„Mir ist klar geworden, dass eigentlich alle Türen geschlossen sind, wenn ich es nicht schaffe, den Seiteneingang zu nehmen […]“ (Brauns zitiert nach Koch 2017a: 260), äußert sich der Schriftsteller und Filmemacher Axel Brauns in einem Interview in Bezug auf Zulassungsvoraussetzungen an Hochschulen. Was für Kunstschaffende gilt, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Kategorisierung oftmals vor verschlossenen Türen stehen, trifft manchmal auf für Gatekeeper zu – hat doch jede Pförtnerin, jeder Pförtner nur einige wenige Eingänge, die ihr bzw. ihm zugeordnet sind, und gibt es doch wahrlich viele Türen auf unserem Planeten.
In unserem Fall sind vor allem jene inklusive Türen interessant, die Kunstschaffende mit ‚Behinderung‘ dem Ziel näherbringen, unter optimalen Bedingungen künstlerisch zu arbeiten, und die eine Rezeption fördern, bei der ihre professionelle künstlerische Arbeit ganz selbstverständlich auch als professionelle künstlerische Leistung gesehen und geschätzt wird – und nicht als soziales Projekt.
Aus der Betrachtung von Kunstgruppen und ihrer Rezeption heraus sehe ich ein etwas ausuferndes Bündel an Anknüpfungspunkten und Aufgaben für Gatekeeper gegeben, das über den Bereich der bildenden Kunst hinaus auf die darstellenden Künste und die Musik zu übertragen wäre. Als erstes Bündel ließen sich Kapazitäten und Wissen durch die Schaffung einer permanenten, zentralen Kompetenzstelle bzw. Plattform für Kultur und Inklusion zusammenführen. So könnten Informationen und Erfahrungen für Kunstschaffende, Assistenz, Gatekeeper sowie Interessierte aktuell bereitstellt werden, damit beim Verhandeln inklusiver Praktiken vor Ort nicht die einzelnen Beteiligten erneut und auf sich allein gestellt ‚alles‘ neu erfinden müssen. Nicht wenige Projekte scheitern bereits an lösbaren Informationslücken, die angesichts der verfügbaren Mangelware ‚Zeit‘ nicht gestopft werden können. Auf der anderen Seite würden jene Projekte entlastet, die als Erfolgsmodell gelten und wegen ihres Best-Practice-Images einen teils ermüdenden Anfragenansturm zu bewältigen haben. Es drängt sich seit Jahren penetrant der unveränderte Eindruck auf, dass es sinnvoll für alle Beteiligten wäre, stattdessen die Kräfte zu bündeln: Sie werden an anderer Stelle gebraucht.
Die skizzierte Plattform könnte weiterhin als Anlaufstelle dienen für Anfragen aus dem Kunstbetrieb und der Gesellschaft, aber auch als Kooperationspartner für Verbände und Institutionen, die für die Interessen anderer, unterrepräsentierter Gesellschaftsgruppen eintreten. Das Potenzial strategischer Allianzen ließe sich somit stärker nutzen. Inhaltlich bestückt werden könnte die Kompetenzstelle durch sogenannte Thinktanks, bestehend aus Kunstschaffenden, Assistenzen, Gatekeepern sowie Akteurinnen und Akteuren des Kunstbetriebs. Als Inhalte sind umfassende, themenspezifische Informationen ebenso denkbar wie häufig gestellte Fragen, Erfahrungsberichte, Best-Practice-Beispiele etc. Interaktionen könnten persönlich über Ansprechpartnerinnen und -partner erfolgen oder per Infopools, wie zum Beispiel eine Website, einen Blog, Chat-Room, Publikationen usw.
Wir kommen nun zum zweiten Bündel. Um die Interaktionen mit dem ‚anerkannten‘ Kunstgeschehen zu intensivieren, sollten Kunstschaffende explizit mit einem Kunstanspruch nach außen treten. Stärker als bisher könnte versucht werden, Kuratierende, Kunstvermittelnde und weitere Akteurinnen und Akteure aus dem ‚etablierten‘ Kunstgeschehen für inklusive Projekte, Thinktanks und Netzwerke zu gewinnen. Dies gilt auch für Projekte mit Museen. Mentorinnen und Mentoren im Kunst- und Kulturbetrieb sind wichtig für den Erfolg von Kunstschaffenden (vgl. Peter Radtke zitiert nach Koch 2017b: 243). Es wäre denkbar, ein entsprechendes Mentorenprogramm für Kunstschaffende mit Assistenzbedarf ins Leben zu rufen. Weitere Anstrengungen sind notwendig, die Vertriebswege für Kunstschaffende zu verbessern, um zum Beispiel auch eine Präsenz auf Messen zu erreichen.
Im Bereich der Kunstvermittlung könnten Fortbildungen zum Thema Kultur und Inklusion angeboten werden. Weiterhin wäre die Bildung von Expertenforen wünschenswert, die sich zusammensetzen aus Kunstvermittelnden und Menschen, die von marginalisierenden Kategorisierungen betroffen sind, um ‚Behinderungen‘ in Institutionen aufzudecken und um inklusive Projekte zu entwickeln.
Das dritte Bündel behandelt die Aufgabe, inklusive Impulse für Ausbildungsstätten und Wissenschaft zu setzen. Wie das Programm „art+“ von EUCREA pilotartig erste temporäre, inklusive Projekte innerhalb regulärer Ausbildungsstätten und Hochschulen initiierte, so wären zukünftig bundesweit inklusive Optionen zu entwickeln. Ebenso ist es von Bedeutung, an Hochschulen wie Ausbildungsstätten eine übergreifende Diskussion über die jeweiligen Aufnahmeregelungen anzuregen und für individuelle Arbeitsbedingungen zu sensibilisieren (vgl. Zimmermann 2017: 164f.). Hierzu könnten Thinktanks beitragen, in die Kunstschaffende integriert sind, die als ‚behindert‘ gelten. Künstlerische und pädagogische Studiengänge bzw. Ausbildungen ließen sich, wie Irmgard Merkt es vorschlägt, durch inklusive Studieninhalte erweitern, sodass inklusive Praktiken nicht erst mühevoll im Arbeitsleben entwickelt werden müssen und Hemmschwellen möglichst früh abgebaut werden (vgl. Merkt 2017: 183f.). Innerhalb der Wissenschaft könnten vermehrt die Förderungen von Publikationen und Abschlussarbeiten zum Thema angeregt werden. Die Erwartung liegt nahe, dass eine internationale Sichtweise hierbei thematisch weitere Impulse bietet. Zudem ist das Potenzial groß, mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzuladen, an Ausstellungsprojekten etc. mitzuwirken.
Das vierte Bündel thematisiert die Generierung von Förderungen in Politik und Kulturpolitik. Die Teilhabeberichte zur Umsetzung der Rechte von Menschen mit ‚Behinderung‘ könnten in Kombination mit einer begleitenden Forschung und Lobbyarbeit stärker genutzt werden, um gesellschaftliche Verpflichtungen zu forcieren (vgl. ebd.: 179–181). Generell erscheint der Aspekt zentral, für eine Kulturpolitik der personellen wie künstlerischen Vielfalt zu werben. Dieser theoretische Orientierungspunkt könnte gemäß dem englischen Vorbild des „Creative Case for Diversity“ mit praktischem Leben gefüllt werden (EUCREA 2018: 8, 13). Im aktuellen Positionspapier verweist EUCREA auf diese Idee, die einen langfristigen Strukturwandel zum Ziel hat. Dabei sollen auf kulturpolitischem Wege finanzielle Anreize für Institutionen gesetzt werden, die inklusiv handeln. Wünschenswert wäre es, Förderungen, Preise etc. auch für Kunstschaffende mit Assistenzbedarf anschlussfähig zu machen. Das Erwirken von Fördergeldern stellt sich als zentrale Dauerbrenner-Aufgabe, sei es für die Förderung einzelner Kunstschaffender, die inklusive Schritte wagen wollen, sei es für eine Kompetenzstelle „Kultur und Inklusion“ oder …
Im fünften Bündel geht es um die Definitionen von ‚Behinderung und ‚Inklusion‘ sowie eine gesellschaftliche Breitenwirkung durch Sichtbarkeit. Es ist meines Erachtens wichtig, dass innerhalb der Gesellschaft die Definition von ‚Behinderung‘ stärker hinterfragt wird, und dass das gesellschaftliche Konzept von Inklusion nicht dort endet, wo die Teilhabe von Menschen mit ‚Behinderung‘ als einmalige und punktuelle Veranstaltung betrachtet wird. Man könnte es in Anklang an Axel Brauns folgendermaßen formulieren (vgl. Brauns zitiert nach Koch 2017: 263): „Die Hauptstadt von Inklusion ist Alltag. Nicht Feiertag.“
Um eine übergreifende gesellschaftliche Wirkung zu erzielen, wäre es meiner Meinung nach zielführend, die Sichtbarkeit von Kunstschaffenden mit ‚Behinderung‘ so gut es geht, weiter zu erhöhen. Inklusive Theaterstücke sollten nicht nur bei inklusiven Theaterfestivals zu sehen sein, die Werke bildender Kunstschaffender mit Assistenzbedarf auch im öffentlichen Raum etc. So werden auch Menschen erreicht, die inklusive Veranstaltungen aus verschiedenen Gründen eher meiden.
Nun kommen wir zum sechsten und letzten Bündel, die Medienkompetenz zu erhöhen. Der Kontakt zu und der Umgang mit Medien ist zeitaufwändig und enorm wichtig. Sie sind die Gatekeeper der Wahrnehmung innerhalb der Gesellschaft. Es könnte sich lohnen, Fortbildungen für Assistenz und Gatekeeper im Hinblick auf Öffentlichkeitsarbeit und den Umgang mit verschiedenen Medienkanälen anzubieten. Bei einigen Kunstgruppen stellten sich folgende Aspekte als hilfreich bei der Öffentlichkeitsarbeit heraus: eine stetige, vielseitige und zielgruppenorientierte Kommunikation, persönliche, langjährige Kontakte sowie die dauerhafte öffentliche Präsenz, idealerweise an kulturell aktiven Orten (vgl. hierzu auch Weinhold 2005: 227ff.). Hinzu kommen ein selbstbewusstes, authentisches und einheitliches Auftreten, besonders wenn mehrere Personen zeitgleich handeln. Eine bedeutende Rolle spielt ein Netzwerk an Unterstützenden und Kooperierenden, dessen Pflege eine wichtige Aufgabe ist.
Die Fülle an möglichen Arbeitsfeldern für Gatekeeper, die hier bei Weitem nicht ausgelotet sind, macht etwas nervös. Umso wichtiger ist es, dass sich Gatekeeper ab und zu gegenseitig einen Dietrich leihen – für Türen an Seiten-, Hinter- und Haupteingängen.
Literatur
- EUCREA Verband Kunst und Behinderung e. V. (2018): Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb in Deutschland: Künstler*innen mit Behinderung sichtbar machen. www.eucrea.de/images/downloads/positionspapier_EUCREA_Diverstitat.pdf [Zugriff: 27.04.2019].
- Koch, Jakob Johannes (2017a): Axel Brauns, Schriftsteller und Filmemacher. In: Ders. (Hrsg.): Inklusive Kulturpolitik. Menschen mit Behinderung in Kunst und Kultur. Kevelaer: Butzon und Becker, S. 252–266.
- Koch, Jakob Johannes (2017b): Peter Radtke, Schauspieler und Publizist. In: Ders. (Hrsg.): Inklusive Kulturpolitik. Menschen mit Behinderung in Kunst und Kultur. Kevelaer: Butzon und Becker, S. 239–251.
- Merkt, Irmgard (2017): Kostbarkeiten zu verzollen? Kulturelle Teilhabe und Inklusion. In: Koch, Jakob Johannes (Hrsg.): Inklusive Kulturpolitik. Menschen mit Behinderung in Kunst und Kultur. Kevelaer: Butzon und Becker, S. 177–195.
- Weinhold, Kathrein (2005): Selbstmanagement im Kunstbetrieb. Handbuch für Kunstschaffende. Bielefeld: transcript.
- Zimmermann, Olaf (2017): Nichts ist langweiliger als Normalität. Chancengleichheit für behinderte Künstler, denn normale Künstler gibt es sowieso nicht. In: Koch, Jakob Johannes (Hrsg.): Inklusive Kulturpolitik. Menschen mit Behinderung in Kunst und Kultur. Kevelaer: Butzon und Becker, S. 159–173.