Ende letzten Jahres haben wir von Rollenfang alle Intendantinnen und Intendanten der öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland angeschrieben, um herauszufinden, in welcher Art und in welchem Umfang die Sender ihr Engagement für eine größere Beteiligung und eine größere Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung im deutschen Fernsehen sehen.
Stellvertretend für die Intendanz der ARD antwortete Prof. Dr. Karola Wille, die Intendantin des MDR. Wille versichert, wie wichtig für sie und ihre Kolleginnen und Kollegen „Vielfalt, Integration und Inklusion“ in der Gestaltung des Fernsehprogramms als auch der unternehmerischen Philosophie wären. Sie weist auf die Diversity-Managerin des WDR hin und auf den Film „So wie Du bist“, bei der eine Schauspielerin mit Downsyndrom mitgespielt habe (übrigens eine Produktion von bereits 2012, nicht nur mit der wundervollen Juliana Götze, sondern auch mit Sebastian Urbanski).
Sie bedauert gleichzeitig, dass nicht vielmehr Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung im deutschen Fernsehen zu sehen seien, denn in „einem Unternehmen, das auf finanzielle Ressourcen achten muss“ kämen
noch weitere Aspekte hinzu […]. Bei Dreharbeiten, an denen Menschen mit Einschränkungen beteiligt sind, müssen die Produktionsfirmen auch auf formale Aspekte wie zum Beispiel Drehzeiten u. ä. achten. Das macht es für die Firmen häufig nicht leicht, die Rollen immer so zu besetzen, wie es vielleicht wünschenswert wäre.“
Es ist also nicht der Wille, der fehlt, sondern es sind letztlich die finanziellen Zwänge, die erklären sollen, dass die größte Minderheit in Deutschland in den Medien nicht adäquat repräsentiert wird.
In Deutschland leben nach den Angaben des Statistischen Bundesamts für 2015 10,2 Millionen Menschen, das heißt 13 Prozent der Bevölkerung, mit einer Behinderung. Von diesen leben 7,6 Millionen, das heißt 9,6 Prozent der Bevölkerung, mit einer Schwerbehinderung. Leider gibt es für Deutschland noch keine empirischen Daten für die Präsenz von Menschen mit Behinderung in Fernsehproduktionen. Doch die Daten für 2015 in den USA, die The Ruderman Family Foundation 2016 in ihrer Studie „On Employment of Actors with Disabilities in Television“ veröffentlicht hat, scheinen übertragbar:
In den USA leben 55 Millionen Menschen mit Behinderung, das heißt 18,7 Prozent der Bevölkerung. 2016 porträtierten gerade 2,2 Prozent von allen Rollen in TV-Serien Menschen mit Behinderung, davon wurden 95 Prozent mit Schauspielerinnen und Schauspielern ohne Behinderung besetzt. Die Präsenz von Menschen mit Behinderung für die gesamten Medien der USA werden sogar nur mit zwischen 0,9 Prozent und 1,4 Prozent geschätzt.
Diese Zahlen zeigen, wie Menschen mit Behinderung in Film und Fernsehen skandalös unterrepräsentiert sind. Dabei werden sie nahezu in allen Fällen von Schauspielerinnen und Schauspielern ohne Behinderung dargestellt. Sehr oft wird zudem die Darstellung eines Menschen mit Behinderung nur eindimensional auf eben diese Behinderung reduziert. Das heißt nicht, dass Schauspielerinnen oder Schauspieler ohne Behinderung keine Menschen mit Behinderung darstellen könnten oder sollten. Oftmals sind sie sogar sehr erfolgreich darin, wie 1989 Dustin Hoffman in der Rolle eines Mannes mit ausgeprägtem Autismus in „Rain Man“ und im darauffolgenden Jahr Daniel Day Lewis in seiner Darstellung eines Mannes mit schwerer zerebraler Lähmung in „My Left Foot“: beide bekamen einen Oscar als beste Hauptdarsteller.
Wir können davon ausgehen, dass auch in Deutschland die Kluft zwischen der Zahl der betroffenen Menschen und ihrer Präsenz in den Medien enorm ist. Aber machen wir uns nichts vor: Es sind daran nicht die Sender, Produktionsfirmen oder Filmschaffenden Schuld, sondern wir alle, die die Auseinandersetzung mit den Leben, Erfahrungen und Problemen von Menschen mit Behinderung scheuen – im wahren Leben wie auf der Mattscheibe oder Filmleinwand.
Es ist nicht zu leugnen, dass dagegen die Wahrnehmung und Reaktion auf Ungleichheit aufgrund von Ethnie, Geschlecht oder sexueller Orientierung gestiegen ist. Auch die Produktionsverhältnisse und die Sichtbarkeit im Film und Fernsehen haben sich für diese Gruppen deutlich verbessert. Nehmen wir zum Vergleich auch hier Zahlen, die die Ruderman Foundation in ihrem Report nennt: In 2015 waren von allen Rollen im Fernsehen 43 Prozent von Frauen, 16 Prozent von African-Americans, 33 Prozent People of Color besetzt, bei Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender (LGBT) wurde ein starkes Wachstum verzeichnet. Mittlerweile ist auch die Aufmerksamkeit für die Besetzung von Rollen beispielweise nach entsprechender Ethnie gestiegen. Vor zwei Jahren bat die rotblonde Schauspielerin Emma Stone um Entschuldigung für ihre Darstellung einer Halb-Asiatin in „Aloha“. Im letzten Jahr sorgte Tilda Swinton für Empörung, weil sie die Rolle eines Tibetaners in „Doctor Strange“ übernommen hatte.
Doch wenn es darum geht, Geschichten von Menschen mit Behinderung zu erzählen und die entsprechenden Rollen auch mit Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung zu besetzten, finden wir eine große Leerstelle. Vielleicht gründet dieser blinde Fleck darin, dass niemand ungewollt und unerwartet ihr oder sein Geschlecht, ihre oder seine Herkunft oder sexuelle Orientierung wird ändern müssen, mit einer schweren Behinderung kann man aber sehr wohl plötzlich und persönlich konfrontiert sein.
Dabei ist mediale Präsenz zumal von bislang über- oder eher ungesehenen Bevölkerungsgruppen bedeutsam. Film und Fernsehen prägen unseren Blick und Handeln gegenüber anderen Menschen und der Welt insgesamt. Sie prägen Bilder von der Welt und von uns selbst, produzieren unsere Identitäten, Hoffnungen und Ängste. Menschen mit Behinderung, die Ausgrenzung erlebt haben, brauchen positive Beispiele dafür, wie sie sich medizinischen Festschreibungen von Behinderung als einen Mangel und den damit verbundenen sozialen und innerpsychischen Stigmata erwehren können. Und Menschen mit Behinderung, die sich dafür entscheiden, ihren künstlerischen Ausdruck zu finden, vielleicht sogar einen künstlerischen Beruf zu ergreifen, haben – ja – das Recht, vom Kultur- und Bildungsbetrieb dafür entsprechend ihrer individuellen Erfahrungswelten und Fähigkeiten ausgebildet zu werden.
In der Reihe „Disability“ veröffentlicht „The New York Times“ seit bereits über einem Jahr Berichte und Essays von Menschen mit Behinderung und dokumentiert so diese „individuellen Erfahrungswelten und Fähigkeiten“, die letztlich Grund und Ziel einer inklusiven Kulturproduktion sind. Drei der Berichte können hier für die noch verborgene Vielfalt an Wissen stehen:
Shane Fistell, der in Toronto als Künstler lebt, beschreibt in „My Life With Tourette’s Syndrome“ wie sein Leben von den unwillentlichen Bewegungen, Ausrufen und Tics gleichzeitig bestimmt und infrage gestellt wurde: die Medizin gibt die Definition für seine Erkrankung, die für die Polizei Grund ist, ihn immer wieder auf der Straße festzuhalten. Obwohl er nicht flucht – tatsächlich fluchen nur wenige Menschen mit Tourettesyndrom, auch wenn dies das Bild von ihnen beherrscht –, war er ständig dem Fluchen anderer über seine Symptome sowie ihren Vorurteilen, Provokationen und ihrem Mitleid ausgesetzt. Nachdem er beschlossen hatte, dass seine Medikamentation mehr seinem Umfeld nutzte als ihm, entschied er sich, die „soziale Akzeptanz der Freiheit, ich selbst zu sein, zu opfern“ (Übersetzung d. M. B.). Auch wenn er durch seine Erkrankung über gesteigerte Sinne und Aufmerksamkeit verfüge, bliebe für ihn die größte Herausforderung das Leben selbst (The New York Times 2016a).
In „The Dawn of the ‚Tryborg‘“ bezeichnet die Autorin Jillian Weise sich selbst als Cyborg. Sie trägt seit mehr als 30 Jahren prothetische Beine. Ihr aktuelles Modell hat ein computergesteuertes Knie und ist durch ein Vakuumsiegel mit ihr verbunden, sodass für sie nicht mehr wahrnehmbar ist, wo ihre Beine enden und wo die Prothesen beginnen. So ist Weise über eine Schnittstelle an einen Computer gebunden und von diesem für die wichtigsten Fortbewegungsabläufe abhängig. Alle anderen, die Technik in ihre Leben integrieren – mit ihren Google Glasses und all den anderen neuesten technischen Gadgets –, und nicht wie sie tatsächlich auf diese Technik angewiesen sind, bleiben nur „Tryborgs“, sie „versuchen“ nur ein Cyborg zu sein. Solange die Tryborgs die Geräte nach Batterieversagen ohne weiteren Verlust einfach weglegen können, bleibt für sie das Leben als Cyborg nur eine Metapher. Doch Weise gibt all dieses vermeintlichen Trendsettern Hoffnung: wenn sie einmal tatsächlich zu Cyborgs heranwachsen würden, würde es eine große Zahl von Menschen geben, die sie darin mit ihrer Erfahrung unterstützen könnten (ebd. 2016b).
Der Lyriker Daniel Simpson, blind geboren, schreibt in „Space Travel: A Vision“ von seiner Faszination vom Mond, einem Objekt, das er niemals gesehen hat. Von seiner Existenz hat er nur durch Erzählungen seines Vaters und Großvaters erfahren, und weil viel zu viele Liebesgedichte davon handeln. Ihm schien immer, dass der Mond, da er ihn nicht sehen könne, für ihn noch viel weiter weg sei als für alle anderen. Doch essenziell hätte der Mond für ihn die gleiche Bedeutung. Seine Begeisterung für das Mondprogramm der USA während seiner Kindheit wäre nicht geringer als die anderer Kinder (ebd. 2016c).
Diese und viele weitere Lebenswelten von Menschen mit Behinderung, dargestellt von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung, im Film und Fernsehen zu erzählen, ist schwer – die Intendantin des MDR hat das betont. Die bestehenden Produktionsverhältnisse sind aber nicht unwägbar, man kann ihnen mit für Film und Fernsehen professionell ausgebildeten Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung ein Stück weit entgegenkommen. Um nicht nur der Industrie und ihren Bedarfen gerecht zu werden, sondern auch den Menschen, über und mit denen sie arbeiten will, brauchen wir eine neue Art und Weise, wie Menschen mit Behinderung im Schauspiel vor der Kamera ausgebildet werden.
Denn es reicht nicht, Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung für die Arbeit vor der Kamera zu qualifizieren. Um der Idee einer inklusiven Ausbildung gerecht zu werden, müssen Erfahrungsräume geschaffen werden, die es Menschen mit Behinderung ermöglichen, sich mit ihren eigenen Fähigkeiten und Kenntnissen in den Ausbildungsprozess und die Ausbildungsziele einzubringen und damit auch die Erfahrungen und Ziele anderer zu beeinflussen. Dafür benötigen Ausbilderinnen und Ausbilder neues pädagogisches Rüstzeug. Die Studie „Inklusion als Gegenstand in künstlerischen Studiengängen“ von Junior-Professorin Dr. Juliane Gerland, einer der Herausgeberinnen dieses Bands, zeigt nicht nur, dass Menschen mit Behinderung, die den Schauspielberuf ergreifen wollen, in Deutschland momentan keine Möglichkeit haben im universitären Rahmen eine Ausbildung zu erfahren. Die Untersuchung zeigt auch, dass es momentan keine wissenschaftliche Beschäftigung mit inklusiver Schauspielpädagogik gibt.[1] Zwar gibt es viele gute inklusive Theaterensembles in Deutschland – stellvertretend seien die Ensembles Meine Damen und Herren aus Hamburg sowie Rambazamba und Thikwa aus Berlin genannt. Doch eine Ausbildung für die Arbeit vor der Kamera, in einer Umgebung, die von produktionstechnischen Zwängen beherrscht wird, erfordert zusätzliche Vorbereitung.
Im Gegensatz zur Schauspielpädagogik hat die Musikpädagogik in der inklusiven Arbeit mit Menschen mit Behinderung bereits Forschungsergebnisse vorzuweisen und konnte sie auch erfolgreich in die Praxis umsetzen. Hier möchte ich besonders auf die Arbeit an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz verweisen, die Prof. Bianka Wüstehube in diesem Band vorstellt. Für eine inklusive Schauspielpädagogik ergibt sich daran angelehnt ganz grundsätzlich die Notwendigkeit, eine pädagogische Grundhaltung zu entwickeln, die die Heterogenität der Studierenden als Ressource versteht und für die künstlerischen wie pädagogischen Ziele nutzbar werden lässt.
Diese Schauspielpädagogik versteht sich dabei als ein Instrument, um Methoden auszubilden, die allen Menschen eine Fortbildung in Schauspiel vor der Kamera ermöglicht. Diese „Pädagogik der Vielfalt“ – um diesen wichtigen Begriff von Annedore Prengel zu verwenden – erkennt dabei das Recht eines jeden Menschen auf Entwicklung und Förderung seines künstlerischen Ausdrucks – hier insbesondere des schauspielerischen Ausdrucks – sowie die individuellen Bedürfnisse einen jeden Menschen – nicht nur der mit Behinderung – an.
Für die produktionstechnisch anspruchsvolle Filmindustrie und deren vorgeschalteten Ausbildungsprogramme ist es sicherlich nicht einfach, die Voraussetzungen für eine Pädagogik der Vielfalt zu schaffen. Die Akzeptanz der Vielfalt schöpferischer Leistungen, die Abkehr von Exzellenz als Qualifizierung und Ziel von künstlerischen Prozessen oder die Nutzung von Störungen und Wendungen in neue pädagogische und künstlerische Prozesse war auch im Musikbereich lange nicht vorstellbar. In der akademischen Schauspielausbildung gibt es nun zumindest Anfänge, diese Herausforderung auf sich zu nehmen. Wir freuen uns sehr, dass ein erster inklusiver Workshop in Kooperation mit Rollenfang bei der Filmuniversität Babelsberg ein ernst zu nehmendes Interesse geweckt hat, dieses Thema von den Grundlagen an neu zu erarbeiten.
Die gemeinsamen Ziele und die Motivation für die Entwicklung dieser neuen inklusiven pädagogischen Formate dürfen wir dabei nie aus den Augen verlieren: die Erweiterung des pädagogischen Gegenstands und der pädagogischen Prozesse um Lebenserfahrungen sowie kreative und künstlerische Methoden von Menschen mit Behinderung; und die Erweiterung der subjektiven Erfahrung und erworbenen Kenntnisse aller Beteiligten um Lebenserfahrungen sowie kreative und künstlerische Methoden der anderen.
Eine mögliche Struktur, die die oben genannten Voraussetzungen und Ziele ermöglicht, könnte ein Labor sein, das zwar außerhalb des bestehenden Curriculums der Hochschule steht, aber für die Studierenden als Wahlfach angeboten wird. Ähnlich bestehender Angebote, die einen interdisziplinären Blick über den eigenen fachlichen Horizont ermöglichen und empfehlen, wäre dies ein inklusiver Blick über die eigenen persönlichen, künstlerischen und professionellen Erfahrungen und Ziele hinaus: ein inklusives Studium generale. Ein erster Schritt könnte sein, bereits bestehende Formate inklusiven Musikunterrichts in die Schauspielausbildung zu integrieren und daraus inklusiven Schauspielunterricht zu entwickeln.
Um dem guten Willen der Intendanz der ARD, mehr gute Film- und Fernsehproduktion, die Geschichten von und mit Menschen mit Behinderung in Film und Fernsehen erzählen, Taten folgen zu lassen, wird es aber nicht reichen, Dozentinnen und Dozenten für eine inklusive Pädagogik zu sensibilisieren. Ein anderer wichtiger Beitrag wäre beispielweise auch von Drehbuchautorinnen und -autoren zu leisten: Szenen und Dialoge können von vornherein so formuliert werden, dass sie die Erfahrungen und Fähigkeiten einer Schauspielerin oder eines Schauspielers mit Behinderung einbeziehen und damit nicht nur die Produktionsabläufe vereinfachen, sondern auch der Lebenswelt der Rolle eines Menschen mit Behinderung größere Aufmerksamkeit schenken.
Aber gerade in der Ausbildung von Schauspielerinnen und Schauspielern für die Film- und Fernsehindustrie ist der gesellschaftliche Einfluss auf die Macht der Bilder, die unsere gegenwärtige Welt präsentieren und definieren, am größten. Menschen, die in der Ausbildung ein Umfeld erleben und erlangen, dass von Heterogenität und Vielfalt geprägt ist, werden auch in ihrer zukünftigen Arbeit den Blick auf die Welt der anderen stets einfordern.
[1] Siehe http://kultur-und-inklusion.net.
Weitere Informationen
Literatur
- Gerland, Juliane (2016): Inklusion als Gegenstand in künstlerischen und kunst-, musik-, kulturpädagogischen Studiengängen. Siegen [http://kultur-und-inklusion.net/wp-content/uploads/2017/01/Inklusion-als-Gegenstand-in-k%C3%BCnstlerischen-Studieng%C3%A4ngen.pdf, zuletzt aufgerufen am: 27.04.2017].
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