direkt mit gesellschaftlich-sozialen Aspekten zu belegen und damit die Kunstschaffenden und ihre Werke zu funktionalisieren. Dies könnte ein Anhaltspunkt sein, wie der momentan ‚exklusiven‘ Rezeption von Inklusion begegnet werden kann.
Aktive wie passive kulturelle Teilhabe
Neben der aktiven Teilnahme am Kunst- und Kulturgeschehen sollte die passive Teilhabe nicht aus dem Blickfeld geraten – und anders herum. Wichtige Aufgabenfelder in Museen und Kunstinstitutionen sind die Entwicklung innovativer Formate in der Kunstvermittlung und Museumspädagogik, denen sich zum Beispiel die Bundeskunsthalle in Bonn stellt. Kunstvermittlerinnen und -vermittler sowie Besucherinnen und Besucher mit und ohne Assistenzbedarf können sich auf die Suche nach exklusiven Mechanismen in Kunstinstitutionen begeben und Veränderungen anstoßen. Die Potenziale, Neues und Inklusives zu fördern, sind groß.
Neben den runden Hamsterrädern stellen sich demnach auf vielen Gebieten auch Ecken und Kanten, die Anknüpfungspunkte für Perspektiven bieten. Es gilt, mit Muse und Entschlusskraft und ab und an auch mit Vollgas Perspektiven zu entwickeln, die den Ausstieg aus kleinen und großen Hamsterrädern ermöglichen.
Literatur
- Dichter, Claudia (2016): Die Ausstellung „Andere Wirklichkeiten“ im ARP Mu-seum. Interview, WDR 5 Scala aktuelle Kultur, 23.08.2016.
- Dickie, George (1969): Defining Art. In: American Philosophical Quarterly 6 (3), S. 253–256.
- EUCREA Verband Kunst und Behinderung e. V. (o. J.): art+ Erfahrungsbericht und Handlungsempfehlungen zum Strukturprogramm Kunst und Inklusion 2015–2016. www.eucrea.de/images/downloads/ARTplus_Online_AS_Doppelseiten_2, [Zugriff: 27.04.2019].
[1] Die Rezeptionsanalyse basiert auf den Ergebnissen meiner Untersuchung „Wenn Kunst behindert wird. Zur Rezeption von Werken geistig behinderter Künstlerinnen und Künstler in der Bundesrepublik Deutschland“ (Luz 2012) sowie auf der Auswertung von Medienberichten bis 2018 über das Atelier Goldstein (Frankfurt am Main), die Galerie der Villa (Hamburg) und die Ausstellung „Andere Wirklichkeiten“ (Arp Museum Bahnhof Rolandseck, 21.8.2016 bis 22.1.2017). Darüber hinaus wurden Peter Tiedekens Feststellungen zur Rezeption der Band Station 17 (Hamburg) berücksichtigt (vgl. Tiedeken 2018: u. a. 147, 158f.). Einige Medienberichte über die 2018 erschienene CD „Blick“ von Station 17 überwinden die Fokussierung auf die Kategorie ‚Behinderung‘ und gehen insofern über die Beobachtungen Tiedekens hinaus.
[2] Auf der Internetpräsenz von EUCREA sind aktuelle Informationen zum Programm „art+“ (z. B. auf den Seiten www.eucrea.de/index.pho/88-artplus?start=10) sowie Handlungsempfehlungen (vgl. EUCREA o. J.) abrufbar.
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