Ich bin Theaterkritikerin, also ein Gatekeeper. Tatsächlich habe ich mir über diese Funktion in Bezug auf Theater mit Menschen mit Behinderung bislang wenig Gedanken gemacht. Ich betrachte die Abende im Theater Thikwa und im Theater RambaZamba in Berlin, beides Theater, die mit Spielerinnen und Spielern mit Behinderung arbeiten, im Grunde mit demselben Blick, denselben Erwartungen, denselben Kriterien wie Produktionen im HAU – Hebbel am Ufer, an der Volksbühne und an der Schaubühne Berlin. Belüge ich mich darin gerade selbst?
Ist
nicht eine auf Sprache setzende Inszenierung von Thomas Ostermeier an der
Schaubühne mit Schauspielstar Lars Eidinger etwas anderes als ein wilder
Tanzabend auf der Kreuzberger Hinterhofbühne der
Thikwas? – Ich finde nicht.
Im Sommer 2018 zeichnete ich das Theater Thikwa mit dem Martin Linzer Theaterpreis aus, einer Ehrung unserer Zeitschrift, die herausragende künstlerische Leistung eines Theaters oder Ensembles im deutschsprachigen Raum würdigt. Kein einziges Mal erwähnte ich in meiner Laudatio damals das Wort Behinderung. Bewusst. Denn dieser Aspekt stand für mich nicht im Vordergrund.
Umso
überraschter war ich, als Nicole Hummel, die gemeinsam mit Gerd
Hartmann das künstlerische Leitungsteam des Theaters bildet, in ihrer
Dankesrede berichtete, was die erste Frage der Thikwas war, als sie hörten,
dass sie diese Auszeichnung erhielten. Sie fragten: Ist das ein richtiger Preis
oder ein Inklusionspreis? Erst da wurde mir bewusst, welch andere Bedeutung
diese Auszeichnung und die damit verbundene öffentliche Wahrnehmung für ein
Ensemble wie das der Thikwas hat.
Wahrscheinlich
sind wir von „Theater der Zeit“ bzw. der Presse eben doch
Gatekeeper. Wenn ich mir die Anzahl der bei uns erschienenen Artikel über Thikwa
oder RambaZamba anschaue, fürchte ich, dass wir den Schlüssel, mit dem wir die
Tür zur Öffentlichkeit für diese Theater öffnen, seltener zücken als ich immer
dachte. Die nach der Wende neu gegründete Zeitschrift „Theater der Zeit“
existiert seit 1993, doch erst 2014 gab es den ersten Artikel über das Theater
Thikwa, drei weitere folgten. Das Theater RambaZamba war von 2006 bis 2018
ganze acht Mal im Heft vertreten. Wobei man anfügen muss, dass „Theater der
Zeit“ mit einem Verbreitungsgebiet in Deutschland, Österreich und der Schweiz
eine Vielzahl an Theatern im Fokus haben muss, allein in Deutschland sind es
140 Staats-, Stadttheater und Landesbühnen, freie Gruppen haben es dem
gegenüber leider immer schwer. Bezogen auf mein Theaterverständnis tatsächlich
ein wunder Punkt.
Ich habe mich in meiner Laudatio auf das Theater Thikwa damals unter anderem auf den Münchner Theatermacher Alexeij Sagerer bezogen, denn in seinem Theater, dem proT, sehe ich nicht nur eine große Nähe zu Thikwa, es hat auch mit seiner zentralen Philosophie meine Kriterien in Bezug auf Theater über die Jahre geprägt.
Sagerer nennt sein Theater unmittelbares Theater, ein Begriff, der bereits bei Peter Brook (vgl. 1983) in den 1960er Jahren auftauchte. Dieses Theater steht im Gegensatz zum Theater der Repräsentation. Es geht nicht darum, eine Rolle, eine Figur möglichst perfekt und in jeder Vorstellung unverändert wiederzugeben, vielmehr geht es um das Einmalige, das immer wieder neu entsteht. Repräsentation hieße, einem Idealtypus hinterherzujagen. Aber so, beschreibt es der Autor Ralph Hammerthaler in seiner Sagerer-Biogafie „liebe mich – wiederhole mich“, verlaufe ja auch das Leben nicht. Es gibt nicht das ideale Leben, sondern viele verschiedene, von denen jedes in eine andere Richtung verläuft. Insofern kennzeichnet das unmittelbare Theater nicht nur das Einmalige, sondern auch das Prinzip der Differenz.
Erziehung und Schule, Politik und Ideologie, Kultur und Religion, so Hammer-thaler weiter, würden indes nicht müde werden, dem Menschen Vorbilder vor Augen zu halten. „Im Blick auf das Vorbild jedoch verfehlt der Mensch sich selbst.“ (Hammerthaler 2016: 112)
Diese Theaterphilosophie, die so nah am Leben operiert, sehe ich in seltenen, kostbaren Momenten im Theater aufblitzen, am häufigsten tatsächlich im Theater Thikwa. In meiner Laudatio beschrieb ich dieses Aufblitzen so:
Das Theater Thikwa ist ein Theater des ungezähmten Spiels. Wo sich andernorts Handwerk, Technik, Theorie, Routinen in den Vordergrund drängen, trifft man hier auf ein Spiel, das anderen Regeln folgt. Wenn es überhaupt Regeln kennt oder folgt.
Sein Ensemble besteht aus lauter Charaktertypen, aus einer Gruppe von Künstlern höchster Eigenheit, die sich in den seltensten Fällen in eine klar umrissene Rolle pressen lassen. Sie repräsentieren nichts und schon gar nicht jemanden. Vielmehr stehen sie mit ihren je eigenen Energien auf der Bühne, als Spieler, Tänzer, Sänger, Musiker, Performer, Künstler in all ihrer unmittelbaren Präsenz. Sie bringen ihre Geschichten, ihre Körper, ihre Eigenheiten als Material mit, das sie im freien Spiel auf der Bühne gestalten.
So wird erreicht, was der Anarcho-Filmer Klaus Lemke als modernes Narrativ bezeichnet: ‚Das moderne Narrativ ist eines, das direkt ist, wo der Autor so wenig Macht über die Figuren hat, wie später auch der Zuschauer keine Macht darüber hat, was der Film mit einem anfängt.‘ Oder eben das Theater.
Ein solches Theater entsteht aus dem Moment heraus immer wieder neu. Weil es, um es in den Worten Sagerers zu formulieren, Heterogene zusammenhält, ohne dass sie aufhören, heterogen zu sein.
(Eilers 2018: 5)
Folge dieser Philosophie ist eine bestimmte Art des Produzierens, die gerade im Hinblick auf inklusives Theater bedeutsam ist. Das unmittelbare Theater fragt nicht: Was kann es bedeuten? Es fragt: Was kann ich mit welchen Mitteln herstellen? Wie kann es funktionieren?
Ein Beispiel dafür gab mir vor einiger Zeit die Berliner Theatermacherin Michaela Caspar: Sie hatte mit ihrer Gruppe Possible World, einem Ensemble aus gehörlosen und hörenden Darstellerinnen und Darstellern sowie Children of Deaf Adults am Ballhaus Ost in Berlin William Shakespeares „Sommernachts-traum“ inszeniert. Im Gespräch erzählte sie, wie gerade die Bedingungen dieser Konstellation Einfluss auf den künstlerischen Prozess nahmen. „Ich arbeite kontinuierlich an einer neuen Ästhetik“, sagt sie, „aber an einer, die sich aus etwas bedingt.“ In diesem Fall eben aus der Tatsache, dass einige Spielerinnen und Spieler hören können, andere nicht; dass teils Gebärdensprache verwendet wird, teils gesprochene Sprache. Die Gruppe erfand neue Mittel, weil es notwendig war. Eben: Was kann ich mit welchen Mitteln herstellen? Wie kann es funktionieren?
In meinem Porträt über Possible World, das in der Märzausgabe 2019 von „Theater der Zeit“ erschien, schrieb ich über diesen „Sommernachtstraum“:
Es wird kaum laut gesprochen an diesem Abend. Stattdessen arbeitet sich die Inszenierung mittels Gebärdensprache, zeitgenössischem Tanz, Bharata-natyam, einem indischen Tanzstil, sowie dem Visual Vernacular, einer pantomimeartigen Kunstform, die aus der amerikanischen Gebärdensprache entwickelt wurde, durch die Verstrickungen des Stücks. Wer ist hier wer? Und wer liebt wen? Wer keine Gebärdensprache versteht, bleibt ratlos wie die Figuren selbst. Ein heilloses Chaos, das sich in den Choreografien von Gal Naor, Matan Zamir und Rajyashree Ramesh vorrangig in Handlungen Bahn bricht: Körper, die zärtlich abgeschleppt oder brutal über den Boden geschleift werden, Haut, die sich unter dem Ziehen, Zerren und Schlagen der Liebenden und Enttäuschten rötet. Maximales Begehren, maximaler Hass. Küsse, die zu Bissen werden. Eine penthesileahafte Hitze durchzieht den Raum.
(Ebd. 2019)
Die Schauspielerin und Regisseurin Michaela Caspar arbeitet seit zehn Jahren an dieser sehr besonderen Art von Theater. Was 2009 als Schülerprojekt in Kooperation mit der Ernst-Adolf-Eschke-Schule für Gehörlose in Berlin begann, hat sich heute zu einer Bühnenästhetik entwickelt, die die Hegemonie einer einzigen, eben gesprochenen (oder geschriebenen) Sprache unterwandert. Sprachen gibt es so viele wie es Menschen gibt. Die Mittel, die Caspar und ihre Gruppe dabei erfinden, sind niemals Krücken. Übersetzer braucht es nicht, die verschiedenen Ausdrucksformen stehen vielmehr unvermittelt im Raum.
Werden Szenen doch einmal übersetzt,
schrieb ich in meinem Porträt,
beispielsweise gleichzeitig in Gebärden- und Lautsprache wiedergegeben, erscheinen Figuren gedoppelt auf der Bühne, was die Verwirrung verstärkt. Sprechen nichthörende Performer ein paar Zeilen, entsteht ein ungewöhnlich intonierter Singsang. Die Gebärden wiederum sind durch ihre Räumlichkeit absolut direkt und verfremdend zugleich.
(Ebd.)
Weswegen es spannend wäre, meinte Michaela Caspar, „Brechts episches Theater mit Gebärdensprache zu kombinieren“.
Ich hatte am Nachmittag, bevor ich den „Sommernachtstraum“ von Possible World sah, ein Projekt des Berliner Ensembles besucht, in das sicherlich viel Geld und künstlerisches Wissen geflossen war. Die Arbeit, die mich an diesem Tag jedoch am meisten fesselte, war die von Possible World. Selten wurde ich auf so vielen Wahrnehmungsebenen herausgefordert. Ich versuchte gleichzeitig, die Gebärdensprache zu entschlüsseln, die auf einem Videoscreen eingeblendeten Texte zu lesen, mich im Stück zu orientieren, die Bewegungen des indischen Bharatanatyams nachzuvollziehen, den Tänzerinnen und Tänzern zuzuschauen und bei Prügelszenen den Atem anzuhalten. Sowieso klebten meine Blicke an den Performerinnen und Performern, die in einer selten gesehenen Präsenz auf der Bühne agierten, teils ohne je eine klassische Schauspielausbildung genossen zu haben.
Das unmittelbare Theater, wie ich es auch in diesem „Sommernachtstraum“ erlebte, zeigt, dass etwas anderes möglich ist als ein politisch, sozial und kulturell genormtes Leben. „Für das proT“, heißt es in der Biografie bei Alexeij Sagerer (Hammerthaler 2016: 116), und man könnte es auf die genannten Theater übertragen, „gibt es keine Außenseiter, es gibt nur Menschen mit unterschiedlichen Kompositionen.“
Komposition ist ein künstlerischer Begriff. Kein moralischer, kein sozialer. Einen solchen Blick auf das Theater in der Öffentlichkeit zu stärken, hilft nicht nur, die vermeintlichen Unterschiede zwischen Theater und Theater mit Menschen mit Behinderung zu eliminieren. Es ist, wie die Arbeit dieser Theater selbst, ein politischer Akt.
Literatur
- Brook, Peter (1983): Der leere Raum. 11. Aufl. Berlin: Alexander.
- Eilers, Dorte Lena (2018): Laudatio zur Verleihung des Martin Linzer Theaterpreises 2018 an das Theater Thikwa. www.thikwa.de/pdf/Laudatio_Theater_Thikwa_MartinLinzerTheaterpreis_2018.pdf [Zugriff: 23.05.2019].
- Eilers, Dorte Lena (2019): Gebärden einer Sprache der Liebe. In: Theater der Zeit 03/2019. www.theaterderzeit.de/archiv/theater_der_zeit/2019/03/37214/komplett [Zugriff: 23.05.2019].
- Hammerthaler, Ralph (2016): Alexeij Sagerer: liebe mich – wiederhole mich. Theater der Zeit. Berlin.
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