Die Podiumsdiskussion zum Abschluss der Netzwerktagung am 14. Oktober 2016 dokumentiert die Notwendigkeit freien und gleichzeitig sachbezogenen Denkens einerseits und die Vielfalt möglicher Positionen andererseits. Podiumsdiskussion mit Susanne Keuchel, Thomas Grosse, Udo Dahmen, Siegried Heinz Xaver Saerberg, Gerda König, T1 bis T7
Susanne Keuchel: Zunächst möchte ich zwei, drei Worte zu Erfahrungen im Zusammenhang mit der Vorbereitung dieser Tagung und der Podiumsdiskussion sagen. Wir haben im Vorfeld Vertreterinnen und Vertreter der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder und die für Musik- und Kunsthochschulen zuständigen Vertreter in den Landesministerien um Teilnahme gebeten – und es war interessant, die Reaktionen zu sehen. De facto war es so, dass beispielsweise Vertreterinnen und Vertreter im Landesministerium für die künstlerischen Hochschulen ganz klar die Haltung hatten „Inklusion – damit haben wir doch nichts zu tun!“. Das ist sehr spannend im Vergleich zu unserer Tagung im Vorjahr, als wir über den künstlerischen Arbeitsmarkt und die Teilnahme von Künstlerinnen und Künstlern gesprochen haben. Da hatten wir hier zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter beispielsweise der Künstlersozialkasse, der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit und auch des Kulturrats. Sie haben zwar alle gesagt „wir haben da noch nicht viel gemacht“, aber es gab doch eine gewisse Neugier auf das Thema Inklusion und alle haben auch relativ begeistert mitdiskutiert.
Deshalb wäre jetzt meine erste Frage an Herrn Grosse. Alle, die hier in der Podiumsdiskussion sitzen, sind, glaube ich, überzeugt von Inklusion. Die Frage ist: Was ist in den künstlerischen Hochschulen möglicherweise vielleicht auch an Ängsten oder einer Grundhaltung da, die es so schwierig macht, zum Thema Inklusion ins Gespräch zu kommen?
Thomas Grosse: Ein Blick ins Kunsthochschulgesetz NRW zeigt, dass wir grundsätzlich mit Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung zu tun haben können. Solche Fragestellungen sind nämlich in § 54 b geregelt. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind also klar. Wenn wir sagen, wir haben mit Inklusion nichts zu tun – ich pauschalisiere das jetzt – dann bedeutet das, dass unsere Fallzahlen so gering sind, dass wir kaum Erfahrungen haben, auf die wir zurückgreifen können. Es gibt keine Rezepte; erst einmal keinen direkten Einblick. Wir haben in diesen eineinhalb Tagen hier viel und angeregt diskutiert und deutlich gesehen, dass es hier erst einmal gar nicht um den Willen oder „Nicht-Willen“ geht, sondern darum, dass so viele Fragen unbeantwortet sind, weil man in den Hochschulen keine Vorstellungen entwickeln konnte, wie man eigentlich mit inklusiven Situationen umgeht. Am Beispiel der Musik wird sehr klar gezeigt, dass wir sozusagen „Rennpferde züchten“, die oft scheuklappenartig ein bestimmtes Berufsziel anstreben, und dass sich das eben mit einem ganz anderen Ansatz auch von künstlerischer Praxis gerade in Musikhochschulen nicht so einfach verbinden lässt. Ich glaube tatsächlich, dass es eine Form von Unfähigkeit ist, sich auf diesen Prozess einzulassen, weil die Qualifikation der Lehrenden, mit der man sich überhaupt für die „hohe künstlerische Lehre“ qualifiziert, so eindeutig auf dieses Ziel hin formiert ist, dass man das nicht alles plötzlich über Bord werfen und neue Unterrichtseinheiten entwickeln kann. Insofern breche ich zunächst einmal eine Lanze für das Personal an Kunsthochschulen. Man muss wirklich Verständnis dafür haben, wie die Menschen dort eigentlich erfolgreich geworden sind. Nun werden plötzlich Dinge infrage gestellt und die Grundfeste der Musikhochschulen oder Kunsthochschulen erschüttert. Viele Fragestellungen, die wir diskutiert haben, passen so überhaupt nicht in die Verfahrenswege von Hochschulen. Da muss man in Aushandlungsprozesse gehen. Man kann nicht eben einmal so die Normen dekonstruieren und neu aushandeln. Das wird ein langer Prozess werden.
Susanne Keuchel: Vielen Dank, Herr Grosse. Ich darf jetzt Herrn Udo Dahmen vorstellen. Herr Dahmen, Sie sind Direktor der Popakademie Baden-Württemberg. In den Diskussionen hier wurde immer wieder gesagt, dass gerade die klassische Musik besonders normativ oder stringent aufgebaut ist. Jetzt eine spannende Frage. Ich muss es einmal ganz offen sagen: So viele professionelle Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung im Bereich der Popularmusik fallen jetzt im medialen Bereich auch nicht auf. Wie sieht das bei Ihnen an der Popakademie aus?
Udo Dahmen: Bei uns sind das auch Ausnahmefälle. Wir haben einzelne Studierende mit Behinderung. Wir haben eine blinde Studentin, wir haben einen Schlagzeuger mit Mehrfachberhinderungen, der zwar nicht im Regelstudienzusammenhang eingeschrieben ist, aber an unseren Camps teilnimmt und sehr gut Schlagzeug spielt. Grundsätzlich gilt für uns: Der niederschwellige Zugang zur Popakademie ist für uns Standard und Voraussetzung unserer Arbeit. In der Tat unterscheidet sich die populäre Musik da ganz deutlich von dem, was klassische Musik möchte. Ich finde den Ansatz von Linz interessant [vgl. Beitrag Wüstehube, Anm. d. Pr.], weil er sich mit unseren Erfahrungen deckt. Populäre Musik funktioniert generell immer über die Gruppe. Gleichzeitig ist ein hohes Maß an Individualität eine wichtige Voraussetzung. Bob Dylan hat gestern den Nobelpreis für Literatur erhalten. Keiner wird behaupten, dass Bob Dylan ein herausragender Sänger wäre, das ist er nämlich nicht, aber er ist extrem individuell und sehr expressiv. Allerdings würde auch niemand infrage stellen, dass er ein hervorragender, ein herausragender Songwriter ist. Er ist jemand, der seit 50 Jahren Themen anpackt – und an dieser Stelle gebührt ihm der Nobelpreis. Er ist ein Beispiel dafür, dass populäre Musik über die individuellen Fähigkeiten von Einzelnen hinaus funktioniert. Das schließt zunächst einmal alle Menschen und alle Möglichkeiten ein.
In der Popakademie müssen alle Studierenden vom ersten Tag an komponieren, sie müssen Texte und Noten produzieren. Wir erlauben keine ausschließliche Reproduktion. Bei uns gibt es keine Repertoire-Band, in der man erst einmal Jimmy Hendrix lernt oder die Beatles oder irgendwas anderes Kanonisiertes. Die Studierenden sollen vom ersten Tag an, auch wenn sie nachschöpferisch sind, ihre eigenen Ergebnisse, ihre eigenen Möglichkeiten entwickeln. An diesem Punkt des Schöpferischen müssen wir in Zukunft anders denken. Der größere Teil der Studentinnen und Studenten wird nicht im Orchester oder als Solistin oder Solist tätig sein, sondern sich in eigener freiberuflicher Tätigkeit wiederfinden, in einem Portfolio unterschiedlicher Tätigkeiten.
Susanne Keuchel: Herzlichen Dank! Aber bevor wir jetzt genauer in die Thematik der künstlerischen Qualität einsteigen und in die Frage, inwieweit man diese vielleicht wieder neu definieren muss, möchte ich noch einmal Herrn Saerberg fragen: Sie haben ein Hochschulstudium, aber kein künstlerisches Hochschulstudium, sie sind aber im Bereich Kunst und Kultur sehr rege unterwegs. Würden Sie sagen, dass die künstlerischen Hochschulen noch größere Schwierigkeiten haben als der Hochschulbereich allgemein? Sie haben ja den Vergleich.
Siegfried Saerberg: Der Vorredner hatte etwas angesprochen, was mich jetzt berührt, weil ich Bob Dylan-Fan bin und froh bin, dass er den Preis bekommen hat. Das bringt mich auf den Gedanken, dass Bob Dylan ja nun als Individuum Kunst und schöne Texte geschrieben hat – aber er ist ja auch aus der Folkszene hervorgegangen und das ist der Punkt, der mir wichtig ist. Jenseits von Universitäten gibt’s ja auch noch da draußen die Gesellschaft und in dieser Gesellschaft, da wuselt so einiges umher, mit Birkenstöcken, mit Rollis, mit Hörgeräten und dergleichen. Und die sind auch ganz schön inklusiv unterwegs. Hier fehlen mir so ein bisschen die Helden des Alltags. Ich denke jetzt zum Beispiel an einen blinden Freund aus Köln, der es irgendwie geschafft hat, sich die Volkshochschulgruppe „Trommeln“ partizipatorisch einzuverleiben und sie so umzugestalten, dass er damit klarkommt. Jetzt komme ich ein bisschen auf die Soziologie und auch auf die Ethnologie, komplizierter Begriff. Da heißt es, dass Menschen („the people“), auch in ihrem Alltag methodisch arbeiten und dass sie Strategien entwickeln, ihre eigene Partizipation hinzubekommen, beispielsweise ihre Teilhabe am kulturellen Erbe. Die Hochschulen wären gar nicht schlecht beraten, wenn sie sich einmal anschauen würden, welche Strategien hier angewendet werden. Diese Weisheit des Alltagsempfinde ich noch einmal als eine wichtige Komponente. Deshalb ist mir das hier alles manchmal ein bisschen zu pädagogisch, universitär, akademisch, manchmal auch ein bisschen zu sonderpädagogiklastig. Mir fehlen diese Feasibility Studies zusammen mit der Komponente der Stimme des Volkes. Wir haben in letzter Zeit viel über die negativen Stimmen aus dem Volk gehört, die pegidamäßig demonstrieren. Aber es gibt auch noch die guten Vorbilder, die von der Basis oder aus dem Leben der Gesellschaft kommen, und die die Kultur umsetzen. Ich bin in einem Projekt beteiligt, dem Projekt „Pilot Inklusion“ an der Bundeskunsthalle in Bonn, das dankenswerterweise auch vom BKM gefördert wird. Ich merke, dass ich dort in meiner Rolle zwischen ganz anderen Stühlen sitze. Auf der einen Seite gibt es eine sehr starke Hierarchie in Museen. Selten bemüht sich ein Intendant oder eine Intendantin in unsere Arbeitsgruppen. Es gibt die eine oder den einen, die oder der die Arbeitsgruppen aufsuchen – aber die meisten finden, dass es nicht ihre Aufgabe ist. Das ist der Knackpunkt: Es gibt eingefahrene Hierarchien in wirklich hoch angesetzten Kulturen. Und dann muss ich erst einmal bei meinen blinden Freunden im Blindenkunstverein erreichen, dass wir auch an dieser Stelle kämpfen und nicht aufgeben. Ich muss dann sagen: Leute, wir müssen da kämpfen! Ihr habt zwar viele politische Rechte erkämpft, aber wir müssen auch um kulturelle Rechte kämpfen, und wir fangen damit jetzt an und denken nicht immer gleich, wir sind nur ein Alibi-Projekt. Wir dürfen nicht immer gleich denken, dass wir mit viel Glück gerade einmal eine Skulptur zum Anfassen mit Handschuhen kriegen. Wir müssen da jetzt einmal die dicken Bretter bohren.
Ich bin immer froh, wenn ich an jemanden anknüpfen kann, wie eben an diesen blinden Freund, der uns vermittelt, wie er sich die Volkshochschulgruppe zugänglich gemacht hat. Insgesamt ist das ein langer Weg und ich wäre froh, wenn ein bisschen mehr von dem Wissen oder auch von Einwänden von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft repräsentiert wären. Auch hier in unserer Zuhörerschaft, denn da kann man, glaube ich, noch einmal viel lernen.
Susanne Keuchel: Herzlichen Dank noch einmal für diesen Appell. Es ist ja im Prinzip genau unsere Aufgabe, aus dem Netzwerk heraus diese Übersetzungsleistung zu erbringen. Es geht darum, das, was im Prinzip an der Basis schon hervorragend läuft, auch in die Institutionen zu tragen. Ich bin sehr traurig, dass Professor Haffner nicht hier sein kann, weil ich mit ihm auch im Diskurs war. Wir haben über künstlerische Aufnahmeprüfungen gesprochen und er hat ein Beispiel aus England genannt, das deutlich macht, dass man hier durchaus andere Wege gehen kann. Jetzt würde ich gern Frau König fragen: Sie haben auch keine künstlerische Ausbildung gemacht und die Wege sind hier prinzipiell sehr schwierig. Wie sehen Sie das im Bereich des Tanzes? Was müsste da eigentlich geschehen, dass man hier eine größere Öffnung erreicht? Kennen Sie da schon mögliche erste Brücken im Sinne dessen, was Herr Saerberg eben gesagt hat, nämlich dass es durchaus Initiativen gibt, die begonnen haben, die Hierarchien aufzubrechen?
Gerda König: Im Bereich Tanz ist es in Deutschland sehr schwer. Es gibt keine Hochschule in Deutschland für Tanz, die auch Tänzerinnen und Tänzern mit Behinderung die Möglichkeit einer Ausbildung bietet. Als ich selbst vor 21 Jahren meine Laufbahn begann, gab es gar nichts in der Richtung. Ich habe alles „informell“ gelernt – durch Vertreterinnen und Vertreter von Tanzrichtungen und Workshopleiterinnen und -leiter, die oft aus Amerika oder aus England kamen und in Workshops verschiedene Qualifikationen vermittelten. Ich habe mir viel Tanz und Performance in Tanzwettbewerben angeguckt, um mich weiterzubilden, also Learning by Doing im gewissen Sinne. Es gab für mich keine Möglichkeiten, mich in irgendeiner Form wirklich ausbilden zu lassen. Einige Kolleginnen und Kollegen versuchen seit mehreren Jahren, eine Ausbildung an den Hochschulen zu etablieren. Wir möchten, dass die Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung in das Ausbildungs-Curriculum integriert wird. So weit sind wir leider noch nicht. Wir haben mit verschiedenen Hochschulen Gespräche geführt. Es gibt Hochschulen, die Interesse haben, aber das Umsetzungsproblem ist einfach da. Es kann und sollte nicht so laufen wie Inklusion in den Schulen, wo man gesagt hat, „es ist jetzt öffentlich und alle Schulen müssen inklusiv sein“. Ich glaube, es war ein Fehler, direkt so krass vorzugehen. Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und letztendlich auch die Schülerinnen und Schüler sind überfordert. Man muss eher in kleinen Schritten vorangehen, um auch mehr Erfahrungen zu sammeln um dann wirklich das Weite entwickeln zu können. Meine oder unsere Vorstellung ist eher, dass man versuchen sollte, Module – so wie das jetzt in Osnabrück angedacht ist – wirklich in das Ausgangscurriculum einzubeziehen, sodass Studierende die Möglichkeit haben, mit einer anderen Ästhetik, einer anderen Körperlichkeit, einer anderen Lebensqualität konfrontiert zu werden und dadurch auch ihr tänzerisches Vokabular erweitern können. Mir geht es um Erweiterung und auch um Bereicherung. Ich sehe das nicht nur so, dass wir Tänzerinnen und Tänzern mit Behinderung eine Möglichkeit der Ausbildung bieten, sondern ich sehe es vielmehr als Chance zur künstlerischen Weiterentwicklung für alle, wenn man diesen Schritt gehen würde. Und ich glaube, es wäre sinnvoll, mit Hochschulen zu kooperieren und zunächst einmal den Schritt zu gehen, dass Tänzerinnen und Tänzer mit körperlicher Einschränkung die Möglichkeit haben, sich fortzubilden. Ich rede auch nicht direkt davon, ein ganzes Studium durchzuführen, weil ich denke, dass das auch mit vielen Problemen verbunden ist. Aufgrund einer körperlichen Andersartigkeit, mit der man auch erst einmal lernen muss umzugehen: Wie kann ich mit unterschiedlichen Behinderungsformen eine Tanzausbildung durchziehen? Es sollten erste Erfahrungen in Schritten vollzogen werden, um dann weiterzudenken: Wie kann man das grundsätzlich umsetzen?
Susanne Keuchel: Herzlichen Dank. Jetzt will ich noch einmal ganz konkret nachfragen, denn das finde ich extrem spannend. Sie sagen, sie sind schon in Gesprächen mit einzelnen Hochschulen und es sind noch nicht alle Umsetzungsherausforderungen geklärt. Gibt es da irgendwas, wo man unterstützen kann oder können Sie Ihr Anliegen einmal konkretisieren?
Gerda König: Wir haben ganz konkret mit der Frankfurter Hochschule geredet; sie ist sehr interessiert, aber es geht, wie gesagt, um strukturelle und finanzielle Aspekte. Es geht auch teilweise um versicherungstechnische Aspekte. Wenn sich jemand, der nicht als Studentin oder Student in der Hochschule eingeschrieben ist, also als Gasthörerin oder Gasthörer im Probenraum ein Bein bricht, dann sind sie da nicht versichert. Das sind eher kleine Dinge, die man bestimmt lösen kann, aber es geht einfach darum, auf allen Ebenen weiterzudenken, vielleicht auch Hilfe und Förderung dafür zu bekommen. Es geht einfach um eine Erweiterung im Kopf. Ich glaube, dass es den Hochschulen guttun würde, die Erfahrungen von Menschen mit Behinderung im Bereich künstlerischen Arbeitens zu nutzen. Es geht erst einmal um eine Bereitschaft, das wissen wir alle, aber ich glaube, dass Erfolge durchaus erzielt werden können, wenn Menschen mit einer Beeinträchtigung in einem bestimmten künstlerischen Kontext schon sehr viel Erfahrung haben oder professionell arbeiten. Das könnte dann auch in Berufsschulen umgesetzt werden und alle können daraus lernen.
Susanne Keuchel: Herzlichen Dank. Sie haben noch einmal die Thematik der Ressourcen angesprochen. Das ist natürlich gerade bei den künstlerischen Hochschulen, denke ich, eine besondere Herausforderung, allein durch die Aufnahmeprüfung. Für ganz viele Menschen mit Behinderung – das klang ja schon in einigen Vorträgen heute Morgen an – ist es ein Traum, eine künstlerische Ausbildung zu erlangen. Dagegen stehen die Selektionsprinzipien der Zulassung in den künstlerischen Hochschulen, und hier kommen wir ja auch direkt in den Bereich der Kriterien für Qualität. Sie hatten es ja auch schon gestern punktuell angesprochen – ich fand das beeindruckend zu fragen, warum muss ein Sänger überhaupt als Nebenfach Klavier belegen? Da gibt es ganz viele strukturelle Ebenen, die nicht nur für Begabte mit Behinderung, sondern für künstlerisch Begabte insgesamt gleich spannend zu überdenken wären. Es kamen heute Morgen hier auch noch ein paar Anregungen. Hätten Sie da konkrete Vorschläge, wie man vor allem den Bereich der Zulassung und die Fragen der künstlerischen Qualität angehen könnte, Herr Grosse?
Thomas Grosse: Ja, man kann natürlich konkrete Vorschläge machen, die allerdings immer darauf fußen, dass wir im Grunde genommen den Kanon ändern. Das heißt, das geht eigentlich nicht, ohne dass man den Gegenstand dessen, was gelehrt wird, an vielen Hochschulen erst einmal nicht grundsätzlich infrage stellt, aber zumindest erweitert. Um es ganz kurz zu differenzieren: Es gibt ziemlich viele Menschen, die an einer Kunst- oder Musikhochschule eine Aufnahmeprüfung machen, weil sie pädagogisch arbeiten möchten. Es wollen nicht alle Künstlerinnen und Künstler werden, doch trotzdem haben wir an den künstlerischen Hochschulen die Eignungsprüfungen erst einmal als das Eingangstor, mit dem man überhaupt erfassen kann, ob wir jemanden zur Bewältigung des Kanons, den wir anbieten, für geeignet halten. Ich denke, das Erste müsste sein, dass man tatsächlich diskutiert, welche Fächer erweitert werden können, und um welche Inhalte sie erweitert werden könnten. Ein Kollege hat mich beispielsweise auf die Idee gebracht, darüber nachzudenken, ob Turntablism, also DJing, nicht auch als ein musikalisches Hauptfach, zum Beispiel für Schulmusik zugelassen werden könnte, weil wir alle wissen, dass es nicht weniger anspruchsvoll ist als das Spielen sehr vieler Musikinstrumente. Trotzdem ist das in den Köpfen noch gar nicht drin, dass jemand, der als DJ sogar Musik neu kreiert, künstlerisch tätig ist – an einer klassischen Musikhochschule würde die Mehrheit das jedenfalls anders sehen, das ist einfach so wegen des Umfelds. Das ist der eine Punkt.
Der zweite Punkt ist natürlich tatsächlich diese schwierige Frage nach künstlerischer Qualität, die ohnehin schwierig zu messen ist. Auch der gestrige Vortrag von Frau König wies darauf hin, dass wir über Qualität reden und darüber, wie wir Qualität erhalten wollen. Das jedoch ist auch immer eine Zuschreibung, die wir vornehmen; wir konstruieren somit auch immer, Werturteile. Und solange wir so denken, kommen wir mit den Aushandlungsprozessen nicht weiter. Wenn jemand sagt, dies oder jenes „reicht qualitativ nicht aus“, dann gilt bei der Eignungsprüfung die Freiheit der Hochschullehre und der Hochschulzugang ist versperrt. Es sind Menschen, die entscheiden. Der Vortrag von Frau Bianka Wüstehube ging in diese Richtung. Sie hat eine Musiklehrkraft neuen Typs skizziert – so nenne ich das jetzt einmal. Ganz neu ist das zwar nicht, wir reden da schon seit zehn, zwanzig Jahren drüber, aber manchmal dauern die Dinge ein bisschen. Und diese Musiklehrkräfte oder allgemein die Lehrkräfte neuen Typs, die orientieren sich weniger am Gegenstand und mehr an der Gruppe der Schülerinnen und Schüler. Es gibt einen Perspektivenwechsel. Wenn man mit diesem Blick auch in künstlerische Prozesse hineingeht, dann werden die neuen Ideen viel leichter wirksam.
Als Folge einer solchen Ressourcenorientierung in der Musik- oder Kunstausbildung würden wir ganz andere Stellenprofile als bisher brauchen. Und das wäre ein grundsätzlicher Wechsel, den man erst einmal hinbekommen muss. Wenn diese anderen, neuen Haltungen da sind, dann brauchen wir tatsächlich in Bezug auf die Musik noch einmal diese Fragen nach dem Wertbegriff, dem Kunstbegriff, nach der Reproduktion usw. Ich habe es gestern auch schon gesagt: Es tut mir leid, dass das Ganze so komplex ist, dass man nicht nur an einer Stelle die Schraube drehen kann. Man muss die grundsätzliche Haltung, die grundsätzliche Bereitschaft haben zu sagen: Wir nehmen Menschen mit Behinderungserfahrungen deshalb ernst, weil sie auch andere künstlerische Ansätze vertreten, vielleicht weil sie andere Zugänge zum Leben, zur Gesellschaft haben. Und dies als Bereicherung zu erfahren und zu erleben, wäre die Grundvoraussetzung. Das ist ein Kreislauf, ich weiß jetzt nicht, wo ich da eingreifen soll. Denn alle Aspekte bedingen sich gegenseitig. Ich denke, dass wir vor allen Dingen über konkrete Beispiele im Rahmen von Kooperation ein paar Menschen dafür begeistern können, in einer Hochschule mit studierenden Praxisgruppen im inklusiven Bereich zu gucken: Was können wir da machen? Zu sehen, was dort passiert und zu erleben, dass es ein „Mehr“, ein „Add-on“ gibt, dass es plötzlich um Begegnung geht, um Aspekte, die im Raum stehen, aber noch niemand richtig verbalisiert hat.
Wir sprechen in diesen Tagen permanent von Kunst als sozialer Praxis. Wenn ein Pianist Rachmaninow spielt und wir sitzen alle da wie in der Kirche und hören uns das an, ist das ja auch eine soziale Praxis. Wenn, wie Sie gestern sagten, Frau König, alle künstlerischen Prozesse Teil der Gesellschaft sind, dann müssten wir eigentlich darüber reden, wie wir diesen Teil der Gesellschaft in unsere Hochschulen hineinbekommen, damit die Hochschulen auch Lust bekommen, hinauszugehen. Von allein werden sie das nicht tun, da sind sie sich selbst genug.
Gerda König: Ich glaube einfach, dass die Hochschulen begreifen müssen, dass es nicht um ein Wohlwollen geht, Menschen mit Behinderung zu integrieren. Mir geht es darum nicht. Es geht mir darum, ein Umdenken dahingehend zu schaffen, dass die Integration von Menschen mit Behinderung für die Studierenden an den Hochschulen – egal für welche Kunst, Musik, Tanz oder Theater, eine Erweiterung der künstlerischen Auseinandersetzung bedeuten kann. Ich will versuchen, den Direktorinnen und Direktoren an den Hochschulen zu vermitteln, dass Erfahrungen, die ich mit Menschen mit Behinderung sammeln kann, für alle Studierenden eine Erweiterung und Bereicherung für den künstlerischen Prozess darstellen.
Susanne Keuchel: Dieser Aspekt kam heute Morgen beim Vortrag von Frau Wüstehube auch zum Tragen. Studierende an den Musikhochschulen zeigen sich ganz neu in ihrer Musik, in der Wahrnehmung und überhaupt in neuen Fertigkeiten wie zum Beispiel in der Improvisation. Ich würde jetzt aber gern auch noch einmal Herrn Dahmen fragen: Auch die Plätze in der Popakademie sind ja limitiert. Wie sieht diese Ausnahme in der Aufnahmeprüfung aus und wie würdest Du sie im Kontext der Zugänglichkeit für Personen mit Behinderung bewerten? Daran schließt sich die Frage nach der künstlerischen Qualität an.
Udo Dahmen: Ich fange einmal mit der künstlerischen Qualität an. Die ist natürlich Bedingung. Einerseits ist unsere Aufnahmeprüfung sehr selektiv, da wir eine Vielzahl an Bewerberinnen und Bewerbern haben, andererseits versteht sich die Akademie holistisch und offen für unterschiedliche Richtungen; deshalb gibt es immer Diskussionen. Wenn eine blinde Künstlerin zu uns kommt, dann arbeiten wir daran, wie wir in Bezug auf räumliche und inhaltliche Voraussetzungen und auf Gruppenprozesse die Situationen sinnvoll und sinnstiftend gestalten können. Das sind bei uns immer Einzelfallentscheidungen. Da unsere Kurse sehr klein sind und wir unsere Gruppen individuell unterrichten, können wir auch relativ individuell vorgehen. Mir liegt sehr, sehr viel daran, dass wir solche Dinge in Gang bringen. Ich komme noch einmal auf das Beispiel des Schlagzeugers zurück, der nicht im Regelstudium war, aber an den Camps teilnahm, die wir international und für unterschiedliche Hochschulen zugänglich machen -– wir haben ja ungefähr 20 Hochschulkooperationen. Dieser Schlagzeuger, der ständige Unterstützung braucht, war für uns aber so gut, dass die anderen Musiker ihn unbedingt dabeihaben wollten. Das war ein echter Gewinn für die Band. Er war der „Sunnyboy“ in der Band und gleichzeitig im Timing so sicher und so gut in seinem Zusammenhang, dass er für uns eine große Bereicherung war. Er kam nicht nur einmal, sondern zweimal in die Kurse. Ihm selbst hat es sehr viel gebracht und der Zusammenhang hat einfach gestimmt.
Ich bin ein bisschen traurig darüber, dass wir nicht öfter solchen Zulauf haben. Das hängt natürlich mit der Angebot- und Nachfrageseite zusammen. Wir müssen an der Stelle unsere Angebotsseite verstärken – das nehme ich heute so mit. Aber ich will auch noch sagen, dass ich Inklusion nicht anders sehe als Integration. Jede und jeder von uns hat individuelle Möglichkeiten, Fähigkeiten und möglicherweise auch Begrenzungen, aber vor allen Dingen Fähigkeiten. Wir müssen da individuelle Wege gehen, die sich in der Regel in den Gruppen, in den Bands, wieder kreuzen. Wir haben über 50 Bands im Haus, die sich selbst bilden, wir haben Systeme dafür, wie wir die unterschiedlichsten Leute zusammenführen. Wir haben Leute, die gern Weltmusik spielen, Leute, die noch kein Deutsch sprechen – auch da finden wir Überbrückungswege. Ich habe zurzeit syrische Studierende im Haus und da gelten Inklusionsgedanken oft in gleicher Weise.
Thomas Grosse: Ich wollte noch ganz kurz entgegnen, Herr Dahmen, weil ich hier etwas gelernt habe. Ich habe verstanden, dass es in der vorwiegend nicht reproduzierenden Musikausübung – darüber haben wir lange im Workshop diskutiert – nicht anders ist als in der klassischen Musik. Eine blinde Studentin oder einen Posaunisten mit Gehbehinderung kann jede Hochschule vorweisen – überall gibt es Einzelfälle. Das heißt, die Diskussion, die wir gestern hatten – die Barrieren in der reproduzierenden Kunst: „kann ich im Symphonieorchester spielen oder nicht?“ – scheinen gar nicht so stark ausgeprägt zu sein, wie wir das gestern vermutet hatten. Das finde ich sehr spannend. Und dann, weil Reproduktion jetzt gerade das Thema ist: Sie hatten gesagt, dass auch die Absolventinnen und Absolventen klassischer Musikhochschulen freiberuflich arbeiten müssen – das ist richtig und das ist auch bedauerlich. Die Situation wird immer schlechter, aber das hat auch nichts mit Reproduktion versus freies Musikschaffen zu tun.
Susanne Keuchel: Ich würde gern noch einmal einen Aspekt aufgreifen, bevor ich die Diskussion für alle öffne, nämlich die Frage der Haltung. Ich weiß, Herr Saerberg, Sie sind Berater bei der Bundeskunst- und Ausstellungshalle, das ist jetzt im engeren Sinne kein Ausbildungsbetrieb, aber hier steht die Rezeption ja im Vordergrund. Und auch da muss man neue Rezeptionsmöglichkeiten für Menschen mit Beeinträchtigung schaffen. Die Frage: Wie erleben Sie das im Alltag? Schaffen Sie eine Haltungsänderung quasi durch die bloße Thematisierung von Behinderung? Schaffen Sie durch die Tatsache, dass man neue Publikumsgruppen anspricht, indem man beispielsweise auch Ausstellungen für blinde Zuschauerinnen und Zuschauer ermöglicht, auch eine Haltungsänderung? Gibt es Strategien, die Sie auch einmal im Alltag erlebt haben, die gut dafür geeignet wären, Veränderungsprozesse positiv zu beeinflussen?
Siegfried Saerberg: Bei diesem Projekt mit der Bundeskunsthalle in Bonn haben wir Fokusgruppen gebildet, zum Beispiel mit blinden Rezipienten – wobei der Begriff „Rezipient“ oder „Rezipientin“ meiner Meinung nach ein bisschen schwierig ist, ich denke lieber an den „aktiven Rezipienten“ oder „aktiven Rezipientinnen“, der oder die in einer solchen Gruppe dann beispielsweise sagt: Was wollen wir in dem Museum? Welche Medien sind für uns spannend? Wir haben auch andere Fokusgruppen gebildet, wie zum Beispiel im KUNSTHAUS KAT18 in Köln. Da sind hochbegabte Künstlerinnen und Künstler mit Lernschwäche beteiligt, sie haben eigene Werke zu einer Pina-Bausch-Ausstellung für eine eigene Ausstellung angefertigt. Wir haben ihre Auseinandersetzung mit Kunst und ihre Rezeption in Kunst umgesetzt – und wir haben tatsächlich die Nachfrage nach solchen Prozessen erst einmal hergestellt, um hier einmal Termini von Angebot und Nachfrage zu bemühen. Indem ich in der Disability Community das Interesse, die Lust auf Kultur und auf Partizipation an der Kultur wecke, sage ich den Leuten: Ihr könnt etwas gestalten, ihr seid nicht die Ohnmächtigen, nicht die ausgeschlossenen Opfer. Bei Blinden ist das ganz extrem, weil Kunstmuseen super visuell sind und davon hast du als Blinder erst einmal gar nichts. Da muss etwas geschehen, weil man sonst wirklich ausgeschlossen ist, wenn man überall nur Schaukästen und Bilder hat, von denen man Abstand halten muss. Hier gibt es aber mittlerweile viele Gegenströmungen und neue Ausstellungsmöglichkeiten. Da muss man sich auch in unseren Kreisen erst einmal bewusstmachen, dass man einen Sinn in kulturellen Aktivitäten sieht. Ich fände es sehr gut, wenn man vonseiten der Hochschulen neue Angebote entwickelt. Warum nicht mit erfahrenen Kunsthäusern zusammenarbeiten, in denen es bereits hochbegabte Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung gibt? Mit ihnen kann man Programme auch für die Hochschulen entwickeln. Solche Programme sollten dann natürlich auch anständig wissenschaftlich begleitet werden, sodass man die Lehren daraus in andere Hochschulen übertragen kann. Das wäre im Grunde ein ganz einfacher Weg. Es gibt ja auch schon Beispiele – und eine Unterstützung der Kunsthochschulen durch empirische Sozialwissenschaften wäre gar nicht verkehrt. Erst also einmal beobachten und dann Muster bzw. Beispiele entwickeln, wie der Weg der Inklusion sinnvoll beschritten werden kann.
Susanne Keuchel: Da leuchten natürlich meine Augen – wie viele wissen, komme ich ja aus der empirischen Kulturforschung. Ich bin von Haus aus Musikwissenschaftlerin und Soziologin und ich kann mich erinnern: Eine meiner ersten Forschungsstudien, die ich beim Zentrum für Kulturforschung durchgeführt habe, war damals eine Studie zu Gender Studies. Wir haben ganz einfach gezählt, wie viele weibliche Studierende an den künstlerischen Hochschulen waren. Wir haben geguckt, wie es bei den Dozentinnen und Dozenten aussieht, bei den Professorinnen und Professoren, bei der Leitung, wir haben geguckt, wie es im Bereich der künstlerischen Sammlungen aussieht, wie viele männliche und wie viele weibliche Künstlerinnen und Künstler dort vertreten waren. Ergebnis: Vergleichsweise wenig. Dann gab es eine interessante Entwicklung. Aufgrund der Studie hat der Bund gesagt, wir achten jetzt darauf, dass in den Jurys der Bundeswettbewerbe auch weibliche Jurymitglieder vertreten sind. Wir haben diese Studie regelmäßig weitergeführt und es hat sich tatsächlich eine Entwicklung gezeigt. Sie ahnen wahrscheinlich schon, warum ich das sage – und jetzt die Frage an Frau König: Haben Sie aktuell eigentlich einen Lehrauftrag an einer künstlerischen Hochschule?
Gerda König: Nein, leider noch nicht. Das würde uns bestimmt Spaß machen. Es wäre sicher sinnvoll, an uns heranzutreten. Wir haben in 21 Jahren viel Erfahrung gesammelt und können unser Wissen weitergeben, auch an die Dozenten und Dozentinnen von Hochschulen. Ich verstehe durchaus, dass Angst vorhanden ist – egal ob man jetzt Lehrerin oder Lehrer an der Realschule oder an einer Universität ist. Wie soll ich denn jemanden unterrichten, der eine Spastik hat? Es ist auch nicht schlimm, dass man davor Angst hat. Aber man sollte sich Rat holen von Leuten, die damit Erfahrung haben, und die sagen, so oder so kann man das machen. Man kann Ideen geben und Auseinandersetzung schaffen, um da auch einfach den Umgang miteinander zu entwickeln. Das ist nicht anders als in Linz. Frau Wüstehube hat heute Morgen erzählt, wie an der Musikhochschule mit der Improvisation zuerst alle überfordert sind, weil sie das nie ausprobiert haben und gar nicht wissen, wie sie damit zurechtkommen sollen. Ich glaube aber, dass es genug Möglichkeiten gibt, das zu schaffen, dass Dozentinnen und Dozenten an Universitäten sich dann auch sicherer fühlen und sagen: „Ja, wir können das“. Und die Direktion genauso. Dazu braucht es in den künstlerischen Bereichen allerdings die Erfahrung der Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung.
Susanne Keuchel: Die Erfahrungen aus der Studie gelten generell: Will man eine Haltungsveränderung erreichen, muss sich die Vielfalt der Gesellschaft innerhalb der Strukturen widerspiegeln. Dann ergibt sich die Haltungsänderung häufig von ganz allein. Ich verweise auf die genannte Studie und auf den Bereich Komposition und weibliche Dozentinnen. Da hat sich was getan. In dem Moment, in dem eine Professorin den Fachbereich betritt, kommt man eher auf andere Ideen. Das hat Jana Zöll auch so beeindruckend gesagt. Wenn die Dozentinnen und Dozenten selbst eine große Breite der Vielfalt vertreten, kommen alle auch eher auf andere Ideen. Deshalb meine letzte Frage an die beiden Hochschulvertreter: Wie viele Dozentinnen und Dozenten mit Behinderung sind denn aktuell im Lehrpersonal an ihren Einrichtungen vertreten?
Thomas Grosse: Mit sichtbarer Behinderung niemand. Und der Rest unterliegt zunächst dem Datenschutz. Wir haben natürlich Professorinnen und Professoren mit Schwerbehinderung, wobei die Schwerbehinderung häufig auch Folge einer Erkrankung ist. Nach einer Krebstherapie kann man zum Beispiel auch als „schwerbehindert“ anerkannt werden. Aber wir haben aktuell niemanden, der sichtbar einen Rollstuhl benötigt oder sehbehindert bzw. blind ist. Insofern ist die Frage ein bisschen verfänglich. Wenn wir auf Behinderung in dem Kontext schauen, wie wir ihn hier diskutieren, sind wir bei null Prozent.
Susanne Keuchel: Kurze Nachfrage: Würden Sie künftig darauf achten oder ist es im Gespräch, dass man stärker auf gleiche Teilhabe setzt?
Thomas Grosse: Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir zum Beispiel bei jedem Berufungsverfahren den Gleichstellungsparagrafen „Menschen mit Behinderung“ ernst nehmen. Selbstverständlich wird bei uns in jedem Verfahren jemand, der eine Schwerbehinderung anzeigt, eingeladen. Wir setzen uns auch ausgesprochen sorgfältig mit den jeweiligen Fragen auseinander. Es gibt allerdings Bewerberinnen und Bewerber, denen die Eignung evident fehlt. Aktuell gab es ein Verfahren, in dem wir hocherfreut waren, eine sehr hoch qualifizierte Bewerberin mit Schwerbehinderung dabei zu haben. Wir müssen ja auch in die Lage versetzt werden, jemanden mit Behinderung einzustellen. Es ist nicht so, dass wir das nicht wollen. Bei 100 Bewerbungen hat man manchmal 90 nicht qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber, und wenn da eine Person mit Schwerbehinderung darunter ist, dann ist das anteilig nicht überraschend. Die Hochqualifizierten in der Gruppe der Menschen mit Schwerbehinderung zu finden, ist nicht so einfach.
Susanne Keuchel: Das ist ja die Problematik des Kreislaufs, den wir hier diskutieren. Wie sieht es in der Popakademie aus?
Udo Dahmen: Letztendlich nicht anders. Wir unterliegen genau den gleichen Zusammenhängen. In jedem Bewerbungsverfahren sind wir gehalten, Menschen mit Behinderung gleichermaßen zu behandeln oder dann auch vorzuziehen, wenn gleiche Bedingungen vorhanden sind. Bei den insgesamt sechs hauptamtlichen Professorinnen und Professoren und den Dozentinnen und Dozenten, die zu uns als Honorardozentinnen und -dozenten kommen, gibt es niemanden mit einer Behinderung oder Schwerbehinderung.
Thomas Grosse: Im Bereich des Verwaltungsbereichs ist es übrigens etwas anders. Da sind wir ungefähr wie eine normale öffentliche Verwaltung aufgestellt. Aber Ihre Frage ging ja eigentlich Richtung Lehre, oder?
Susanne Keuchel: Ja, um die Vorbildfunktion in der Lehre. Nun die Öffnung der Diskussion für das Publikum. Wer hat Fragen?
T 1: Ich würde gern an Frau Keuchels glänzende Augen anknüpfen und einen vorsichtigen Hinweis geben wollen. Sowohl bei Gender Studies als auch in allen anderen Kontexten würde ich vorsichtig sein wollen bei allem, was in Richtung Quote geht. Wir zählen gern, aber sollten bei dem Zählen nicht aufhören. Die Thematik, die wir behandeln, ist doch so komplex, dass wir auf die Struktur dahinter hinweisen müssen, wenn wir wirklich mit einem pluralistischen Gedanken darangehen wollen. Da sind wir wieder beim Thema, das Herr Grosse angesprochen hat. Wann ist was bei Behinderung sichtbar oder nicht? Da hätte ich gern eine Ergänzung zu den Zahlen.
Thomas Grosse: Brichst Du eine Lanze für eine komplexere Diversitätsbetrachtung?
T 1: Und für komplexere Forschungsfragen, ja. Wir müssten die gesamte Debatte ausweiten. Es geht immer um Integrations-, Inklusions- und Diversitätsrahmen und eigentlich müsste man tatsächlich viel weiter denken.
T 2: Elisabeth Braun. Ich setze jetzt den Bezug auf die „leuchtenden Augen“ fort und erinnere daran, dass ich im Zustand völliger politischer und künstlerischer Naivität 1968 an der Musikhochschule war. Dieser Zustand war ganz ähnlich zu dem, den wir heute haben. Wir hatten damals (zum ersten Mal?) die Möglichkeit, relativ schnell aus Diskussionen Konsequenzen zu ziehen. Es gab einzelne Studierende, die den Muff abgeschafft und gesagt haben: WIR machen die Seminare. Wir haben versucht, das gängige Repertoire umzustülpen, haben uns zum Beispiel einen verrückten Künstler eingeladen, der mit uns über mehrere Seminareinheiten Blockflöte in sämtlichen Körperlagen spielte, und wir hatten Dozentinnen und Dozenten dabei, die zwangsweise die Umkehr von Verhältnissen miterleben mussten. Diese ganz kurzen, episodischen Dinge, die sowohl politisch hochbrisant waren als auch im methodischen Bereich unheimlich viel Erfahrungen gebracht haben, würde ich gern auf heute übertragen wollen – in dem Sinne, dass ich sage: Es ist, glaube ich, zu viel verlangt, wissenschaftliche Forschung an Musikhochschulen im klassischen Sinne durchzuführen, so wie Hochschulen das tun. Wäre nicht der Laborbegriff nützlich? Jede künstlerische Hochschule hat eine Art Labor statt einer reinen „Forschungsstätte“; Labor heißt eine offene Erprobungssituation mit Möglichkeiten jeder Form für Performance und Kooperation als verbindliches Modul für sämtliche Studiengänge. Im Labor kann mit allem gearbeitet werden – in Kooperation mit Museen, mit Musikschulen, mit Einrichtungen der Behindertenhilfe, was auch immer. Es läuft ein bisschen außerhalb des Normalen, ist aber verpflichtend, sodass man in jedem Fall auf bestimmte Probleme gestoßen wird. Ich habe jetzt nur das Beispiel von einem uralten sozialpädagogischen Projekt an einer Fachhochschule „Bindeschuh“ im Kopf, wo studentische Medienmenschen alles Mögliche mit den Menschen mit Behinderung am PC gemacht haben. Die Idee eines ausgestatteten Labors, eines Raums, eines „Spielplatzes“ fände ich einen Brückenbegriff für das, was wir wollten. Und wollen.
Thomas Grosse: Das schließt sich nicht aus. Forschung qualitativer Art ist ja auch empirisch. Natürlich geht es nicht nur ums Zählen. Solch eine Forschung muss dann nach den Kompetenzen der Akteurinnen und Akteure fragen. Was bringen die Hochschulen an aktivem Handeln ein? Was bringen aber auch die Studierenden mit Behinderung an aktiven Komponenten mit ein? Man muss die Dinge von beiden Seiten betrachten. Es geht nicht, dass man nur sagt, hier kommt der Input von der Hochschule und fragt, wie er von den Studierenden bewertet wird. Es muss ein neues Geflecht von Fragen geben; an die Analyse muss man mit modernen Konzeptionen herangehen. Es muss keine Überforderung für eine Kunsthochschule sein, solche Projekte zu machen – natürlich auch mit einem solchen Laborcharakter. Moderne Forschung wird ja auch reflexiv sein und würde auch Impulse zurückgeben an die Hochschule und dieses Handlungskonglomerat. Ich sehe da gar keine Widersprüche.
Udo Dahmen: Wir haben solche Situationen in unserem Master-Studiengang Populäre Musik, in dem die Studierenden gehalten sind, solche Laborsituationen herzustellen. Das ist in gewisser Weise Standard. Den Laborgedanken finde ich insgesamt sehr, sehr spannend – vor allem unter bestimmten Gesichtspunkten, wie Inklusion, Integration usw. Tatsächlich ist es heutzutage so, dass in unseren künstlerischen Masterstudiengängen – zumindest in unserem Haus – der wissenschaftliche Anteil doch relativ hoch ist. Obwohl die Musikerinnen und Musiker aktive Musizierende sind, sollten sie sich gleichermaßen auch inklusiven Projekten widmen.
Thomas Grosse: Bei uns gibt es die Lücken auch, dazu noch einmal ein Dankeschön für die Labor-Idee, weil es mir gerade noch einmal hilft zu konkretisieren. In Detmold diskutieren wir gerade sehr aktuell, ob wir uns an einem Community-Music-Programm beteiligen, weil es die Öffnung der Lehre für die ganze gesellschaftliche Breite in die Hochschule hineinbringen würde. Wir werden wahrscheinlich den Umweg über Weiterbildung gehen müssen. Es ist häufig so, dass die Weiterbildung so etwas wie ein Spielbein ist. Man kann ja auch curriculare Dinge entwickeln, um sie dann in den Wahlpflichtbereich der Hochschule zu integrieren. Zum Beispiel gibt es ein interessantes Projekt von „Bindeschuh“ [vgl. Projekt „Bindeschuh. Kulturarbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung“, Hochschule Fulda, Fachbereich Sozialwesen www.bindeschuh.de, Anm. d. Pr.] zum baskischen Nationalinstrument Txalaparta. Das wäre für unsere Schlagzeuger eine wunderbare Herausforderung, denn obwohl das Instrument ein Volksinstrument ist, ist das Spiel darauf hoch komplex. Im Bereich Neue Musik, also in der experimentellen Musik, hauptsächlich in den Bereichen Schlagzeug und Komposition, sind viele Dinge offener und da finden sich auch genau die Fäden, die man aufnehmen und mit inklusiven Projekten verknüpfen könnte. Der klassische Bereich ist noch eher verschlossen. Hier käme man mit dem Thema Inklusion nur über Wahlpflichtmodule hinein. Die müssten die Studierenden dann auch tatsächlich wählen. Oder man macht Pflichtmodule. Dann haben wir ganz andere Diskussionen, denn dann würden bestimmte andere Dinge wegfallen müssen, die auch gebraucht werden. Das wären schwierige hochschulinterne Prozesse. Solange die Hochschulen selbstverwaltet sind, reden wir von Überzeugungsarbeit – und die ist mühsam.
T 3: Jetzt frage ich erst einmal Herrn Saerberg. Ich würde gern wissen, warum sie gar nichts über die Ausstellung „Touchdown21“ erzählen, die demnächst in Bonn beginnt? Die finde ich doch ganz wichtig, weil das auch Ihre Tätigkeit betrifft. Und die andere, ein bisschen provokative Frage: Warum glauben Sie, dass Dozentinnen und Dozenten oder Lehrerinnen und Lehrer mit Behinderung bessere Lehrende sind als andere Lehrende? Das ist vielleicht nicht so gemeint gewesen, aber diese Frage, welche Lehrkräfte im Zusammenhang der Ausbildung für Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung unterrichten, wird für mich nicht schlüssig.
Susanne Keuchel: Ich antworte direkt auf die letzte Frage, gebe die Antwort aber gerne auch weiter. Also, ich kann nur auf diese Erfahrung im Zusammenhang mit den Gender Studies setzen. Es geht ja gar nicht um fachlich bessere oder schlechtere Dozentinnen und Dozenten, die künstlerische Qualität oder pädagogische Qualität muss ja von Vornherein gegeben sein. Aber die Vorbildfunktion ist zentral. Bei der ersten Genderstudie 1978 war ich noch gar nicht dabei, da gab es kaum Professorinnen in diesem Bereich, geschweige denn in Komposition oder Posaune. Es gibt bestimmte schwarze Löcher, die bis heute noch existieren. Dadurch, dass Professorinnen berufen werden, kommen Frauen überhaupt auf die Idee: Das ist ein Beruf für mich. Ich würde die Frage gern auch an Frau König weitergeben.
Gerda König: Wir haben folgende Erfahrungen: Wenn wir mit Tänzerinnen und Tänzern mit Behinderung arbeiten und es um Kritik oder Korrektur geht, wenn man also einfach von außen sieht, dass der- oder diejenige das eigentlich besser kann – dann wird die Kritik von meiner Seite viel eher angenommen als von meinem Kollegen ohne Behinderung. Ich sitze in demselben Boot und wenn ich sage: „Du hast da mehr Potential“ oder „Das reicht nicht“, dann wird es eher angenommen, als wenn mein Kollege ohne Behinderung das sagt. Umgekehrt ist es so, dass manchmal – ich habe das bei einem Solo erlebt, das ich für einen Tänzer ohne Behinderung gemacht habe – auch die Kollegin ohne Behinderung anders akzeptiert wird. Eine Kollegin hat einmal einem Tänzer, den wir sehr gepusht haben und der völlig fertig war, gesagt, er solle die Szene noch einmal machen. Mir ging die Kinnlade herunter und ihm auch, aber er hat hinterher gesagt, dass er es nicht angenommen hätte, wenn ich das gesagt hätte, weil ich aufgrund meiner physischen Voraussetzung nicht wirklich erkennen oder wissen kann, wie weit ich gehen kann. Das ist das Gegenbeispiel. Ich denke, es ist im Unterrichten sehr wichtig, dass man in einer gemischten Gruppe auch mit gemischten Dozentinnen und Dozenten arbeitet. Dann kann man diese Sachen noch mehr pushen, eine größere Vertrauensebene und mehr Bereitschaft schaffen. Das ist sehr wichtig.
Siegfried Saerberg: Ganz kurz noch zu „Touchdown21“, eine fantastische Ausstellung. Ich bin einfach in dieses Projekt nicht involviert; es ist eine Parallelaktion zu den Projekten, in denen ich unterwegs bin. Deshalb habe ich nicht darüber gesprochen.
T 4: Ich bin ja nun eine Betroffene. Ich habe mein Studium an einer Musikhochschule gemacht. Ich bin durch die Mühlen gegangen und ich durfte wegen meiner Behinderung auch jedes Jahr vorspielen und nicht nur alle zwei, drei Jahre und ich habe auch eineinhalb Jahre länger gebraucht für mein Studium als die anderen, und habe mit Hängen und Würgen mein Diplom bekommen. Danach bin ich überhaupt nicht mehr auf die Idee gekommen, noch weiter zu studieren, weil ich es einfach leid war. Als ich da herausgegangen bin, habe ich gesagt: Ich lasse mich nie wieder prüfen in meinem Leben! Im Rahmen der Hochschule war es auch vollkommen indiskutabel, möglicherweise noch eine weitere künstlerische Ausbildung zu machen. Das brauchte gar nicht gesagt werden, das wurde mir eigentlich permanent vermittelt – außer von meinem Hauptfachdozenten, der mich gefördert hat, wo er konnte. Und dann kam der soziale Druck dazu. Als ich fertig war mit dem Musikstudium – in die Musikschulen kam man nicht mehr hinein Ende der 1990er Jahre – musste ich zusehen, wie ich mein Leben finanzierte. Ich hatte die luxuriöse Situation, für mein Studium ein Stipendium zu haben. Dafür bin ich immer noch extrem dankbar, weil ich das erste Mal in meinem Leben regelmäßig Geld bekommen habe, von dem ich auch leben konnte. Und nach meinem Studium musste ich zusehen, durch meine Arbeit dieses finanzielle Niveau überhaupt wieder zu erreichen. Das war nicht einfach. Man kämpft sich durch und versucht, das zu machen. Aber es gibt Ressentiments gegen eine Lehrerin mit Behinderung für Leute ohne Behinderung – das ging bis zum Mobbing. Ich war froh, mein Diplom vorweisen zu können, weil Leute plötzlich auf die Idee kamen, ich müsste doch erst einmal vorspielen, wenn ich in einer Schule unterrichten wollte. Das kam aus Kreisen der Fachkolleginnen und -kollegen, die halt Konkurrenz fürchteten. Im Nachhinein stellte sich heraus, ich hatte ein Diplom, ein Kollege nicht.
Natürlich würde ich gern auch eine akademische Laufbahn einschlagen, aber ich kann mir das einfach nicht leisten, ganz schlicht und ergreifend. Da müsste man Wege für die Weiterqualifizierung finden, um überhaupt auf dem Niveau, was man sich erkämpft und erarbeitet hat, einsteigen zu können. Also, ich bin froh – ich lebe jetzt nicht mehr am Rande des Existenzminimums, aber das ist noch nicht lange so. Das hat lange gedauert und es ist nach wie vor ungesichert. Ich arbeite mit Honorarverträgen, über die Künstlersozialkasse abgesichert. Und wie die Absicherungen aussehen, denke ich, wissen die meisten.
Susanne Keuchel: Ich habe hier jetzt noch eine Wortmeldung und dann möchte ich dem Podium auch noch einmal die Möglichkeit geben, auf die Anregungen zu antworten, die jetzt kamen.
T 5: Ich arbeite beim Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter (kubia) und Inklusion im Institut für Bildung und Kultur (ibk) und bin seit Juni 2016 im Schwerpunkt „Inklusionsarbeit – die inklusive Kultur erweitern in Nordrhein Westfalen“ tätig. Ich möchte mich erst einmal der Aussage anschließen, wie schwierig der Zugang zum Studium ist. Ich weiß, dass ich mich gestern schon unbeliebt gemacht habe, weil ich gesagt habe, wie es ist, und das ist nicht immer schön. Es ist vor allem nicht schön, weil ich mich auch vor 20 Jahren schon für Integration eingesetzt habe. Sehr viele andere Menschen haben das auch getan und man kann sich dann sehr schwer damit tun, diplomatisch zu bleiben und dann sehr ausgewählt und wissenschaftlich von vorne bis hinten fundiert zu erklären, warum es durchaus inzwischen sinnvoll wäre, nicht Grundsätze der Inklusion durchzusetzen. Ich hoffe, dass Sie sich dann – bei all Ihren Mühen – nicht vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn wir einfach einmal sagen: Das ist doch einfach nicht gut, das muss doch jetzt einmal funktionieren. Barrierefreie Webseiten, Zugänge usw., einfach bessere Zugangsmöglichkeiten. Das ist dann manchmal so, dass man nicht mehr mit der Diplomatie auskommt, weil wir natürlich auch Inklusion irgendwann einmal als etwas Selbstverständliches erleben. Das Wichtige ist, dass es hier natürlich eine ganze Menge Bereitschaft gibt. Es gibt ja auch eine ganze Menge von Leuten, die wissen, wie schwer es ist, als Mensch mit Behinderung Zweitausbildungen zu machen, weil wir uns nicht einmal eben einen Nebenjob suchen können. Ich habe gestern durch die Bildbeschreibungen [im Rahmen der Abendveranstaltung, Anm. d. Pr.) mitgenommen, dass ich anscheinend doch manchmal in der Lage bin, etwas mit Bildbeschreibungen anzufangen. Das hat mich sehr beeindruckt und offensichtlich haben die Bilder so ausgesehen und zu dem gepasst, was ich mir so vorgestellt habe, obwohl ich sie nicht sehen kann. Und das möchte ich Ihnen einfach mitgeben, dass Sie das auch einmal versuchen – sich einfach einlassen auf die Inklusion und sich nicht entmutigen lassen, wenn auch einmal klarere Worte gesprochen werden. Kuscheln kann man danach erst recht gut – und inklusiv.
T 6: Rolf Emmerich, Sommerblut-Festival in Köln. Ich wollte auf das eben angedeutete Thema des erweiterten Inklusionsbegriffs „Flüchtlinge“ kommen – und das wieder ausweiten auf das Thema Ausbildung, Weiterbildung, Studium usw. Wir haben im vergangenen Jahr in Köln eine große Veranstaltung gegen Rechts auf dem Ottoplatz in Deutz gemacht. Da habe ich einen Flüchtling, der bei mir wohnt, und seinen besten Freund mitgenommen, Jaba aus Aleppo, er hat da gesprochen. Anschließend ist jemand vom Römisch-Germanischen Museum auf mich zugekommen und hat gesagt: „Herr Emmerich, der Herr Jaba ist ja Archäologe, der soll sich bei uns vorstellen.“ Herr Jaba hat sein Studium angefangen, aber nicht abgeschlossen; er musste wegen des Kriegs flüchten. Dien Direktor des Museums habe ich vor zwei Wochen in der Straßenbahn getroffen und der sagte: „Herr Emmerich, noch einmal besten Dank. Das ist unser bester Archäologe, den wir in Köln haben!“ Er hat keine abgeschlossene Ausbildung, er hat kein abgeschlossenes Studium, aber er ist im Römisch-Germanischen Museum angestellt. Auch Frau König hat keine Ausbildung, kein Studium –, daher mein Wunsch oder meine Bitte an die beiden Hochschulprofessoren: Sie haben von den Kriterien gesprochen. Eine Frau König hätte bei Ihnen ja gar keine Chance, muss man ja ganz ehrlich sagen, weil sie die Ausbildung nicht mitbringt – kann sie ja gar nicht mitbringen, weil es zu ihrer Zeit oder zur heutigen Zeit gar nicht möglich war und ist, so einer Ausbildung zu absolvieren. Wo finden Sie Wege, solche Menschen – wie auch Herrn Saerberg – als Dozentinnen und Dozenten einzustellen? Wie oft hat er sich beworben und ist von den Hochschulen aus verschiedensten Gründen nicht genommen worden? Wo finden Sie Wege in Ihren Systemen, solchen Menschen Zugänge ganz aktuell zu ermöglichen? Dann natürlich die weitere Überlegung: Wie kann man Studiengänge öffnen und die Bereitschaft erzeugen, individuell die Zugänge zu ermöglichen? Dankeschön.
T 7: Jutta Schubert, EUCREA. Wir von EUCREA planen aktuell die Weiterführung des „ARTplus“-Programms. Wir wollen es in Bezug auf Ausbildung an privaten und öffentlichen Kunsthochschulen in Deutschland ausweiten und suchen dafür auch Kooperationspartner auf Bundesebene. Das heißt, wir wollen ein Programm auflegen, in dem wir erst einmal exemplarisch mit einer reduzierten Anzahl von Hochschulen an konkreten Ausbildungsmöglichkeiten arbeiten, an Weiterbildungsmöglichkeiten, Gasthörerschaften usw. EUCREA hätte dann die Position, zwischen Angebot und Nachfrage zu vermitteln. Das als Ergänzung – wenn es hier im Raum Interessenten gibt, sprechen Sie mich bitte an.
Susanne Keuchel: Vielen Dank. Dann bitte ich, dass jede und jeder hier auf dem Podium noch einmal ganz kurz die Gelegenheit nimmt, sich zum einen oder anderen Aspekt zu äußern – und, falls das so ist, kurz zu skizzieren, was von hier mitgenommen werden kann. Bitte, Frau König!
Gerda König: Ich frage mich auf der einen Seite: Gut, wir sind beeinträchtigt aufgrund der Behinderung und haben schwerer Zugänge zur Uni oder sonstigen Berufsvorstellungen. Ich frage mich auf der anderen Seite: Jemand, der von der Hauptschule kommt, aus sozial benachteiligten Kreisen, hat genauso Schwierigkeiten, an eine Hochschule zu gehen. Ich möchte das einfach noch einmal in den Raum stellen. Aufgrund meiner Behinderung Anspruch auf Unterstützung zu haben, finde ich wichtig, aber man muss dann auch einmal überlegen, wie fair das ist gegenüber denjenigen, die aufgrund gesellschaftlicher Voraussetzungen auch Benachteiligungen haben. Wie muss ich da überhaupt die Unterscheidung treffen? Das ist für mich eine Frage.
Thomas Grosse: Danke, Frau König – ich möchte direkt andocken, weil Sie etwas deutlich gemacht haben. Ich bin natürlich froh, wenn auch die von Behinderung betroffenen Menschen das so sagen können, weil sie es natürlich besser sagen können als wir. Bei uns erscheint es leicht als Ausrede. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich „ihr“ und „wir“ sage, aber ich glaube, es ist in diesem Kontext verständlich, wie ich das meine. Für mich ist es toll, so viele klare Worte gehört zu haben, dafür bin ich sehr dankbar. Also, es ist gar nicht so, dass ich das nicht hören möchte – dann wäre ich gar nicht gekommen – sondern dass ich auf der anderen Seite eben auch genauso das Recht haben muss, zu sagen, wie es an den Hochschulen ist. Wenn ich das hier darstelle, heißt das nicht, dass es so bleiben soll. Ich benenne nur die Fakten – und erst durch diesen Diskurs, dass ich das sagen kann und wir ein bisschen Reibung erzeugen, kommen wir weiter. Ausbildung ist übrigens nicht alles. Ich kenne auch Kolleginnen und Kollegen mit Hauptschulabschluss – nur um das einmal zu erwähnen, denn wir sind künstlerische Hochschulen und da zählt die primär die herausragende künstlerische Qualifikation. Für mich ist es noch einmal sehr wichtig geworden und das ist etwas, das ich sehr aktiv in die Debatte mit hineinnehmen möchte, dass ich erkannt habe, dass es eine unmögliche Sichtweise ist, jemanden mit Beeinträchtigung an einer Hochschule zuzulassen, weil er besonders gut singt – sondern er muss nicht besser und nicht schlechter singen als alle anderen Studierenden, die wir zum Gesangsstudium zulassen. Und erst danach kommt der Nachteilsausgleich zum Tragen. In den Köpfen ist immer drin, das ist mir gestern noch einmal bewusstgeworden, dass man herausragend sein muss, um sich einen Nachteilsausgleich zu verdienen. Wenn wir hier erst einmal ganz aktiv gegensteuern in den Eignungsprüfungen, dann sind wir schon einen Schritt weiter.
Siegfried Saerberg: Das Recht auf Partizipation haben wir und deshalb finde ich klare Worte und auch ruhig einmal auf den Tisch hauen völlig in Ordnung. Ich habe ja selbst auch einmal festgestellt, dass man wirklich lange Zeit sehr freundlich ist und irgendwann reißt dann doch der Geduldsfaden – das finde ich in Ordnung und deshalb vielen Dank. Was ich anmahne ist, dass wir einfach noch mehr zu Wort kommen als Menschen mit Behinderung, Betroffene – wir nennen das ja immer „Experten“ oder „Expertinnen“. Wir sind ja wirklich Expertinnen und Experten für unsere Lebenslage und da, glaube ich, können die Hochschulen sehr viel lernen und da bin ich auch wirklich froh, dass ihr anwesend seid. Die Dialoge sind nicht reibungslos. Ich meine, man sollte sich gelegentlich einmal den Helm aufsetzen. Ja, ich stelle einmal wieder fest: man muss manchmal direkt werden, man setzt sich auseinander. Es ist ein Kampf irgendwie, ein Streit, aber solange man sich gegenseitig die Anerkennung und die Wertschätzung entgegenbringt, finde ich, geht das alles. Hier, habe ich das Gefühl, kann man das machen.
Udo Dahmen: Haltung ist das Thema, „attitude“. Ich glaube, dass es für die Hochschulen vor allem darum gehen muss, für jede Art von Beeinträchtigung offen zu sein. Dazu muss es aber individuelle Lösungen geben. Das wären zum Beispiel Projekte, die dann möglicherweise im nächsten Schritt nicht nur Impuls bleiben, sondern in den Regelzusammenhang zu überführen. Alle Projekte haben eine zeitliche und finanzielle Begrenzung, das ist oft ein Problem. Als Hochschule – wir tun das – müssen wir die Nachhaltigkeit immer mitdenken.
Wir haben bei uns Dozentinnen und Dozenten mit Hauptschulabschluss, das ist überhaupt keine Einschränkung, ich kann mich da dem Vorredner nur anschließen. Es geht um künstlerische Qualitäten und Exzellenzen und die sind nicht davon abhängig, welchen allgemeinen Bildungsabschluss man erworben hat. Von daher spielt das bei uns keine Rolle.
Was unterschiedliche Benachteiligungen anbetrifft darf ich sagen, dass wir ungefähr zehn unterschiedliche pädagogische Projekte haben – von Kindern aus sozial schwierigen Zusammenhängen bis hin zu Flüchtlingsprojekten unterschiedlicher Art; wir haben uns als Hochschule von Anfang an für gesellschaftliche Zusammenhänge verantwortlich gesehen. Da wir eine Neugründung sind, konnten wir das auch von Anfang an so tun.
Für lange bestehende Hochschulen ist das meist viel schwieriger – vor allem, wenn sie unter dem musealen Ideal des 19. Jahrhunderts groß geworden sind. Sie müssen sich das so vorstellen als ob es nur Museen gäbe, in denen ausschließlich die Kunstwerke von vor Jahrhunderten gezeigt würden – wir haben aber gleichzeitig immer auch moderne Kunst. Musikhochschulen kämpfen mit genau dieser Tradition und ungefähr die Hälfte der Dozentinnen und Dozenten würde sich wünschen, dass man viel mehr vorwärtsgewandt wäre. Und die Vorwärtsgewandten müssen oft die Prügel einstecken, das ist manchmal ungerecht. Trotzdem breche ich hier einmal eine Lanze für die Situation an den Musikhochschulen.
Wir in Mannheim haben das Problem in dem Maße nie gehabt, weil wir erst 2003 gegründet wurden. Wir konnten eine künstlerische Hochschule für die Zukunft denken. Deshalb spielen die Zusammenhänge von Inklusion und Integration von Anfang an auch inhaltlich eine Rolle.
Ganz am Ende des Tages heißt es dann nur noch: „Nur wer selbst brennt, kann andere entzünden“ – das hat Augustinus irgendwann gesagt und dem schließe ich mich einfach an. Ich glaube, die Leidenschaft, mit der wir hier umgehen, ist Teil auch eines Ergebnisses der Tagung. Ich habe selbst sehr viel mitgenommen – einfach auch, dass wir manche Dinge verstärkt angehen müssen: Angebot und Nachfrage ist ein wichtiges Thema.
Susanne Keuchel: Abschließend möchte ich mich ganz, ganz herzlich bei den Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmern sowie dem Publikum für diese tolle Diskussion bedanken.
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