Die „Öffnung von Institutionen“ soll sich hier nur auf einen ganz bestimmten Bereich des gesellschaftlichen Lebens beziehen: Auf die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung im künstlerisch-kulturellen Bereich.
Zunächst also die Frage: Welche Institutionen sind gemeint?
Der ganze Bereich
- der kulturtragenden Einrichtungen,
- der soziokulturell orientierten Veranstalter,
- der kommerziellen Eventveranstalter,
- der Institutionen der Freizeitkultur oder
- der Institutionen der offenen Hilfen der Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderung innerhalb von Ausbildungen?
Je nach den Voraussetzungen unterscheiden sich die derzeitigen Arbeitsmöglichkeiten in künstlerischen Berufen immens. Professionelle Arbeitsplätze sind bislang an vielen Arbeitsstellen nur mit entsprechend nachgewiesenen Qualifikationen (z. B. in Orchestern) oder mit entsprechender Berufserfahrung und Breite der Verfügbarkeit (z. B. als Darstellerin oder Darsteller, als Tänzerin oder Tänzer) oder mit außergewöhnlichen Fähigkeiten (z. B. als Musicaldarstellerinnen oder -darsteller, die von Eventveranstaltern gecastet werden) vorhanden. Bei weiteren talentierten Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung hängen Arbeitsangebote von günstigen Zufällen oder vorhandenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung und Freizeitgestaltung oder der Kreativ- und Kunstwerkstätten ab (z. B. im Bereich der Literatur oder der bildenden Kunst).
Falls es dort Arbeitsplätze gibt oder geben soll, folgen diese ganz unterschiedlichen Notwendigkeiten, und das Endziel von dauerhaften Arbeitsplätzen und beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung ist noch nicht erreicht.
Öffnung der Institutionen
Öffnung heißt, zunächst Bereitschaft herzustellen, sich mit gegebenen und mit eventuell unüblichen Arbeitsbedingungen auseinanderzusetzen. Welche Voraussetzungen sind bei den künstlerisch Talentierten und Interessierten vorhanden? Welche Voraussetzungen kann eine Institution schaffen?
Es ist zu klären:
- was die Voraussetzung der künstlerischen Berufsarbeit ist,
- was das Ausbildungsinteresse bzw. die „Qualifikation“ ausmacht und
- welche Ebene der Aus- und Fortbildung tatsächlich gemeint ist.
Die Öffnung einer Institution beinhaltet auch, für die erwünschten Kompetenzen entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen. Doch damit ist noch nicht entschieden, ob Institutionen die entsprechende Talentförderung und die künstlerische Bildung (über das rein Handwerkliche hinaus) überhaupt leisten können. Viele künstlerische Anlagen entstehen bei Menschen mit Behinderung (wie bei denen ohne) z. B. durch förderliche Bedingungen von Schule und Elternhaus.
Was also ist erreichbar über …
- formelle Bildung („typische“ Wissensvermittlung, „verwertbare“ Bildung, anerkannte Qualifikationen);
- non-formelle Bildung (freiwillige, aber geplante, beabsichtigte und geregelte Angebote in speziellen Institutionen, strukturierte Vermittlung), z. B. im großen Bereich erwachsenenbildnerischer Kursangebote;
- informelle Bildung (ungeplante, beiläufige, unbeabsichtigte, selbst gesteuerte, nicht institutionell organisierte Bildungsprozesse), z. B. die oft vorhandenen Selbstbildungsprozesse im Kunstbereich (inkl. Fotografie).
Institutionen sind daher in erster Linie verantwortlich für Offenheit, Offenheit gegenüber Personen mit Behinderung, deren Kompetenzen entsprechend zu erfragen sind oder erst gefördert werden sollen.
Es bleibt die Frage nach den Institutionen der Kompetenzvermittlung:
- Welche Kompetenzen sind dabei zu berücksichtigen?
- Wer kann diese vielfältigen Anforderungen erbringen?
- Wer geht dafür welche Kooperationen ein?
Ohne alles im Einzelnen auszuführen, ist daran zu erinnern, dass bei einer Arbeit an einem künstlerischen Arbeitsplatz von folgenden Kompetenzen ausgegangen werden muss:
- Kulturelle Kompetenzen (sprachlich-symbolische Fähigkeiten; das kulturelle Wissen einer Gesellschaft);
- Instrumentelle Kompetenzen (Fähigkeit, sich in der gegenständlichen Welt zu bewegen, Angebot an Waren nutzen zu können, mit Medien und künstlerischen Techniken umgehen zu können);
- Soziale und kommunikative Kompetenzen (sich mit anderen verständigen, Teilhabe, Gestaltung des Gemeinwesens, Beziehungen eingehen können);
- Personale Kompetenzen (eine Persönlichkeit entwickeln, Verantwortung übernehmen, Alltagskompetenzen) (vgl. Witte 2012).
Diese Anforderungen machen deutlich, dass Institutionen und Einzelpersonen mit diesen vielfältigen Zielen überfordert sein können. Nach meiner Meinung liegt die Zauberformel für die derzeitig machbare Entwicklung von Arbeitsmöglichkeiten im künstlerischen Bereich in der Forderung nach „Kooperation“. Kooperation bedeutet, dass die Verantwortung für die professionelle Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung auf mehrere Schultern verteilt wird. Die (vor allen Dingen in Deutschland) sehr starr verteilten Zuständigkeiten machen es bislang notwendig, dass Wege gefunden werden, die sowohl die Sozialgesetzgebung als auch die Kulturförderung sowie auch die Fragen der Berufs- und Erwachsenenbildung etc. einbeziehen.
Neue Voraussetzungen, wie sie sich aus dem nationalen Aktionsplan der Bundesregierung oder aus dem Teilhabegesetz ergeben könnten, sind hier noch nicht berücksichtigt.
Ein Beispiel zur Öffnung von Institutionen
Am Beispiel des Theaters Die Tonne Reutlingen lässt sich dieses Verfahren der geteilten Verantwortung gut demonstrieren:
Auf der Homepage des Theaters zum jeweils aktuellen
Spielplan sind Fotos des gesamten Ensembles zu sehen (siehe
www.theater-reutlingen.de/index.
php/ueberuns). Auf diesen Fotos sind unterschiedslos alle Mitwirkenden des
ganzen Hauses abgebildet. Die Darstellerinnen und Darsteller mit Behinderung
sind nur für akribisch Suchende erkennbar. Die Darstellenden sind also
selbstverständlicher und aktiver Teil der Produktionen des Hauses. Doch steckt
eine ganze Reihe erfolgreich vereinbarter Abmachungen hinter diesem
Spielbetrieb.
Zurzeit stellt sich die Situation so dar:
Das Theater reserviert eine bis zwei Produktionen im Jahr für die Arbeit mit den Darstellenden mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen. Diese besuchen zum großen Teil noch an weiteren drei Werktagen die Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Die Werkstatt stellt für die ganze Zeit der Präsenz im Theater sowie bei den Intensivproben vor den Premieren und den Aufführungsterminen eine Person als Jobcoach und zeitweise eine Person aus dem Freiwilligendienst zur Verfügung. Damit überspringt die Einrichtung die üblichen Einschränkungen für das Zeitbudget der Jobcoaches und macht so ihr gesteigertes Interesse an der künstlerischen Tätigkeit der ca. acht beteiligten Menschen mit Behinderung deutlich. Im Theater erfolgt eine künstlerische Ausbildung in Bewegung und Improvisation, Stimme und Sprache, elementare ästhetische Ausdrucksformen, Rollenstudium und Ensemble-Improvisation. Dieses Training on the Job versetzt die Darstellenden in die Lage, sich immer wieder auf neue Bühnensituationen einzulassen und ihr darstellerisches Repertoire sukzessive zu erweitern.
Die Finanzierung dieser Aufgaben übernahm in der Pilotphase der ersten drei Jahre die Lechler Stiftung. Mittlerweile wurde die Finanzierung der Lehraufträge durch den städtischen Haushalt möglich.
Die Kooperation in dieser Form ist sicher in einer kleineren Großstadt leichter erreichbar, scheint aber zunächst die einzige Chance für die Umwidmung von Arbeitszeit in der Werkstatt in Arbeit am Theater zu sein. Eine weitere Voraussetzung für die Bereitschaft zur gegenseitigen Unterstützung der Institutionen war eine „grundsätzliche, intensive, gegenseitige Information“ über die Rahmenbedingungen der Arbeitstätigkeit und Arbeitsmöglichkeiten von Menschen mit verschiedenen Einschränkungen. Eine nicht zu vernachlässigende Voraussetzung für die Entwicklung beruflich-professioneller Arbeit im künstlerischen Bereich ist auch die Bereitschaft, Beweglichkeit bei „Veränderungen von Bedingungen“ zu realisieren (bei diesem Beispiel die Kostenübernahme für die künstlerische Ausbildung). Das gemeinsame Projektmanagement, welches das Theaterprojekt Reutlingen auszeichnet, lebt nicht von der Sicherheit der Dauerfinanzierung, sondern von der immer wieder ausgehandelten Bereitschaft, die Konstruktion „Arbeitsplatz Theater“ machbar zu gestalten.
Literatur
- Witte, Katharina (2012): Von Gossen und Gassen – wie Theater verändert. Entwicklung von künstlerischem Potenzial durch Theaterspiel und dessen Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die Lebensgestaltung von Menschen mit Behinderung und sozialer Benachteiligung. Berlin: Logos.
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