Die Podiumsdiskussion zum Abschluss der Netzwerktagung am 6. Oktober 2017 dokumentiert die Auseinandersetzung von Vertreterinnen und Vertretern aus Film und Fernsehen, wie Teilhabe für Menschen mit Behinderung vor und hinter der Kamera gewährleistet werden kann. Podiumsdiskussion mit: Christine Berg, Bergit Fesenfeld, Michael Jörg, Susanne Keuchel, Jürgen Kleinknecht
Susanne Keuchel: Herr Jörg, Sie sind Vertreter der inklusiven Gesellschaft im Fernsehrat des ZDF. Wie schätzen Sie den Anteil der Präsenz von Menschen mit Behinderung am Gesamtprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ein? Und zwar nicht nur den Anteil am fiktionalen Programm, wie etwa Serien und Spielfilme, sondern auch am non-fiktionalen Programm, beispielsweise die Präsenz in Nachrichten- oder Dokumentationssendungen.
Michael Jörg: Aus meinem Bauch heraus: 1,5 Prozent?
Susanne Keuchel: Im Rahmen des Netzwerks haben wir eine kleine empirische Studie zum Anteil von Menschen mit Behinderung am Gesamtprogramm von ARD, ZDF und 3SAT durchgeführt. An den drei Tagen der Studie sind wir insgesamt auf 0,18 Prozent gekommen. In der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil der Menschen allein mit einer schweren Behinderung bei 9,3 Prozent. Haben Sie Erklärungsansätze für diese Diskrepanz?
Michael Jörg: Es ist schwer zu sagen, ob die Differenz eher daher rührt, dass die Sender noch nicht ausreichend für die Präsenz von Menschen mit Behinderung im Fernsehen sensibilisiert sind, oder ob es daran liegt, dass einfach nicht genügend Menschen mit einer Behinderung zur Verfügung stehen, die sich selbst darstellen können. Eine schlüssige Erklärung dafür habe ich aber nicht.
Susanne Keuchel: Herr Kleinknecht, Sie sind Hauptredakteur Neue Medien beim ZDF. In der soeben angesprochenen kleinen Studie konnten über 5000 Menschen außerhalb der Massenszenen im Fernsehprogramm der Öffentlich-Rechtlichen gezählt werden. Wenn wir speziell von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung in den Medien sprechen, was glauben Sie, wie viele Menschen in den fiktionalen Bereichen – also in den Spielfilmen oder in den Serien – vertreten waren?
Jürgen Kleinknecht: Ich vermute zu wenige. Gleichzeitig möchte ich Sie aber zu der Studie beglückwünschen. Ich würde allerdings ungern über Zahlen reden, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen wissen wir, dass man den Menschen ihre Behinderung nicht unbedingt ansieht und zum anderen haben Medien nicht per se den Auftrag, die Wirklichkeit eins zu eins abzubilden. Was nicht heißt, dass wir uns dem Auftrag verschließen wollen, Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen an unserem Programm teilhaben zu lassen, sie sowohl aktiv mitwirken zu lassen als auch über sie zu berichten. Dazu möchte ich ein Beispiel aus dem Informationsprogramm aus der jüngeren Vergangenheit vorstellen: Sie erinnern sich vielleicht an den Hurrikan in den USA im Sommer 2017. Bei den offiziellen Statements war immer ein Gebärdendolmetscher im Bild zu sehen. Die Tatsache, dass die Berichte auf allen Nachrichtensendern ausgestrahlt wurden, hat dem Thema Gebärdensprache wieder eine ganz andere Aufmerksamkeit verliehen, sowohl in der Öffentlichkeit als auch intern bei den Sendern. Das ist eine Entwicklung, die sich nicht planen lässt, wohl aber kann sie als Anregung dazu dienen, nach Möglichkeiten zu suchen, unterschiedlichen Gruppen ihr Recht auf Teilhabe am Programm einzuräumen.
Susanne Keuchel: Die kleine Studie, die wir durchgeführt haben, ist zwar rein explorativ; dennoch zeigte sich dabei das überraschende Ergebnis, dass in den fiktionalen Sendungen kein einziger Mensch mit Behinderung abgebildet war – weder in einer Neben- noch in einer Hauptrolle. Stellt sich da nicht doch die kritische Frage nach der Senderverantwortung, im Sinne der kulturellen Teilhabe, Frauen wie Männer, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sowie Künstlerinnen und Künstler mit und ohne Behinderung gleichberechtigt in den Medien abzubilden?
Jürgen Kleinknecht: Ja, auf jeden Fall. Da bin ich ganz bei Ihnen. Ein Positivbeispiel: In der Krankenhausserie „Dr. Klein“ im ZDF ist die Hauptprotagonistin kleinwüchsig. Das gibt dem Thema „Menschen mit Behinderung in den Medien“ einen ganz neuen Drive, wie die durchweg positiven Rückmeldungen vonseiten der Zuschauerinnen und Zuschauer mit und ohne Behinderung zeigen. Die Hauptdarstellerin „Dr. Klein“ ist mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden, und das zurecht. In der Serie spielt jemand mit einer sehr offensichtlichen Behinderung ganz selbstverständlich eine Hauptrolle; die Behinderung nimmt dabei keine tragende Rolle ein. Ein Ansatz, den wir natürlich weiterverfolgen. Im Moment stehen Beratungen zur Fortsetzung der Serie an. Ich glaube, da können wir aber noch wesentlich mehr tun, da bin ich ganz bei Ihnen.
Susanne Keuchel: Danke, dass sie schon das vielfältige Rollenspektrum ansprechen. Darauf würde ich später sehr gern noch einmal zurückkommen. Frau Fesenfeld, Sie sind Integrationsbeauftragte beim WDR und vertreten dort in dieser Funktion Menschen mit Behinderung. Insofern erfüllen Sie nicht nur den Auftrag, die Interessen von Menschen mit Behinderung in der öffentlichen Rundfunkanstalt zu vertreten. Als Mitarbeiterin haben Sie tiefen Einblick in die internen Planungen des Unternehmens. Worin liegen Ihrer Einschätzung nach die Barrieren, dass so wenige Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung – sowohl als Schauspielerinnen und Schauspieler als auch im non-fiktionalen Programm des WDR und dessen Gestaltung – vertreten sind? Gibt es beispielsweise dafür verantwortliche Gatekeeper?
Bergit Fesenfeld: Beim WDR arbeiten ungefähr 300 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit Schwerbehinderung. Davon sind die allerwenigsten direkt mit der Produktion von Sendungen beschäftigt. Sie arbeiten in mehr als 120 Berufen beim WDR – von der Verwaltungsangestellten bis zum Schreiner, der die Kulissen baut. Redaktionelle Verantwortung, sprich die Entscheider und Entscheiderinnen, die die Programminhalte und auch die Besetzung der Rollen verantworten, das sind selten Menschen mit Behinderung. Das hat natürlich auch etwas mit dem Bildungszugang zu tun. Die Menschen, die heute in der Arbeitswelt zu finden sind, sind zu Zeiten ausgebildet worden, in denen eine inklusive Beschulung noch sehr problematisch war. Ich selbst bin Jahrgang 1959. In meinem Jahrgang gibt es so gut wie keine Akademikerinnen oder Akademiker mit Behinderung, weil es in der Vergangenheit kompliziert war, mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung überhaupt ein Studium zu absolvieren. Das bedeutet, bei uns sind die Entscheiderinnen und Entscheider in den Redaktionen mit dem Thema persönlich kaum beschäftigt. Das heißt nicht unbedingt, dass aus dem Grund keine Entscheidungen zugunsten von Künstlern und Künstlerinnen mit Behinderung getroffen werden. Es ist nicht linear zu sehen, dass Menschen, die keine Behinderung haben, keine Beziehung zu Menschen mit Behinderung haben. Ich glaube aber, es wäre gut, mehr Journalisten oder Journalistinnen mit Behinderung einstellen zu können. Ich freue mich, dass wir zum Beispiel zwei blinde Volontäre erfolgreich trimedial, das heißt also auch im Fernsehen, ausgebildet, haben. Und ich habe die Hoffnung, dass mehr Journalistinnen und Journalisten mit Behinderung in den Medien beschäftigt werden können. Mir liegt aber auch viel daran, Menschen vor der Kamera mit Behinderung zu sehen. Mein Traum wäre es, wir hätten etwa eine contergangeschädigte Moderatorin, die die Tagesthemen moderiert – ganz selbstverständlich und ohne, dass dann ständig über ihre Behinderung gesprochen wird –, sondern bitte über ihre Leistung ganz unabhängig davon. Wenn wir da angekommen sind, haben wir Inklusion erreicht.
Um Menschen mit Behinderung sowohl vor als auch hinter der Kamera zu „installieren“ müssten zunächst die Mediengebäude barrierefrei zugänglich sein. Damit fängt Inklusion an. Wir haben zum Beispiel Sendestudios, in denen die Mikrofone mit dem Rollstuhl nicht erreicht werden können. Ein Teil meiner Aufgabe als Vertreterin der Menschen mit Behinderung ist es aber nicht nur, die räumliche Barrierefreiheit herzustellen oder zu verbessern. Barrierefreiheit betrifft auch die Zugänglichkeit zu unseren Produkten für die Nutzerinnen und Nutzer mit einer Beeinträchtigung zu erreichen, das heißt etwa durch Untertitelung oder Audiodeskription und natürlich durch barrierefreie Angebote im Internet. Das Thema ist sehr vielschichtig und es gibt zahlreiche einzelne Stellschrauben, an denen man noch drehen und an denen gearbeitet werden muss. Ich glaube, wir müssen noch ein Bewusstsein in den Köpfen der Entscheiderinnen und Entscheider schaffen, Inklusion nicht als zusätzliche, lästige Aufgabe zu verstehen, sondern dafür zu sorgen, dass sie intrinsisch motiviert sagen können: „Das wollen wir, das nützt uns allen. Vielfalt ist Stärke, wir haben was davon. Das ist keine politisch korrekte zusätzliche Pflichtaufgabe, sondern wir nutzen die Ressourcen von allen und das bekommt allen gut.“ Und wenn diese Überzeugung in die Köpfe gelangt, dann sind wir ein ganzes Stück weiter.
Susanne Keuchel: Auf die Bedeutung der Entscheiderinnen und Entscheider würde ich gern noch einmal zurückkommen. Ich selbst habe intensiv Genderforschung betrieben. Als zentrales Ergebnis stellte sich immer wieder heraus, dass die Gatekeeper-Konstellationen entscheidend für eine mögliche Vielfalt in einer Organisation oder in einem Unternehmen sind. Sind beispielsweise mehr Frauen auf der Leitungsebene vertreten, dann werden zwangsweise Frauen stärker in den institutionellen Entscheidungen mitgedacht. Wäre das nicht auch ein wichtiger Moment im Kontext Personen mit Behinderung?
Bergit Fesenfeld: Beim WDR haben wir einen sehr aktiven Diversity-Beirat, der direkt in der Intendanz angesiedelt ist. Auch ich selbst arbeite darin aktiv mit. Der Beirat setzt sich im Sinne des erklärten Ziels des WDR für mehr Vielfalt auf allen Ebenen ein, sowohl in der Personal- als auch in der Programmentwicklung. Hier spielt auch Behinderung eine Rolle, was ich sehr positiv finde, denn in den meisten Unternehmen wird Diversity über Genderfragen oder über „Multikulti“ definiert. Behinderung spielt in der Regel kaum eine Rolle. Das ist bei uns jetzt anders. Man muss dabei allerdings auch aufpassen, die Journalisten und Journalistinnen mit Behinderung nicht zu instrumentalisieren, das heißt sie automatisch als Fachleute für Behinderung anzusehen. Ich habe eine blinde Kollegin, die beispielsweise wissenschaftliche Berichte erstellt. Es sollte nicht jeder Journalist oder jede Journalistin mit Behinderung automatisch dazu „abgestempelt“ werden, nur über Behinderung zu schreiben. Aber natürlich ist die Sensibilität im Umgang mit Behinderung höher: Der Zugang zu den Themen fällt leichter, man hat selbst Erfahrung mit Kostenträgern und dem Kompetenzgerangel gemacht und ist empathischer, Missstände aufzudecken als Leute, die noch nie etwas mit Behinderung zu tun hatten. Diversity ist auch ein ganz wichtiger Ansatz, Bereicherung durch Vielfalt, in dem Fall durch Menschen mit Behinderung, statt als zusätzliche Last zu entdecken und sich motiviert dafür einzusetzen.
Susanne Keuchel: Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung mehr Präsenz im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu verschaffen, können nicht allein die öffentlich-rechtlichen Programme selbst leisten. Viele Spielfilme werden von externen Produktionen eingekauft. Frau Berg, Sie kommen von der Filmförderungsanstalt. Spielt bei Ihnen das Thema Inklusion eine Rolle?
Christine Berg: Selbstverständlich, auch wenn man hier differenzieren muss. Zunächst einmal haben wir mit Fernsehen nicht vorrangig etwas zu tun. Wir fördern Kinofilme, und damit auch Filme, die erst nach der
Kinoauswertung im Fernsehen ausgestrahlt werden dürfen. Wir haben insofern mit Inklusion zu tun, da es inzwischen eine gesetzliche Vorschrift gibt, nach der alle Filme, die wir fördern, barrierefrei ausgestattet sein müssen. Außerdem sind nach dem neuesten Gesetz alle antragstellenden Kinos verpflichtet, barrierefrei ausgestattet zu sein. Inklusion ist also ein Thema, das gesetzt ist und nicht infrage gestellt werden kann – es muss gemacht werden. Wenn es auch in der Umsetzung manchmal noch ein wenig holpert.
Ansonsten fühle ich mich grade etwas fehl am Platze in der Diskussionsrunde. Mir fällt auf, dass wir noch nie über Menschen mit Behinderung im Film nachgedacht haben. Ich kann Ihnen zwei, drei Filme nennen, zum Beispiel „Jenseits der Stille“, die dies zum Thema haben, aber ansonsten haben wir nicht viel damit zu tun. Ich sage es ganz offen und ehrlich: Wir haben uns noch nicht viele Gedanken über Menschen mit Behinderung im Film gemacht. Dies liegt aber auch daran, dass wir als Förderanstalt natürlich nicht für die Inhalte verantwortlich sind. Wir fördern ausschließlich und sind kein Auftraggeber wie ein Sender, der Auftraggeber und Geldgeber in einem ist und auch inhaltlich mitspricht. Bei uns werden fertige Projekte eingereicht und gefördert, wenn wir glauben, dass sie eine Chance im Kino haben. Wenn auch noch eine Förderung sagen würde, wie viel Prozent Frauen und/oder wie viel Prozent Menschen mit Behinderung und/oder Menschen mit Migrationshintergrund im Film vorkommen müssen, dann würde die Förderung in die Kreativität eingreifen. Das ist nicht unsere Aufgabe. In der Tat spielt das Thema „Menschen mit Behinderung“ also im Bereich der Filmförderung keine Rolle.
Und ich möchte Ihnen in einem widersprechen, denn das Thema liegt mir auf der Seele. Ich bezweifele, dass Frauen immer andere Frauen fördern. Ich glaube aber, was Sie ja auch bereits erwähnten, dass die Vielfalt und Konstellation von Entscheidungsträgerinnen und -trägern für Vielfalt sensibilisiert und sie zu einer Selbstverständlichkeit werden lässt. Da müssen wir hinkommen, um Inklusion nachhaltig umzusetzen. Es ist ganz wichtig, dass Vielfalt nicht nur einfach da ist, sondern dass sie in der Gesellschaft ankommt und dort auch etabliert ist.
Susanne Keuchel: Ich gebe Ihnen Recht, Frau Berg, dass Frauen nicht ausschließlich Frauen fördern würden. Dennoch können weibliche Entscheidungsträgerinnen für einen Perspektivwechsel sorgen. Wir erleben Vergleichbares gerade im Bereich der Kulturellen Bildung mit Menschen mit Migrationshintergrund. Sie bringen andere Themen ein oder ein breiteres Repertoirespektrum eines Themas, und sie verfügen über andere kulturelle Erfahrungen. Das heißt nicht gleichbedeutend, da stimme ich Frau Fesenfeld zu, dass sie dann die Expertinnen und Experten im Bereich Interkulturelles sind – genauso wenig wie Frauen Expertinnen im Genderbereich sind. Es braucht Vielfalt, auch mit ihren ganz eigenen Netzwerken.
Bergit Fesenfeld: Ich wollte noch einmal auf das Wort „Selbstverständlichkeit“ eingehen, was Sie, Frau Berg, gerade in Bezug auf Vielfalt erwähnt haben. Ich würde mir wünschen, dass Menschen mit Behinderung analog zur ihrer wirklichen, tatsächlichen Präsenz in der Gesellschaft einfach vorkommen. Warum gibt es keine Werbung, in der ein Kind im Rollstuhl sitzend Gummibärchen haben möchte? Oder warum ist Behinderung immer Thema, wenn ein Schauspieler oder eine Schauspielerin mit Behinderung aktiv ist. Diese Personen können auch ganz andere Rollen übernehmen. Wir haben Umweltschutz-Expertinnen und -Experten im Studio, die blind sind. Wo ist das Problem? Wir sollten aufhören, Menschen mit Behinderung überwiegend über den Status „ich bin behindert“ zu definieren. Also, ich bin eine Frau, ich bin 58 Jahre alt, ich bin Mutter, ich bin kulturinteressiert, ich bin politisch interessiert und ich bin auch behindert. Es ist ein Merkmal unter vielen, ich bin aber nicht hauptberuflich 24 Stunden behindert.
Susanne Keuchel: Ich würde jetzt gern zu den Barrieren der Inklusion kommen. Zum Teil wurden sie ja bereits angesprochen. Herr Jörg, Sie haben als Mitglied im Fernsehrat eine gewisse Metaperspektive. Inwieweit ist Inklusion im Fernsehrat ein Thema? Und wie sehen Sie aus Ihrer Perspektive mögliche Teilhabebarrieren, die der Fernsehrat angehen könnte?
Michael Jörg: Inklusion ist im Fernsehrat immer wieder Thema, wenn Dokumente etwa nicht barrierefrei sind oder bei Filmpräsentationen, für die es dann eine Live-Audio-Deskription gibt. Inklusion ist also immer wieder Thema.
Susanne Keuchel: Wie könnte der öffentlich-rechtliche Rundfunk Ihrer Einschätzung nach systematisch den Abbau von Barrieren angehen?
Michael Jörg: Man sollte vonseiten der Öffentlich-Rechtlichen Menschen mit Behinderung mehr in den Fokus nehmen, sowohl als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch als Schauspielerinnen und Schauspieler in Film und Fernsehen. Hier könnte weiter gedacht werden, indem eine Nebenrolle oder auch eine Hauptrolle von einem Menschen mit Behinderung besetzt würde.
Bergit Fesenfeld: Ich finde auch, dass der öffentlich-rechtliche Auftrag beinhaltet, dass wir die Vielfalt abbilden. Das ist einfach unser Job. Es ist in unserem Auftrag formuliert. Wir sollen Demokratie fördern, wir sollen Gleichbehandlung fördern – und das bezieht sich auf alle Menschen, also warum nicht auch gleichermaßen auf Menschen mit Behinderung. Ich bin deswegen ganz gelassen und denke, dass auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten insbesondere auch in Zukunft daran arbeiten werden, Vielfalt abzubilden. Schließlich müssen wir argumentieren, warum es uns gibt, warum bei uns Gebühren bezahlt werden müssen, bei den privaten Anbietern hingegen nicht. Wir brauchen ein öffentlich-rechtliches Profil. Dafür steht der WDR, dafür stehe auch ich persönlich sehr begeistert ein, denn das ist der Weg, mehr Qualität zu bieten – im Sinne der Auswahl, der Gleichbehandlung, der demokratischen Grundhaltung – als viele andere Sender. Dafür lohnt es sich dann, Gebühren zu zahlen. Mit dem Qualitätsargument kann man auch in die eigenen Häuser hineinwirken und fordern, bei der Besetzung von Rollen, bei dem Entstehen von Drehbüchern darauf hinzuarbeiten, dass diese Gleichbehandlung im Alltag stattfindet und Menschen mit Behinderung weder „Opfer“ noch „Superhelden“ sind. Im Moment ist das oft noch der Fall. Menschen mit Behinderung werden entweder als super toll oder super erfolgreich dargestellt, weil sie etwa Olympiasieger sind, oder als die armen Opfer. Das ganze Feld dazwischen findet bisher noch viel zu wenig statt, wie auch aktuelle Studien zeigen. Da kann man noch viel tun. Ich bin aber optimistisch, dass da was passiert.
Michael Jörg: Dem kann ich nur zustimmen. Gerade im öffentlichen-rechtlichen Bereich könnten zum Beispiel mehr Drehbücher von Menschen mit Behinderung geschrieben und eingereicht werden. Menschen mit Behinderung könnten auch als Regisseurinnen oder Regisseure hinter der Kamera stehen. Man könnte auch den kompletten Bereich der Film- und Fernsehproduktion abdecken. Es ist hierbei nicht von der Behinderung der Personen auszugehen, sondern von ihrer Schaffenskraft, von der kulturellen Eigenheit wie in anderen Bereichen auch. Weibliche Drehbuchautorinnen, Kamerafrauen und Regisseurinnen etwa bringen ihren Spirit ein, ganz automatisch. Menschen mit Behinderung sollten die Möglichkeit haben, ihren Spirit, ihre Sicht der Dinge auf die Welt vor- und einzubringen.
Susanne Keuchel: In der Regel werden Schauspielrollen nicht mit Menschen mit Behinderung besetzt, insbesondere wenn es sich um Hauptrollen handelt. Frau Fesenfeld sieht in ihrer Zukunftsvision Menschen mit Behinderung in allen Spektren der Medienproduktion und allen Genres, also auch in non-fiktionalen Sendungen. Wo sehen Sie die Möglichkeiten, die Präsenz von Menschen mit Behinderung in den Redaktionen zu erhöhen, Herr Kleinknecht? Ein Erfolgsmodell des ZDF, das der Serie „Dr. Klein“, haben Sie ja bereits vorgestellt.
Jürgen Kleinknecht: Die Diskussion zeigt, dass die Frage nach mehr Präsenz von Menschen mit Behinderung im Fernsehen nur sehr komplex zu beantworten ist. Das heißt nicht, dass die Antworten schwierig sind, sondern dass man an verschiedenen Stellschrauben arbeiten kann. Ich bin mir mit Frau Berg einig, dass die Einführung einer Quote, nach der so und so viel Prozent in den Redaktionen mit Menschen mit Behinderung besetzt werden müssen, kontraproduktiv ist. Die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung oftmals keine Rollen übernehmen bzw. selten in Film und Fernsehen dargestellt werden, liegt meines Erachtens nicht an der Ignoranz, sondern schlicht an der Unkenntnis und Unwissenheit über die Gegebenheiten und Möglichkeiten. Daher sollte die Sensibilität für das Thema erhöht werden. Auf der Tagung haben wir eine Institution kennengelernt, „die Rollen fängt“, die sich also auf die Vermittlung von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung spezialisiert hat. Das ist hervorragend und ich kann den Kollegen und Kolleginnen nur wünschen, aktiver auf die jeweiligen Entscheidungsträgerinnen und -träger der Sender zuzugehen und zu sagen: „Hier gibt es jemanden, der diese Rolle besetzen kann und der macht das mindestens genauso gut wie ein Mensch ohne Behinderung, der einen Menschen mit Behinderung spielt.“ Ich bin optimistisch, dass die Rollenbesetzung durch Menschen mit Behinderung an Dynamik gewinnen wird.
Wir erinnern uns an das sogenannte Blackfacing vor ein paar Jahrzehnten, wo Schwarze im Fernsehen von Weißen gespielt wurden, die entsprechend schwarz angemalt waren. Grauenhaft. Doch diese Geschichte haben wir hinter uns. Wir haben vorhin auch kurz über Menschen mit Migrationshintergrund in den Medien gesprochen. Dunja Hayali beispielsweise haben wir nicht eingestellt, weil sie einen Migrationshintergrund hat, sondern weil sie eine hervorragende Journalistin ist, die richtige Fragen zum richtigen Zeitpunkt stellt, und ja, sie hat auch einen Migrationshintergrund.
Susanne Keuchel: Frau Fesenfeld hatte dazu angeregt, näher hinzuschauen, wie Menschen mit Behinderung in Film und Fernsehen dargestellt werden. Es geht nicht nur um ihre Präsenz, es geht auch nicht nur darum, wer wen spielt, sondern auch um die Art der Darstellung. Berufsbedingt gehen Sie, Frau Fesenfeld, mit diesem Thema besonders sensibel um. Können Sie negative Beispiele der Darstellung von Menschen mit Behinderung nennen? Oder sind Ihnen weitere Positivbeispiele bekannt, wie das der Serie „Dr. Klein“ des ZDF? Welche Empfehlungen würden Sie für mehr Umsicht bei der Rollenbesetzung abgeben?
Bergit Fesenfeld: Wir bilden zum Beispiel Volontärinnen und Volontäre dahingehend aus, wie sie mit dem Thema sinnvoll umgehen können, damit zumindest der Nachwuchs ein anderes Gefühl dafür bekommt. Eine wichtige Botschaft lautet: Nicht über Menschen mit Behinderung reden, sondern mit ihnen. Das ist in der Behindertenszene nichts Neues, doch das Prinzip der Augenhöhe trifft viele Journalistinnen und Journalisten erst mal ganz unvorbereitet. Das bedeutet ein Umdenken, etwa auch bei der Kamerahaltung. Wird ein Rollstuhlfahrer gefilmt, kann nicht die Kamera stehen und der Rollstuhlfahrer sitzen. Da geht es um das Setting: Bitte auf Augenhöhe! Dann geht es um den Umgang mit Sprache. Es heißt nicht „an den Rollstuhl gefesselt“, denn wenn jemand an den Rollstuhl gefesselt ist, sollte man ihn losbinden – habe ich mal irgendwo gelesen. Ein sehr schöner Spruch. Es sollte Sensibilität dafür entwickelt werden, Menschen auf Augenhöhe mit Respekt zu begegnen und die Ressourcen in den Blick zu nehmen und nicht vordergründig die Defizite. Mit dieser Grundhaltung ist schon sehr viel gewonnen. Ich glaube, dass man das auch vermitteln kann. Hier kann die Aus- und Fortbildung eine ganze Menge ausrichten. Damit kann es gelingen, verantwortlichen Kolleginnen und Kollegen die Angst zu nehmen, mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Dabei gilt es, ein paar Dinge zu bedenken. Es betrifft die Barrierefreiheit, aber auch die Ausstattung mit ausreichend Pausenräumen usw. Aber die Zusammenarbeit ist machbar, bringt sehr viel Spaß und außerdem einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Ist die Zusammenarbeit eine Win-win-Situation für alle Beteiligten, entstehen andere Produkte; sie sind authentischer, ehrlicher und bilden die Wirklichkeit viel besser ab, als es jetzt bisher der Fall ist.
Susanne Keuchel: Da sprechen Sie etwas sehr Elementares an. Es ist häufig eine Herausforderung, überhaupt angemessen über Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung in den Medien zu sprechen. In Rezensionen aus dem künstlerischen Bereich, so zeigt die Praxis – und wird innerhalb unseres Netzwerks auch immer wieder bestätigt – wird weniger über die künstlerische Leistung der Akteure mit Behinderung gesprochen als vielmehr über die Behinderung. Man erlebt häufig eine gewisse Vorsicht, sich überhaupt mit dem Thema zu beschäftigten. Herr Kleinknecht, haben Sie beim ZDF Berührungsängste, sich sprachlich nicht korrekt ausdrücken oder sich Menschen mit Behinderung gegenüber korrekt verhalten zu können? Oder sind Ihnen weitere Beispiele bekannt, wo Menschen mit Behinderung sogar bewusst – mit Humor – in Szene gesetzt werden oder eine Behinderung nicht tabuisiert, aber auch nicht in den Mittelpunkt geschoben wird? Das ist ja eine ganz schwierige Balance.
Jürgen Kleinknecht: Meiner Wahrnehmung nach herrscht zunächst Vorsicht in den Sendern genauso wie außerhalb der Sender vor. Aber schon die Beschäftigung mit dem Thema zeigt, dass der Erkenntnisgewinn fruchtbar ist. Vor der Umsetzung der angesprochenen Serie „Dr. Klein“ hat der verantwortliche Redakteur Axel Laustroer eine Zeit lang gebraucht, um seine Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen, dass man sich der Darstellung von Menschen mit Behinderung durch die Besetzung der Hauptrolle durch eine Schauspielerin mit Behinderung nähern kann. Die ersten zwei Staffeln zeigen den Erfolg seiner Einschätzung. Ich glaube, jedes einzelne Beispiel kann den jeweilig direkten Kollegenkreis überzeugen. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, es ist keine Ignoranz, sondern bei ganz vielen ist es Unkenntnis im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Dies zeigt sich etwa bei den Weiterbildungsangeboten für den redaktionellen Bereich. Vor Kurzem haben Vertreterinnen und Vertreter der Leidmedien einen Workshop mit uns durchgeführt zu dem Thema, mit welchen Worten man Behinderung beschreiben kann. Die Kollegin vom WDR hat dieses treffende Beispiel genannt von der „Fesselung am Rollstuhl“. Das sind natürlich Bilder, die man vermeiden kann und wofür es bessere und zielführendere Beschreibungen gibt. Allein die Tatsache, dass wir heute nicht mehr von Behinderten, sondern von Menschen mit Behinderung sprechen, ist etwas sehr Positives. Damit wird ein Mensch beschrieben, der mit der Behinderung eine Eigenschaft hat, wie Frau Fesenfeld vorhin gesagt, aber eben auch noch ganz viele andere.
Michael Jörg: Als Mensch mit Behinderung werbe ich dafür, falsch verstandene politische Korrektheit zu umgehen. Ich bin ein Mensch mit Behinderung und wenn ich respektvoll behandelt werde, dann ist das o. k. Natürlich schaue ich als blinder Mensch Fernsehen. Also ich bin gegen diese semantischen Klimmzüge, dass also jemand zu mir sagt: „Tja, wie sage ich das denn jetzt? Du bist ja blind – und Fernsehen gucken – das ist ja nicht so richtig?“ Dann wird das Ganze verkrampft und die Luft ist raus. Da bin ich gegen. Ich halte es mit Harald Schmidt, der sagt: „Auch Behinderte haben das Recht, verarscht zu werden.“ In der Form geht man am besten mit Behinderung um. Damit löst man die Verkrampftheit auf.
Christine Berg: Ich frage mich, warum gibt es denn so wenige Menschen mit Behinderung vor oder hinter der Kamera? Warum gibt es nicht ganz viele Autorinnen oder Cutter mit Behinderung? Wo ist das Problem? Natürlich geht es nicht grundsätzlich darum, ob Menschen mit Behinderung andere Drehbücher oder aus einer anderen Perspektive schreiben oder sehen – wenn das der Fall wäre, wäre es noch toller, denn dann hätten wir vielleicht noch bessere Kinofilme. Ich könnte relativ viele Berufsbilder aufzeigen, in denen Menschen mit Behinderung arbeiten könnten. Dass ein Mensch, der im Rollstuhl sitzt, nicht unbedingt als Aufnahmeleitung arbeitet, die ständig hin und her rennen muss, und das am besten 24 Stunden am Tag, leuchtet ein. Aber, ob blind, taub oder schwerhörig – und übrigens auch ich bin schwerhörig – bleiben viele Berufe, denen es auch guttun würde, wenn wir hier eine größere Vielfalt hätten.
Susanne Keuchel: Ich bin sehr dankbar, dass sie das ansprechen. Im Rahmen des Netzwerks laden wir immer wieder verschiedene Akteure zu den Themen von Menschen mit Behinderung im kulturellen Bereich ein. Die Reaktionen sind fast immer einheitlich – Vertreterinnen und Vertreter der Künstlersozialkasse oder der ZAV sehen sich nicht in der Verantwortung, sich für mehr Präsenz einzusetzen. Es mangelt an Ideen zur Verbesserung der Situation und es besteht Unsicherheit darüber, welche Maßstäbe bei der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung gelten sollen. Oftmals fehlt es auch an unterstützend arbeitenden Netzwerken.
Bergit Fesenfeld: Ich antworte jetzt mal mit zwei Hüten auf dem Kopf. Als Redakteurin beim WDR kenne ich einerseits das Programm sehr gut, auf der anderen Seite vertrete ich Menschen mit Behinderung und bin in der Funktion der von ihnen gewählten Personalvertretung auch bei Bewerbungsverfahren dabei. Hier bekomme ich die vorherrschenden Sorgen mit, Menschen mit Behinderung einzustellen. Diese kann ich fast immer entkräften, denn es gibt Hilfsmittel und persönliche Assistenzen, die ich beantragen kann. Die Hilfen werden bezuschusst; das muss der WDR gar nicht bezahlen. Damit gelingt es, dass jemand eingestellt werden kann, die oder der eine Einschränkung hat. Wir haben – wie gesagt – sehr viele Berufe, in denen die Einstellung gelingt. Wenn es um die redaktionelle Besetzung geht, wenn es also darum geht, die Entscheider oder Entscheiderinnen, die die Programminhalte bestimmen, von der Mitarbeit von Menschen mit Behinderung zu überzeugen, wird es manchmal etwas schwieriger. Denn dann ist eine hohe Qualifikation – auch in unterschiedlichsten Bereichen – die Voraussetzung für eine Anstellung. Hierbei spielt die Vor- und Ausbildung eine große Rolle. Je inklusiver unsere Schulen sind, umso größer sind die Chancen, dass Menschen mit einer Einschränkung den erforderlichen Abschluss schaffen können und damit formal die Voraussetzungen für eine redaktionelle Tätigkeit erfüllen.
Ich freue mich, dass wir auf dem Weg sind. Wir haben einen Hauptabteilungsleiter, der im Rollstuhl sitzt, wir haben eine blinde Kollegin, die hervorragende Arbeitet macht. Und es thematisiert gar keiner mehr, dass sie blind ist. Es gibt also positive Beispiele, über die ich mich sehr freue, aber es ist im Einzelfall nach wie vor großer Bedarf an Aufklärung nötig, um eine tatsächliche Stellenbesetzung dann auch wirklich umzusetzen. Aber es gelingt, und jedes positive Beispiel, bei dem es gelingt, macht den anderen dann wieder Mut. Unser blinder Volontär hat im Fernsehen eine Zwei als Abschlussnote erhalten. Überall hatte er eine Eins, nur im Fernsehen eine Zwei. Er wurde gefragt, wie es denn im Fernsehen zu der Zwei kam? Es ist doch grandios, dass ein junger Mann, der blind ist, in der Fernsehredaktion eine Zwei als Abschlussnote erreicht, das finde ich einfach unglaublich. Im Fernsehen hat er, trotz seiner Blindheit, eine Zwei geschafft. Man sollte darauf achten, von welcher Warte aus Menschen etwas leisten. Wenn jemand mit einer Einschränkung hervorragende Leistung bringt, ist diese noch anders zu bewerten als die von einer Person ohne Einschränkung. Gerechterweise sind hier andere Maßstäbe anzulegen und Leistungen zu bewerten, wenn jemand, der andere Voraussetzungen mitbringt und mehr leistet als jeder andere. Wir sollten auf die Leistungsfähigkeit sehen und nicht auf die Defizite. Dass unser Volontär seine Abschlussprüfung so gut hinbekommen hat, ist ein gutes Beispiel, mit dem ich im Haus weiterarbeiten kann und dazu ermuntern kann, auch die nächsten Stellen bitte auch einmal wieder mit Menschen mit Behinderung zu besetzen, wenn sie geeignet sind. Ich bin dagegen, per se immer Menschen mit Behinderung Recht zu geben oder in Watte zu packen. Wir müssen Menschen mit Behinderung genau so ernst nehmen wie alle anderen. Das heißt, sie brauchen andere Rahmenbedingungen, sie brauchen vielleicht eine andere Ausstattung des Arbeitsplatzes, aber wir müssen ihnen auch Leistung abverlangen. Sonst nimmt man sie nicht ernst.
Herr Kleinknecht: Ich werde auch noch einmal aus Sicht des ZDF versuchen, die Frage nach den Beschäftigungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung zu beantworten. Wir haben eine äußerst restriktive Personalpolitik; diese haben wir uns nicht ausgesucht, sondern sie ist dem in den letzten Jahren gewachsenen politischen Druck geschuldet, dem das ZDF ausgesetzt ist. Vor Kurzem wurde ich bei einer Tagung vom Deutschen Gehörlosen-Bund gefragt: „Würdet ihr einen Mitarbeiter mit Behinderung einstellen?“ Ich habe geantwortet: „Ja, natürlich. Dann muss ich allerdings einen anderen entlassen, wenn ich ihn nur deswegen einstelle, weil er eine Behinderung hat.“ Bei der Einstellung spielt bei uns neben dem Gehalt das Kriterium der Best-Eignung eine Rolle. Selbstverständlich ist auch bei uns der Schwerbehindertenbeauftragte bei den Einstellungsgesprächen dabei; und bei gleicher Eignung gilt, dass wir – was wir von der Gender- bzw. der Frauenquote her kennen – bei gleicher Eignung den Schwerbehinderten bzw. die Frau bevorzugen. Das finde ich völlig o. k. Aber die Personalentwicklung im ZDF steht vor ganz gravierenden Problemen – und zwar nicht nur wegen der Behinderung, sondern eben auch, weil der Altersdurchschnitt der Beschäftigten bei mittlerweile über 50 Jahren liegt. Das ist dramatisch; und man kann sich fragen, wie wir es überhaupt schaffen, ein Programm für die unter 50-Jährigen zu machen. Dass uns das trotzdem gelingt, ist Ausdruck der Jugendlichkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber: Scherz beseitige. Insgesamt stellt sich uns das Thema, wie wir es schaffen, mit den Forderungen der Politik oder auch mit den Personalkürzungen der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten – kurz KEF – so umzugehen, dass wir die absolut unterstützungswerten Ideen, die hier aufs Podium gebracht werden, auch umsetzen können. Wie schaffen wir es, in den verschiedenen Bereichen tatsächlich eine nennenswerte Zahl von qualifizierten Kolleginnen und Kollegen mit einer Behinderung einzustellen, die in ihrem jeweiligen Wirkungskreis dafür sorgen können, dass dem Thema mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird? Ich glaube, die Herausforderung ist an den jeweilig verschiedenen Stellen zu finden, Frau Berg hat bereits völlig zurecht die verschiedenen Arbeitsfelder angesprochen: Kameraleute, Schnitt, Produktionsmanagement, Redaktion. Es ist wichtig, dass wir es überall als selbstverständlich erachten, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind, die zum Beispiel im Rollstuhl sitzen, blind oder gehörlos sind.
Susanne Keuchel: Ist es eine realistische Perspektive, dass wir – ein wenig überspitzt gesagt – in 20 Jahren die Chance haben werden, eine stärkere Vielfalt in die Stellenbesetzung einzubringen?
Jürgen Kleinknecht: Das Problem ist tatsächlich, dass wir in 10 oder 15 Jahren ganz viele junge Menschen einstellen können. Nur wer arbeitet sie dann noch ein, wenn die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen fehlen? Das ist eine ganz praktische Frage, der sich im Moment unsere Personalabteilung mit großer Priorität widmet. Dieser demografische Wandel ist nicht nur in der Gesellschaft ein Thema, sondern bildet sich in den öffentlich-rechtlichen Anstalten ebenso ab.
Christine Berg: Im Vergleich zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen möchte ich noch einmal auf die Perspektive des – in nenne es einmal – freien Markts eingehen. Warum legen Filmhochschulen in der Ausbildung nicht ein Augenmerk auf die Ausbildung von Menschen mit Behinderung? Die Filmhochschulen bilden Autoren, Regisseurinnen sowie Schnittmeister aus – Berufe, für deren Ausübung es wirklich völlig egal ist, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht. Der freie Markt ist unabhängig von diesem großen Unterbau, mit Redaktionen, die mit freien Produzenten, mit freien Autorinnen, mit freien Regisseuren zusammenarbeiten. Das ist ein ganz großes Feld. Kinofilmen werden nicht von Sendern oder Verleihern gemacht, sondern von freien Produzentinnen und Produzenten. Da sind die Filmhochschulen schon etwas gefordert, den Nachwuchs entsprechend auszubilden. Aber möglicherweise legen Filmhochschulen darauf bereits ihr Augenmerk, wer weiß?
Susanne Keuchel: Auch das Thema der Künstlerinnen und Künstler in den Medien zeigt wieder, dass ein Kriterium das andere bedingt. So steht auch der künstlerische Arbeitsmarkt in Abhängigkeit zur Aus- und Weiterbildung. Frau Fesenfeld hat bereits darauf hingewiesen: bestimmte Tätigkeiten setzen spezifische Ausbildungsbiografien voraus. Ausbildungen an den künstlerischen Hochschulen sind zum Teil nur begrenzt zugänglich, zum einen durch die hohe Zahl an Mitbewerberinnen und Mitbewerbern, zum anderen erfordern Studiengänge Fächerkombinationen, beispielsweise die Belegung des Zweitfachs Piano im Fach Musik. Ein hervorragender Sänger, der nur einen Arm hat, würde aus diesem Grund von einer Musikhochschule abgelehnt.
Michael Jörg: Alles hängt mit allem
zusammen. Als Vertreter des Fernsehrats möchte ich den beiden Protagonisten der
öffentlich-rechtlichen Sender natürlich auch beispringen. Wir führen im Moment
eine Strukturdebatte. Hier ist politische Einmischung von allen Seiten gefragt,
um den öffentlichen Rundfunk zu fördern. Alle Sender haben inzwischen
Vorschläge für Einsparungen vorgelegt; wir tragen ein enges Korsett. Innerhalb
eines Jahres meines inklusiven Gesellschaftssitzes im ZDF-Fernsehrat haben mich
schon drei ausgebildete behinderte Journalisten um meine Hilfe gebeten, ihnen
eine Stelle zu vermitteln. Hier kann ich nur Türöffner und Ermöglicher sein.
Aber jede und jeder hat sofort gesagt: „Das geht nicht. Wir müssen bis 2020
noch 200 Stellen abbauen und können niemanden mehr einstellen, so gern wir das
auch tun würden.“ Damit die Generationen, die ab 2022
oder 2025 bei uns in Rente gehen, Leute einarbeiten können, die wir bräuchten,
um weiter Fernsehen machen zu können, müsste eigentlich der Personalstamm
aufgebaut werden. Denn, wenn jemand 30 Jahre beim ZDF gearbeitet hat und in
Rente geht, nimmt er jede Menge Know-how mit. Das ist die tragische Geschichte
der Demografie. An dieser Stellschraube der Nachwuchsförderung könnten wir
Sender sicherlich einiges machen, gäbe es nicht die Vorgaben vonseiten der
Politik. Daher nochmals meine Aufforderung an die Bevölkerung, politisch auf
die Entscheidungsträgerinnen und -träger einzuwirken, um den
öffentlich-rechtlichen Rundfunk vernünftig weiterentwickeln zu können. Das
Sparen darf eine vernünftige Weiterentwicklung des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks nicht ausschließen.
Susanne Keuchel: Im Sinne der Inklusion werden wir uns im Rahmen des Netzwerks gern dafür einsetzen, dass sich Strukturen ändern können.
Bergit Fesenfeld: Ich möchte noch etwas
ganz Praktisches zu dem Aspekt ergänzen, warum bei den Sendern nicht mehr
Menschen mit Behinderung beschäftigt werden.
Ein Mitarbeiter mit einer Einschränkung braucht ein Hilfsmittel. Dafür braucht
es einen Kostenträger. Ist der Mitarbeiter nicht fest angestellt,
sondern ein freier Mitarbeiter, ist es wahnsinnig schwierig, einen Kostenträger
zu finden. Für fest angestellte Kolleginnen und Kollegen werden zum Beispiel
besondere Tastaturen sowie eine Rampe finanziert. Für die freien
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das heißt
für viele (Drehbuch-)
Autorinnen und -Autoren sowie künstlerisch aktive Menschen – das sind freie
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Regel – kann ich das nicht beantragen.
Ich kann fest angestellte Menschen gleichstellen lassen, das ist ein Begriff
aus dem Sozialgesetzbuch. Dann gibt es nahezu die gleichen Schutzrechte wie für
Menschen mit Schwerbehinderung. Freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können
so eine Gleichstellung aber gar nicht beantragen, da sie keinen Arbeitsvertrag
haben. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Jemand, der eine persönliche
Assistenz braucht und keinen Kostenträger findet, der hat schlechte Karten.
Unser Sozialsystem zeigt sich hier sehr kompliziert, mit sehr viel
Kompetenzgerangel. Und selbst wenn man sich auskennt, rennt man gegen Wände. Es ist ungeheuer schwierig, als Freiberufler oder
Freiberuflerin mit einer Behinderung überhaupt zu überleben. Wenn man eine
Gebärdendolmetscherin braucht und es gibt niemanden, der diese bezahlt, was
macht man denn dann? Ich kann als Schwerbehindertenvertreterin im WDR nur was für
die Festangestellten tun und nicht für die zahllosen Freien, die bei mir
ebenfalls um Beratung bitten. Ich kann sie beraten, ermutigen und ich kann bei
Konflikten vermitteln, aber ich kann keine Hilfsmittel für sie beantragen. Das
macht es für Künstler und Künstlerinnen mit Behinderung extrem schwierig, denn
ohne Hilfsmittel, ohne Assistenz, ohne eine Rampe, kommt man sehr schlecht
weiter. Daher hat die mangelnde Inklusion nicht nur mit den Senderstrukturen zu
tun, sondern auch mit den Strukturen unserer Sozialsysteme, die ausschließlich
darauf ausgelegt sind, die Arbeitskraft zu erhalten. Das wiederum hängt mit der
Geschichte unserer Reha-Leistungssysteme
nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Gefördert wird das, was die
Arbeitskraft erhält und sonst gar nichts. Was wir auf dem Papier stehen haben
und was die UN-Konvention vorgibt, nämlich die Teilhabe von Menschen mit
Behinderung zu fördern, ist in den Gesetzen und ihren Feinheiten nicht
abgebildet. Hat jemand einen festen Arbeitsvertag, kriegt man ganz viel. Hat
jemand keinen, gibt es ganz wenig. Und das ist ein Strukturproblem, gerade im
Kulturbereich.
Susanne Keuchel: Im Netzwerk begegnet uns diese Statusabhängigkeit kontinuierlich. Künstlerinnen und Künstler üben eine ganz spezifische Arbeitsform aus, in der Regel häufig freiberuflich. Dann entfallen genau diese Standards, die mit einem sozialversicherungspflichtigen Anstellungsverhältnis einhergehen. Eine Festanstellung bei öffentlich-rechtlichen Sendern zu finden, erweist sich aufgrund mangelnder Kapazitäten insgesamt als schwierig. Frau Berg, auch Sie arbeiten mit freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammen. Wie viel Kontakt haben Sie denn zu freien Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung?
Christine Berg: Wir arbeiten ausschließlich mit freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, also mit Produzenten, Autorinnen und Regisseuren. Zwei Freie, so weiß ich ganz ad hoc, haben eine Behinderung; der eine ist ein Regisseur und der andere ein Produzent. Der Produzent Olaf Jacobs ist einer der erfolgreichsten im Dokumentarfilmbereich; er hat ein paar Kinofilme gemacht, daher kennen wir ihn. Er produziert viele Filme fürs Fernsehen, er sitzt im Rollstuhl. Der Regisseur Niko von Glasow ist contergangeschädigt. Die beiden sind die einzigen Freien, die mir einfallen. Ich schlage noch einmal die Brücke zu meiner Einstiegsfrage: Ich muss mich erst mal einarbeiten, was es eigentlich für die Freien mit Behinderung bedeutet, wenn wir mit ihnen zusammenarbeiten. Ich habe immer gedacht: „Mensch, der ist doch Autor, der sitzt und arbeitet zuhause.“ So kenne ich das, und da ist es völlig egal, ob man behindert ist oder nicht. Auch als Förderung kann man da vielleicht Einfluss nehmen. Ich verstehe, dass Problematiken dahinterstehen, die nicht ganz einfach zu lösen sind. Aber es ist schon ein grundsätzliches Problem des harten Kinomarkts, auf dem es völlig egal ist, ob man eine Behinderung hat oder nicht. Da heißt es, man schreibt ein Drehbuch, und entweder man verkauft es oder man verkauft es nicht. Das ist ein ganz schwieriges Geschäft.
Susanne Keuchel: Das Wichtigste ist, einen Perspektivwechsel anzuregen und den Versuch zu starten, etwas zu ändern. Im Kontext von Diversität zeigt das Beispiel von Menschen mit Migrationshintergrund, die zum Teil hervorragend ausgebildet sind, dieses Umdenken bereits Wirkung: In der Organisation Neue deutsche Medienmacher haben sich beispielsweise Journalisten und Journalistinnen mit und ohne Migrationshintergrund zusammengeschlossen. Es wäre hilfreich, wenn sich auch Netzwerke bilden, in denen im Sinne einer Gleichberechtigung bewusst Menschen mit und ohne Behinderung aufeinander zugehen.
Zum Abschluss eine Frage an alle Podiumsmitglieder: Wo sehen Sie nach dieser Diskussion Potenzial in Ihrem eigenen Handlungsfeld, einen kleinen Schritt in Richtung Inklusion zu gehen?
Bergit Fesenfeld: Ich freue mich, dass so viel in Bewegung ist. Ich nehme von der Tagung mit, dass es ganz viele engagierte Menschen in unterschiedlichsten Feldern gibt, die kreative Ideen zusammenbringen. Da ist eine Menge Energie drin. Es gibt aktuell einige Studien zur Schnittstelle Massenmedien und Behinderung, das finde ich spannend. Sie zeigen ganz unterschiedliche Perspektiven, die plötzlich aufgegriffen werden, auch in der Forschung, auch da ist was in Bewegung. Und diese Energie sollten wir nutzen, von dieser Tagung mitnehmen und die Vernetzung, die hier möglich ist, auch in der Praxis umsetzen. Ganz konkret heißt das, die Zusammenarbeit der Menschen mit und ohne Behinderung zu fördern, Ideen dazu weiterzuverfolgen und die Expertise, die hier versammelt ist, zusammenzubinden – dann macht es auch Spaß an diesem Thema weiterzuarbeiten. Das ist mir ein Anliegen, als Journalistin und als Vertreterin der Menschen mit Behinderung im WDR, und ich werde jeden Tag morgens aufstehen und sagen: „Ich mache da einfach weiter.“
Christine Berg: Ich sage es ganz offen, ich werde jetzt auf jeden Fall mit unserem Produzenten reden wie auch mit den Autorenverbänden und nachforschen, ob man an den Arbeitsbedingungen für Freie etwas ändern kann. Wir sind ein Freund von Zahlen, wir sind in Deutschland und dann auch noch Förderer – ich würde vorschlagen, dass man da durchaus mal eine Erhebung machen könnte. Ich vermute, die Zahlen werden deutlich aufzeigen, wie wenig Menschen mit Behinderung in der Filmproduktion beschäftigt sind. Mit einem solchen Ergebnis würde dann aber auch die Politik in Erklärungsnot geraten auf die Fragen wie: „Wieso gibt es eigentlich nur so wenige Menschen mit Behinderung in den Filmproduktionen und in der Ausbildung, und was sind die Barrieren?“ Das würde ich gern heute mitnehmen, ohne zu viel versprechen zu können.
Michael Jörg: Als Fernsehrat-Vertreter möchte ich gern die Wünsche der Menschen mit Behinderung an den öffentlichen-rechtlichen Sender ZDF sammeln. Ich wäre sozusagen Sammler und Sprachrohr für diese Menschen. Ich würde außerdem gern noch die Gründung einer Bundesstiftung vorschlagen, die barrierefreie Formate im Theater und Museum fördert. Die Stiftung könnte zum Beispiel auch die Freiberuflerinnen und Freiberufler in ihr Förderprogramm aufnehmen, sodass sie etwa Hilfsmittel bekommen oder mit Menschen, die behindert sind und einen festen Vertrag haben, gleichgestellt werden können. Das wäre eine gute Sache, eine Stiftung zu haben, um für Festangestellte übliche Sozialleistungen zu finanzieren.
Jürgen Kleinknecht: Ich werde weiterhin intern bei uns im ZDF dafür werben, Vielfalt als Chance zu begreifen. Einerseits, um innerhalb des Unternehmens die Sensibilität für Menschen mit Behinderung in den Bereichen zu erhöhen, aber auch zur Akzeptanzsicherung nach draußen für unser Programm, für unsere Angebote – in Zeiten, in denen den Öffentlich-Rechtlichen der Wind leider immer stärker ins Gesicht weht.
Susanne Keuchel: Herzlichen Dank für die engagierte und proaktive Diskussion zum Thema „Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung in Film und Fernsehen – Barrieren und Teilhabe“.
[1] Der Text basiert auf der Transkription des „Kulturpolitischen Forums WDR 3“, aufgezeichnet in der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW in Remscheid am 6. Oktober 2017, ausgestrahlt am 5. November 2017 auf WDR 3 (www.kulturpartner.net/sites/default/files/foru/wdr3forum_2017-11-05_kuenstlerinnenundkuenstlermitbeeintraechtigungen_wdr3.mp3). Zur besseren Lesbarkeit wurden die Texte sprachlich angepasst.
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