Das Netzwerk Kultur und Inklusion befasst sich seit Jahren mit der Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) in künstlerischen und kulturellen Feldern – eine Fragestellung, die auch an Kunst- und Musikhochschulen Relevanz besitzt. Auf die Rahmenbedingungen einerseits sowie andererseits die verschiedenen Aspekte der Thematik an den Hochschulen soll im Folgenden eingegangen werden.
An den Kunst- und Musikhochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) sind knapp ein Prozent der Studierenden des Landes eingeschrieben, in Summe sind das knapp 7000 Menschen. An jeder Hochschule sind Studierende bekannt, die eine Beeinträchtigung ins Studium mitbrachten oder bei denen später eine solche aufgetreten ist. Dabei handelt es sich sowohl um körperliche Beeinträchtigungen als auch um chronische oder psychische Erkrankungen. Nicht alle Studierenden sind im Sinne einer Schwerbehinderung erfasst. Aus Beratungsgesprächen an unseren Hochschulen wissen wir aber von einer hohen Anzahl Studierender, die im engeren Sinne dieser Gruppe zugerechnet werden können. Darüber hinaus gibt es sicher auch Fälle, die gar nicht bekannt sind. Verlässliche Zahlen können angesichts dieser Situation kaum erhoben werden, deshalb lässt sich keine Aussage darüber treffen, inwieweit der Anteil Studierender mit Beeinträchtigung an Kunst- und Musikhochschulen mit Durchschnittswerten in der Bevölkerung vergleichbar ist. In Bezug auf körperliche Beeinträchtigungen ist zu vermuten, dass die Zahl der betroffenen Studierenden unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegt – eine Beobachtung, die aufgrund der hohen Zahl an Studienplätzen, die bestimmte körperliche Fähigkeiten erfordern, plausibel erscheint. Tanzen, Singen oder Schauspiel einerseits, Instrumentalspiel andererseits erfordern in der Regel bestimmte Voraussetzungen. Allerdings bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel: Musikstudierende in Instrumentalklassen, in den Opernschulen, in musikalisch-technischen Studienbereichen, Studierende im Schauspiel, im Tanz, in den bildenden Künsten, in künstlerisch-pädagogischen sowie wissenschaftlichen Studienfächern und allen anderen Studienbereichen finden ihren Zugang zu Kunsthochschulen über eine erfolgreich absolvierte Eignungsprüfung. Es ist also möglich, auch mit einer Beeinträchtigung ein Studium an einer Kunst- oder Musikhochschule aufzunehmen. Dabei handelt es sich beispielsweise um Seh- oder Hörschädigungen, körperliche Fehlbildungen in allen Ausprägungsgraden, Epilepsie oder andere chronische Erkrankungen. Auch Beeinträchtigungen durch Unfälle oder andere äußere Einflüsse zählen dazu.
Alle Studierenden – mit oder ohne Beeinträchtigung – verfügen also über eine in der Eignungsprüfung festgestellte besondere künstlerische Eignung im jeweiligen Hauptfach.
Da die Kunst- und Musikhochschulen kleine Einrichtungen sind, die nicht selten nahezu familiäre Strukturen entwickelt haben – insbesondere wegen der kleinen Lerngruppen und des Einzelunterrichts – gibt es Möglichkeiten sehr individueller Ausgleichsmaßnahmen. Kann schon im Rahmen der Eignungsprüfung ein Nachteilsausgleich in Anspruch genommen werden, so besteht im weiteren Studium die Möglichkeit, Verlaufsplanungen individuell vorzunehmen und Prüfungen entsprechend anzupassen. Zudem kommen Assistenzsysteme ebenso zum Einsatz wie auch persönliche Assistenzen. Die meisten dieser sehr individuellen Angebote basieren auf den Studienberatungen, die in den vergangenen Jahren auch durch verschiedene Projektmaßnahmen im Land NRW ausgebaut worden sind, sowie natürlich auf der Arbeit der Ansprechpersonen für Studierende mit Beeinträchtigung.
An den Hochschulen sind weitere Ansprechpartnerinnen und -partner verortet. Beispielsweise können sich Behindertenbeauftragte, Ombudsleute, Psychosoziale Beratungsstellen, Musikmedizinische und Musikphysiologische Angebote, Gleichstellungsbeauftragte sowie zahlreiche Vertrauensleute in Lehre und Verwaltung den besonderen Bedürfnissen Studierender widmen – ob mit oder ohne Beeinträchtigung.
Zusätzlich zu den vorstehend genannten Beeinträchtigungen lässt sich feststellen, dass die Anzahl an psychischen Belastungsstörungen bis hin zu psychischen Erkrankungen unter den Studierenden zuzunehmen scheint. Dies ist eine Beobachtung, die sowohl mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen als auch mit Erhebungen unter Studierenden aller Hochschulen in Deutschland korrespondieren dürfte. Wie sich aber der Anteil psychisch erkrankter Studierender an Kunst- und Musikhochschulen zur gesamtgesellschaftlichen Verteilung genau verhält, lässt sich aufgrund der oben genannten Umstände ebenfalls nicht ermitteln. Ohnehin gibt es beispielsweise an Kunsthochschulen die Beobachtung, dass Erkrankungen im psychischen Bereich zu Dysfunktionalitäten führen können, die nicht immer erkennbar sind, für künstlerische Prozesse aber durchaus wertvoll sein können. Oder anders ausgedrückt: Beeinträchtigungen bieten Chancen für eigene künstlerische Zugänge, insbesondere in vorwiegend kreativ ausgerichteten Studienbereichen, weil sie möglicherweise einen zusätzlichen oder anders gelagerten Blick auf die Welt ermöglichen.
An den Kunst- und Musikhochschulen gibt es allerdings keine spezifischen Studienangebote oder Services für Menschen mit Beeinträchtigung, die proaktiv vorgehalten werden. Dies ergibt sich einerseits aus den geringen Fallzahlen und andererseits aus der Kleinheit der Hochschulen. In der Regel muss fallbezogen nach Lösungen für auftretende Behinderungen des Studierens gesucht werden. Auch in Bezug auf Barrierefreiheit sind große Einschränkungen sichtbar. In den zahlreichen, häufig historischen und denkmalgeschützten Gebäuden der Kunst- und Musikhochschulen sind Umbauten schwierig bis gar nicht möglich. Maßnahmen werden in der Regel bedarfsgerecht durchgeführt, dabei erscheinen beispielsweise Raumwechsel die bessere, weil die schneller umsetzbare Alternative zu sein.
Über die vorstehend behandelten Rahmenbedingungen hinaus soll das Thema „Inklusion in der künstlerischen Lehre“ im Folgenden von drei Seiten aus betrachtet werden:
- Inklusive Lehre für Studierende an den Kunst- und Musikhochschulen
- Inklusion als Gegenstand einer Tätigkeit in künstlerischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Arbeitsfeldern sowie
- Inklusion als gesellschaftlich relevantes Thema
1. Inklusive Lehre für Studierende an den Kunst- und Musikhochschulen
Im Lehralltag ist der Umgang mit den Herausforderungen, die durch Beeinträchtigungen entstehen, nur individuell zu regeln. Es gibt Studierende mit Assistenzen, die durch diese Unterstützung viele Barrieren recht gut meistern können. Dies sind oftmals persönliche Hilfen, also direkte Unterstützungen durch Begleitung im Alltag, durch die Mobilitätseinschränkungen oder Einschränkungen beim Hören oder Lesen ausgeglichen werden sollen. Daraus entsteht nahezu kein Handlungsbedarf für die Hochschule selbst. Beispielsweise müssen Lehrveranstaltungen kaum an die Situation angepasst werden.
Viele Studierende mit Beeinträchtigung benötigen aber auch seitens der Lehrenden eine Form von Aufmerksamkeit oder eines besonderen Verständnisses für bestimmte Bedürfnisse. Nun ist der Umgang mit heterogenen Gruppen – an den Hochschulen finden sich zahlreiche Personen mit geringen Sprachkenntnissen oder einem anderen kulturell geformten Verständnis von Hochschullehre – eine Aufgabe, der sich die Lehrenden ohnehin stellen müssen. Diese wird aber zunehmend komplexer. Deshalb besteht in vielen Fällen der Bedarf an Hilfestellungen, um die Lehre gut zu gestalten. Gemeint ist damit die Fähigkeit Lehrender, situations- und personenbezogen Lernprozesse anzuregen, zu ermöglichen und zu begleiten.
Anpassungsprozesse können aber schnell an Grenzen stoßen. Beispielsweise sind in den darstellenden Künsten Sehgewohnheiten oder Körperbilder etabliert oder in den Inszenierungsvorstellungen erwünscht, die nicht von allen Studierenden (oder Mitgliedern eines Ensembles im späteren Bühnenbetrieb) erfüllt werden können. Dies ist übrigens losgelöst von der Frage nach Beeinträchtigungen der Fall. Das Überschreiten dieser Grenzen kann folglich zu neuen Eindrücken führen und andere künstlerische Horizonte öffnen – ein Argument, das zu Recht immer von den Interessenvertretungen für Menschen mit Beeinträchtigung vorgebracht wird. Auf der anderen Seite steht die Freiheit der Kunst mit der Forderung, künstlerische Konzeptionen ungehindert umsetzen zu können. Dazu gehört die Entscheidung, diese Grenzen bewusst zu überschreiten und Menschen auf die Bühne zu bringen, deren Erscheinen möglicherweise unerwartet und überraschend ist, ebenso wie das Recht auf eine „klassisch“ anmutende Inszenierung. Im Idealfall sollten im Studium beide Ansätze erlebt werden können. Dass künstlerische Gesamtprozesse Veränderungen unterliegen und diese auch Abbild von Gesellschaft sind, ist eine Binsenweisheit, die ebenso zutrifft, wie die Feststellung, dass es auch ein künstlerischer Genuss sein kann, Vertrautes zu erleben.
2. Inklusion als Gegenstand einer Tätigkeit in künstlerischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Arbeitsfeldern
Leichter gelingt der Blick auf die Inklusion als Thema für die spätere Berufspraxis in den pädagogischen Studienfächern. Beispielsweise haben Aktivitäten des Verbands deutscher Musikschulen schon vor Jahrzehnten stattgefunden und vielerorts ist aus der früheren „Arbeit mit Behindertengruppen“ echte Inklusionsarbeit geworden. Solche Veränderungen sind auch in den Musikhochschulen angekommen. Wie stark diese Themen im Lehralltag behandelt werden, ist von den verantwortlichen Personen abhängig, die nicht nur verschiedene Haltungen dazu haben, sondern sich auch unterschiedlich kompetent fühlen. Das Gleiche gilt auch für die Lehre in vielen anderen Fächern, wobei insbesondere bei den künstlerisch Lehrenden die Bedeutung des Themas größtenteils gering ist, da diese ein in der Regel klar definiertes Selbstverständnis ihrer Lehre haben, das im Berufungsverfahren auch durch die personelle Auswahl angelegt worden ist. Aus Leitungssicht stellt dies kein grundsätzliches Problem dar, zumal die Verantwortung für Lehrinhalte durch die Wissenschaftsfreiheit geschützt wird.
Es stellt sich folglich die Frage, welche Relevanz die Vorbereitung von Studierenden auf spätere Herausforderungen in der Berufspraxis jeweils besitzt. Hier konkurrieren Themen als gesellschaftliche Herausforderungen miteinander: Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit, kulturelle Diversität oder der Umgang mit Menschen aus verschiedenen sozialen Milieus. Themen des Managements, wie beispielsweise Vertragsrecht, Künstlersozialkasse, Medien- oder Urheberrechtsfragen, hingegen stehen für die zunehmende Sorge um gute und gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen für Kunstschaffende. Musikergesundheit, Selbstfürsorge oder Burn-out-Prophylaxe wollen den zunehmenden Belastungsstörungen entgegenwirken. Es wird schnell deutlich, dass eine Erweiterung der Studienfächer schnell an die Grenzen des Studiums an einer Kunsthochschule stoßen wird. Es führt auch an personelle Grenzen in der Lehre, denn kleine Einrichtungen können nicht alle diese Themen hauptamtlich besetzen. Darüber hinaus führt die vergleichsweise geringe Personalfluktuation dazu, dass die bei Neubesetzungen mögliche und nicht unübliche Erweiterung von Denominationen an aktuelle Themen nur träge vonstattengehen kann.
Daraus lassen sich nun interessanterweise recht gegensätzliche Schlüsse ziehen:
a) Ein universitäres Studium dient der Bildung, nicht der Ausbildung. Insbesondere künstlerisch Studierende sollen eigenständige Künstlerpersönlichkeiten werden, darüber hinaus auch kritikfähige und ausdrucksstarke Mitglieder der Gesellschaft.
Das ist ein starker Standpunkt – und er erscheint deshalb sympathisch. Allerdings wird die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Hochschulen hier nur unspezifisch beantwortet.
b) Die Hochschulen haben die Pflicht, ihre Studierenden möglichst passgenau auf die spätere Berufspraxis vorzubereiten. Das Studium muss dazu in die Lage versetzen, den Herausforderungen des jeweiligen Berufs zu begegnen und eine erfolgreiche Berufslaufbahn einzuschlagen.
Diese Sichtweise ist von Verantwortung für die Absolventinnen und Absolventen getragen. Allerdings scheint sie angesichts der sich stark diversifizierten Berufsbilder mittlerweile überholt zu sein.
c) Studieren ist ein eigenverantwortlicher Prozess, in dem Studierende innerhalb vorgegebener Rahmenbedingungen für ihr Lernen maßgeblich selbst zuständig sind. Die Hochschule begleitet diesen Prozess, regt zur Neugier an, beantwortet Fragen, ist ein Wegweiser. Als Ort des Austauschs und der Kommunikation bietet sie einen Blick über den Tellerrand der Fächer und stärkt die Fähigkeit der Studierenden, lebenslang zu lernen.
Der Charme dieses Schlusses ist offensichtlich: Das fachspezifische Lernen wird über das Studium hinaus gedacht, dadurch wird nicht nur eine zeitliche Entzerrung ermöglicht, sondern die Qualität des Lernprozesses erhöht, da er an konkreten Fragen orientiert ist.
In Bezug auf unser Thema, nämlich Inklusion als Studienfach, bedeutet dies, dass ein Bewusstsein für Inklusion im Studium angelegt werden muss. Es geht dann um eine Erhöhung der Sensibilität, nicht nur in Themen der Inklusion, sondern allgemein um den Umgang mit Diversität. Ein Risiko begegnet uns dabei aber immer wieder: Große Zusammenhänge sind gut, aber Themen können darin auch verschwinden. Wenn beispielsweise Diversität als Querschnittsthema Fragen von Inklusion, Gleichstellung und Migration abbilden soll, gehen leicht Zuständigkeiten verloren. Doch trotz dieser Bedenken, denen Aufmerksamkeit entgegengebracht werden muss, ist zu erwarten, dass die Ausbildung einer persönlichen Haltung einen größeren und nachhaltigeren Studienerfolg darstellt, als es Schulungen im weiteren Sinne können.
3. Inklusion als gesellschaftlich relevantes Thema
Dies betrifft nun auch den dritten Aspekt, nämlich das Wissen um Inklusion – oder, gleich weiter gefasst, der Diversität – als gesellschaftlich relevantes Thema. Ein künstlerisches Hochschulstudium dient der Herausbildung einer eigenständigen künstlerischen Persönlichkeit. Diese losgelöst zu betrachten von einer grundsätzlichen Persönlichkeitsbildung im Sinne einer guten allgemeinen Bildung, der Fähigkeit zur eigenständigen Urteilsfähigkeit und dem Bewusstsein von gesellschaftlicher Verantwortung, auch und gerade der Künste, fällt schwer. Hier lässt sich ebenfalls ein Auftrag für alle Bildungsinstitutionen, mithin auch den Kunst- und Musikhochschulen, festmachen.
Eine kurze Zusammenfassung am Schluss
An den Kunst- und Musikhochschulen in NRW ist die Aufnahme eines Studiums auch für Menschen mit Beeinträchtigung möglich. Das entscheidende Kriterium ist die Feststellung der künstlerischen Eignung in der entsprechenden Prüfung. Nachteilsausgleiche werden gewährt und können aufgrund der besonderen Bedingungen an kleinen Hochschulen sehr individuell vereinbart werden.
In Bezug auf die Rahmenbedingungen – insbesondere, was die Barrierefreiheit betrifft – sind den Hochschulen enge Grenzen gesetzt. Auch eine spezifische hauptamtliche Stärkung der Inklusionsthematik auf allen Ebenen ist durch die geringe institutionelle Größe deutlich eingeschränkt.
Die Kunst- und Musikhochschulen sind sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst, die sie aus ihrem Auftrag, sich der Pflege und Weiterentwicklung der Künste zu widmen, ableiten. Dazu gehört die Suche nach neuen Ausdrucksformen und künstlerischer Entwicklung ebenso, wie auch die Bewahrung einer künstlerischen Praxis und des kulturellen Erbes. Die Kunst- und Musikhochschulen ermöglichen geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern die Aufnahme eines Studiums und begleiten diese Studierenden mit einem hohen Maß an Beratung und Unterstützung durch das Studium. Dabei verstehen sie unter Studieren mehr als nur eine fachliche (Aus-)Bildung, sondern sehen die gesamte Persönlichkeitsentwicklung als Ziel.
Es ist keine Frage, dass es noch viele offene Fragen und Aufgaben gibt und dass es zu einer gelungenen Inklusion – die dann gar keiner weiteren Erwähnung bedarf – noch ein weiter Weg sein wird. Die Kunst- und Musikhochschulen verschließen sich dem Thema nicht, müssen aber auf vielfältigen Ebenen in die Lage versetzt werden, Inklusion zu begleiten.
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