Was können wir unternehmen, damit Menschen mit Behinderung adäquat in den Medien repräsentiert werden? An welcher Stelle sitzen die Entscheiderinnen und Entscheider, die sich für Inklusion und die Belange von Menschen mit Behinderung in Film und Fernsehen einsetzen können? In dem Workshop „Für und Gegen: Entscheidungsprozesse bei der Rollenbesetzung in Film- und Fernsehproduktionen“ während der Netzwerktagung Kultur und Inklusion 2017 sollten Antworten auf diese Fragen beispielhaft an der Produktion von Spielfilmen und Fernsehserien gefunden werden.
Was können wir unternehmen, damit Menschen mit Behinderung adäquat in den Medien repräsentiert werden? An welcher Stelle sitzen die Entscheiderinnen und Entscheider, die sich für Inklusion und die Belange von Menschen mit Behinderung in Film und Fernsehen einsetzen können? In dem Workshop „Für und Gegen: Entscheidungsprozesse bei der Rollenbesetzung in Film- und Fernsehproduktionen“ während der Netzwerktagung Kultur und Inklusion 2017 sollten Antworten auf diese Fragen beispielhaft an der Produktion von Spielfilmen und Fernsehserien gefunden werden. Im Workshop wurde insbesondere ausgelotet, wie die Chancen des Engagements von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung in Film und Fernsehen erhöht werden können.
Zum Einstieg ins Thema wurden die unterschiedlichen Argumente vorgestellt, die Film- und Fernsehschaffende überzeugen könnten, Rollen in ihren Produktionen mit Schauspielerinnen und Schauspielern zu besetzen. Daraus ließen sich auch Schlussfolgerungen ziehen, wie Behinderung in Filmen und Serien angemessen repräsentiert werden sollten. Schließlich wurden relevante Akteure der Film- und Fernsehwirtschaft definiert und Strategien entwickelt, diese sogenannten Gatekeeper für die Zusammenarbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung zu begeistern. Zum Abschluss stand die Frage nach der Relevanz der Präsenz von Menschen mit Behinderung zur Diskussion.
Warum sollten mehr Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung in Film und Fernsehen zu sehen sein?
Es gibt viele Antworten auf die Frage, warum Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung mehr Chancen für Engagements in Film- und Fernsehproduktionen erhalten sollten. Seit ihrer viel beachteten Studie zur Situation von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung im US-amerikanischen Fernsehen aus dem Jahr 2016 fordert beispielweise die Ruderman Family Foundation, Film- oder Fernsehcharaktere mit Behinderung vordringlich mit Schauspielerinnen oder Schauspielern mit Behinderung zu besetzen. Ja, sie klagt die gängige gegenteilige Praxis, Figuren mit Behinderung mit Schauspielerinnen oder Schauspielern ohne Behinderung zu besetzen, als offene Diskriminierung an.
Die Stiftung begründet ihre Haltung mit dem Hinweis darauf, Schauspielerinnen und Schauspieler ohne Behinderung würden regelmäßig für Rollen mit Behinderung besetzt, während Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung selten auch nur für die kleinsten Rollen vorsprechen dürften. Ein Star könne zwar die beste Wahl für die Besetzung einer Rolle sein, aber wenn Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung nie die Chance für ein Vorsprechen oder Casting bekämen, würden sie nie die Möglichkeit erhalten, den Erfolg eines Stars zu erreichen. Schauspielerinnen und Schauspieler ohne Behinderung, die Charaktere mit Behinderung spielen, würden für die Zuschauerinnen und Zuschauer immer unglaubwürdiger. Die Rezipierenden würden schließlich an den Kinokassen entscheiden, dass dies genauso inakzeptabel sei, wie Männer, die Frauenrollen spielen, oder ein weißer Schauspieler, der einen schwarzen Charakter spielt (Woodburn/Kopić 2016).
Die Argumente der Ruderman Family Foundation kann man sicherlich als Zuspitzung der Debatte sehen, doch sie sind eine notwendige Aufforderung zur Auseinandersetzung mit und innerhalb der Film- Fernsehindustrie. Denn 13 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind Menschen mit Behinderung, doch sie sind die in den Medien am wenigsten beachtete Minderheit. Es gibt keine eindeutigen globalen Zahlen für Deutschland, doch dürften sie mit denen der USA vergleichbar sein. Die Ruderman Family Foundation hat 2016 für die Präsenz der 55 Millionen Menschen mit Behinderung in den USA, das heißt 18,7 Prozent der Bevölkerung, die Medienpräsenz gesamt auf 0,9 bis 1,4 Prozent geschätzt!
Die Independent Television Commission hat gemeinsam mit dem Creative Industries Disability Network für die britische Medienwirtschaft eine Broschüre mit Ideen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Film- und Fernsehproduktionen herausgegeben. Daran angelehnt lassen sich vier konkrete Argumente für die Zusammenarbeit mit Schauspielerinnen oder Schauspielern mit Behinderung formulieren. Dabei geht es weniger darum, jede Rolle, die mit dem Charakter Behinderung im Drehbuch steht, auch mit Schauspielerinnen oder Schauspielern mit Behinderung zu besetzten. Vielmehr geht es um das Verständnis der Filmschaffenden, jede Rolle – auch die ohne eine Behinderung – grundsätzlich auch mit Schauspielerinnen oder Schauspielern mit oder ohne Behinderung besetzen zu können, und darin Argumente für neue Chancen und Möglichkeiten zu sehen.
Das moralische Argument: Menschen mit Behinderung wollen ihre Lebensbereiche und Erfahrungswelten genauso in ihrer großen Vielfalt auf der Leinwand oder dem Bildschirm wiederfinden und identitätsstiftende Rollenmodelle entdecken wie Menschen ohne Behinderung. In diesem Sinne ist die Frage nach der Befähigung die gleiche wie die nach dem Geschlecht, der Herkunft oder sexuellen Orientierung.
Das rechtliche Argument: Mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung aus dem Jahr 2006 haben Menschen mit Behinderung verbindlich das Recht auf allumfassende gesellschaftliche Teilhabe. Medienschaffende sind dabei konkret aufgefordert, ein Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderung zu schaffen und diese dabei adäquat zu repräsentieren.
Das unternehmerische Argument: Menschen mit Behinderung repräsentieren eine große Konsumentengruppe. Welcher Sender, welche Filmemacherin oder Filmemacher kann es sich vor dem Hintergrund des wachsenden Wettbewerbs zwischen digitalen, partizipativen einerseits und analogen, linearen Medien andererseits leisten, 13 Prozent der Bevölkerung oder über zehn Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer zu ignorieren? Zudem nutzen gerade diese zehn Millionen über alle Altersgruppen hinweg überdurchschnittlich das Medium Fernsehen (Bosse 2016).
Das künstlerische Argument: Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung bringen in eine Produktion unerwartete Perspektiven und für ihre Rolle unentdeckte Qualitäten ein. Sie schaffen einen ganz neuen Rahmen für die Geschichten, die erzählt werden. Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung wissen um das Leben mit Behinderung und können mit ihrem authentischen Blick den Schatz anderer Geschichten heben. Figuren mit – und vor allem auch solche ohne – Behinderung mit Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung zu besetzen bedeutet, die reale Perspektive eines Menschen mit Behinderung in der Fiktion sichtbar werden zu lassen.
Die Forderung, Behinderung als Bereicherung zu verstehen, mag zunächst paradox erscheinen. Doch das Projekt der Inklusion bedeutet nicht nur die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Vielmehr impliziert Inklusion die Beschäftigung aller Menschen mit dem Thema Behinderung. Inklusion fordert eine Reflexion darüber und Sensibilisierung dafür, wie sich Behinderung in unserer Gesellschaft auf Menschen mit Behinderung (in Bildung, Kultur, Arbeit, Alltag usw.) auswirkt. Gerade das Medium Film ermöglicht dem Publikum Kontakt zu Lebensbereichen, die sonst nur selten zugänglich sind. Dies betrifft in Deutschland wegen seiner „extensiven Struktur an separierenden Sondereinrichtungen“ ganz besonders den Kontakt mit Menschen mit Behinderung (Weber/Rebmann 2017: 22).
Filmemacherinnen und -macher sind aber eben auch Teil der
Gesellschaft, über die sie erzählen. Die Mitarbeit von Schauspielerinnen und
Schauspielern mit Behinderung intensiviert so auch die Wahrnehmung von Menschen
mit Behinderung in der Filmindustrie selbst und korrigiert sie zugleich, vor
allem, wenn Figuren, die zunächst ohne eine Behinderung im Drehbuch stehen, von
Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung dargestellt würden. Dies
begründet nicht nur die hohen Erwartungen an eine größere Präsenz inklusiver
Fragestellungen in den Medien, sondern genauso an die Auseinandersetzung der
Medienschaffenden mit dem Thema Behinderung.
Wie kann Behinderung in Spielfilmen und Fernsehserien adäquat dargestellt werden?
Jana Zöll, Schauspielerin und eine der Teilnehmenden des Workshops, hat die Frage prägnant beantwortet: „Der Film trägt als Massenmedium die Verantwortung, keinen Blödsinn – hier also keinen Blödsinn über Behinderung – zu erzählen!“ Einen Appell an die Verantwortung von Filmemacherinnen und -machern haben die Disability Studies folgendermaßen formuliert:
1. Filme mit dem Thema Behinderung sollten auf Freakshows verzichten und sich dem Thema Behinderung in einem semidokumentarischen Stil annähern, 2. Sie sollten ihr Potential als Spiegel für die Unmenschlichkeit der Gesellschaft gegenüber dem Schwachen zur Thematisierung sozialer Gerechtigkeit (stärker) nutzen. 3. Filme mit dem Thema Behinderung sollten die fälschliche Gleichsetzung von körperlicher mit geistiger Einschränkung/Behinderung diskutieren.
(Anders 2014: 77f.)
An den Formulierungen aus dem Aufruf der Disability Studies wird ein Dilemma erkennbar: Die Filmschaffenden sollen sowohl inhaltlich (z. B. „Unmenschlichkeit der Gesellschaft“) als auch formal (z. B. „semidokumentarischen Stil“) beeinflusst werden. Hier stoßen gesellschaftlicher Wille zur Inklusion und künstlerische Vision zur Darstellung und Dramatisierung von Behinderungen ggf. aufeinander. Denn eines darf man nicht vergessen: Auch wenn nahezu von allen Akteuren die Kluft zwischen der gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung von Behinderung und deren Präsenz und Darstellungsweise in den Medien beklagt wird, gibt es inspirierende Beispiele der Dramatisierung von Behinderung im Medium Film – auch mit Schauspielerinnen und Schauspielern ohne Behinderung.
An dieser Stelle seien nur zwei Beispiele, die im Workshop diskutiert worden sind, genannt: „Polizeiruf 110“ aus München mit Edgar Selge als Kommissar Jürgen Tauber, der eine Armprothese trägt, und die französische Produktion „De rouille et d’os“ (dt. Verleihtitel „Der Geschmack von Rost und Knochen“) mit Marion Cotillard als Stéphanie, die bei einem Unfall beide Unterschenkel verliert. Ohne hier im Einzelnen auf diese beiden Figuren eingehen zu können, wird in diesen Produktionen deutlich, dass die Qualität der Darstellung der Behinderung auf der Ebene der Charakterentwicklung und der Entwicklung der Geschichte von der Glaubhaftigkeit der Darstellung abhängt. Und der Charakter wird glaubhaft im Moment des Übersprungs von der Darstellung zum Erleben – durch den Darsteller für den Zuschauer – und nicht zwingend in der Darstellung einer Rolle mit Behinderung von einer Schauspielerin mit eben dieser Behinderung.
Diese Glaubhaftigkeit der Darstellung wird unterstützt, wenn die Behinderung kreativ genutzt, aber nicht trivialisiert wird – wenn die Figur-Entwicklung über die Behinderung hinausweist, ohne diese überwinden zu müssen. Die Fiktionalisierung von Behinderung erhält ihren Sinn jenseits von Helden- oder Opfergeschichten, wenn sie der zwischenmenschlichen Begegnung auch disparater Bevölkerungsgruppen dient – wenn die Dramatisierung einer Behinderung der Durchbrechung des Status quo – am Filmset und beim Publikum – und der Pluralisierung des gesellschaftlichen Bilds dient.
Im Workshop hat Nikolas Jürgens, Filmregisseur und -produzent, daraus folgend eine Vision formuliert: „Lasst das Kunstwerk von Diversität profitieren!“ Wenn Filmschaffende der Vielfalt der Gesellschaft erlauben, in den Produktionsprozess Einfluss zu nehmen, werden neue Geschichten neu erzählt und bereichern unser Leben.
Wie können mehr Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung ihre Talente und Erfahrungen in eine Filmlandschaft der Vielfalt einbringen?
Wie oben beschrieben, ist ein Weg für die Vielfalt im Produktionsprozess für Filmschaffende die Zusammenarbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung. Ihre Partizipation bahnt den Weg auf die Bildschirme und Kinoleinwände für die größte Minderheit unserer Gesellschaft, die am wenigsten in den Medien repräsentiert wird. Gute Beispiele, die während des Workshops diskutiert wurden, sind „Kommissarin Lucas: Löwenherz“, eine Produktion des ZDF aus diesem Jahr mit Jonas Sippel als jungen Mann mit Down-Syndrom, gegen den in einer komplexen Geschichte über Schuld und Schönheit wegen Mordes ermittelt wird, oder der urkainische Film „Plemya“ (dt. Verleihtitel „The Tribe“) aus dem Jahr 2014 über Gewalt und Liebe in einem Internat für gehörlose Jugendliche, gedreht ausschließlich mit gehörlosen Laiendarstellerinnen und -darstellern.
Es gibt wohl wenige Kunstformen, die wie das Filmschaffen so viele und so unterschiedliche Akteure am Produktionsprozess beteiligen. Um einen groben Überblick zu geben, hier eine nicht abschließende Liste der Beteiligten, die darauf Einfluss nehmen könnten, Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung für eine Produktion zu engagieren (bewusst in alphabetischer Reihenfolge, da nahezu jede der Personen fast jederzeit im Produktionsprozess auf die Besetzungsliste Einfluss nehmen könnte): Mitarbeitenden in Casting-Agenturen, Drehbuchautorinnen und -autoren, Fernsehredakteurinnen und -redakteure, Kamerafrauen und -männer, Mitarbeitende in Produktionsfirmen, Regisseurinnen und Regisseure, Mitarbeitende in Schauspielagenturen sowie schließlich die Schauspielerinnen und Schauspieler selbst. Außer den direkt Beteiligten selbst kommen noch deren Vorgesetzte und Koordinatoren, wie die Spielfilmkoordination aller Rundfunkanstalten der ARD oder die Vorstände der privaten Sender, hinzu.
Vergessen wir zudem nicht, dass auch im Kreativbereich ein jeder der Berufe in Deutschland in Verbänden organisiert ist. Es seien nur der Bundesverband Schauspiel (BFFS), der Verband der Agenturen für Film, Fernsehen und Theater (VdA) oder der Verband Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT) genannt. Auch die Politik kann auf die Fernsehproduktion oder das Filmschaffen Einfluss nehmen, vor allem über die Förderanstalten der Länder, aber auch zum Beispiel über die Kontrollgremien der öffentlich-rechtlichen Sender, die aus Vertreterinnen und Vertretern der Gesellschaft unter anderem von Mitgliedern der Parteien, Kirchen und Wohlfahrtsverbände besetzt sind. Dieser grobe Überblick zeigt, wie wichtig die Öffentlichkeitsarbeit von Plattformen wie „Sozialhelden“ für die Belange und Rechte von Menschen mit Behinderung im Allgemeinen oder wie es Rollenfang für Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung im Besonderen ist. Und nicht zuletzt ist es das Publikum selbst, das immer wieder entscheiden muss, welche Geschichten und welche Darstellerinnen und Darsteller es sehen will. Was dem Publikum gezeigt wird, was als besonders aus der unüberschaubaren Zahl der jährlichen Film- und Fernsehproduktionen für das Publikum herausgehoben wird, entscheiden wiederum die Programmgestalterinnen und -gestalter sowie die Jurys der vielen Filmfestivals und die Gremien der diversen Filmpreise.
Die große Zahl von Akteuren in der Film- und Fernsehlandschaft macht es notwendig, diese mit gezielten Strategien einzeln anzusprechen. So reicht es nicht aus, Sender davon zu überzeugen, mehr Filme oder Fernsehserien über Menschen mit Behinderung in Auftrag zu geben, wenn es keine Drehbuchautorinnen und -autoren gibt, die entsprechende Geschichten adäquat erzählen können. Auch wenn eine Regisseurin gern mit Schauspielerinnen oder Schauspielern mit Behinderung drehen möchte, kann es die Direktion einer Produktionsgesellschaft geben, die das vermeintliche Risiko scheut – weil vielleicht eine Schauspielerin mit Asperger-Syndrom die Produktion am Set verzögern könnte oder das Publikum die Besetzung einer Rolle, etwa die einer Grafikerin in einer Werbeagentur mit einer Schauspielerin im Rollstuhl nicht akzeptieren könnte.
Die BBC hat eine ganz dezidierte Antwort auf die Frage gefunden, wie ihr Programm von der Vielfalt der Gesellschaft mithilfe von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung profitieren kann. Bis zum Jahr 2020 sollen acht Prozent aller Stellen des Senders mit Menschen mit Behinderung besetzt sein: Acht Prozent der Führungspositionen, acht Prozent der Schauspielerinnen und Schauspieler vor der Kamera mit einem bestimmten Anteil in Haupt- wie Nebenrollen. Um diese Ziele zu erreichen, hat die BBC bereits im Jahr 2017 unter anderem ein Programm für die Ausbildung von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung aufgesetzt, dezidiert, um Rollen, die nicht für Menschen mit Behinderung geschrieben worden sind, mit Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung besetzen zu können.
Eine Quote für eine Präsenz von Menschen mit Behinderung, die ihrer Bedeutung in und für die Gesellschaft gerecht wird, ist also ein möglicher Weg. Auch in Deutschland könnte ein öffentlich-rechtlicher Sender die Verantwortung für das Projekt der Inklusion übernehmen und Formate zur Stärkung von Inklusion bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Produktionen und bei der Ausbildung entwickeln und implementieren. Um dies zu erreichen, wäre weiterhin große Überzeugungsarbeit zu leisten: bei politischen Entscheiderinnen und Entscheidern, den unterschiedlichen Gremien, Verbänden, Förderanstalten und nicht zuletzt bei den Sendern selbst.
Ein solches Leuchtturmprojekt würde aber die Ansprache und Motivation der Filmschaffenden selbst nicht ersetzen können. Ganz besonders wichtig ist es, die Partizipation von Menschen mit Behinderung bei der Produktion von Geschichten über Menschen mit Behinderung zu stärken. Dies kann von der Einzelförderung von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung bis zur Schaffung von Netzwerken für alle Filmschaffenden mit Behinderung reichen. Neben der Ausbildung von Menschen mit Behinderung zu Schauspielerinnen und Schauspielern sei hier beispielhaft die Befähigung von Menschen mit Behinderung zum Drehbuschschreiben erwähnt. Effektiv für das Projekt der Inklusion in den Medien können auch die Fort- und Ausbildung von Menschen mit Behinderung in der Redaktion und Produktion von Formaten und Beiträgen in den digitalen Medien sein. Ganz allgemein gilt es, Film- und Medienschaffende mit Behinderung zur eigenverantwortlichen Selbstinszenierung zu motivieren, zu befähigen und zu finanzieren.
Für Filmschaffende ohne Behinderung sollten Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung geschaffen werden. Dies kann sogar die wichtigste Maßnahme dafür sein, eine Brücke zwischen den in Deutschland oftmals separierten Welten (siehe oben) zu schlagen, und zu zeigen, welches Potenzial an Lebenserfahrungen, -perspektiven, an Talenten und Geschichten für Film und Fernsehen noch zu entdecken sind. Diese Begegnungen können sowohl in berufsspezifischen Formaten – wie inklusiven Workshops für Drehbuchentwicklung – geschaffen werden als auch bei gemeinsamen Freizeitaktivitäten – etwa beim Golfspiel, das man nicht nur zum Fundraising nutzen kann, sondern auch zur Erweiterung des Erfahrungshorizonts für Geldgeber, Kreative und Menschen mit Behinderung gleichermaßen – Minigolf geht natürlich auch …
Wichtig ist ebenfalls, für die Präsenz und Darstellung von Menschen mit Behinderung in den Medien belastbare Zahlen vorlegen zu können. Wir wissen, wie überzeugend Zahlen gerade für die politische Lobbyarbeit sein können. Hier wäre eine quantitativ empirische Forschung genauso wünschenswert wie sie bereits für die Mediennutzung von Menschen mit Behinderung und den barrierefreien Zugang zu Medien vorliegt (vgl. auch hier die Arbeiten von Bosse 2016). Zudem gibt es für den deutschsprachigen Raum keine Untersuchung über den Ausbildungsstand und die Ausbildungsmöglichkeiten für Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung oder gar zu ihren Berufserfahrungen und -chancen. In der qualitativ empirischen Forschung liegen in Deutschland erste Arbeiten vor. Neben der Forschungsarbeit von Petra-Andelka Anders (vgl. auch S. 61ff. in diesem Band) zu Spielfilmen gibt es eine Anzahl von Publikationen zu bestimmten Genres, wie die von Patrick Weber über Daily Soaps. An der Universität Siegen befassen sich seit dem Wintersemester 2017/2018 in dem dreisemestrigen Forschungspraxisseminar „Partizipative Forschung: Menschen mit Behinderung in Film und Fernsehen“ von Juliane Gerland (vgl. auch S. 97ff. in diesem Band) Masterstudierende verschiedener Studienrichtungen unter anderem mit Fragen nach der Infantilisierung der Sexualität von Menschen mit Behinderung oder der Dramatisierung von Behinderungen durch Filmmusik. Wünschenswert wären in der Folge Überblicksstudien wie die der Ruderman Foundation oder die der University of Southern California. (Letztere fordert übrigens eine Quote für die Präsenz und Mitarbeit von Menschen mit Behinderung in Film und Fernsehen wie sie die BBC plant.)
Wieso ist Behinderung bedeutsam – für alle?
Das Motto der UN zum „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung“ in 2017 lautete: „Transformation Towards Sustainable and Resilient Society for All“. Es scheint mir wichtig hervorzuheben, dass hier ein Appell für eine nachhaltig durchlässige Gesellschaft formuliert wird, der soziale Gerechtigkeit im Allgemeinen mit Behinderungen in Besonderem in Zusammenhang setzt. In der Reihe „Philosophie“ des französisch-deutschen Senders ARTE (vgl. ARD 2017) arbeitet der Psychosoziologe Jean-Baptiste Hibon in der Folge „Behinderung – Bereicherung für alle?“[1] heraus, wie uns gerade der Umgang mit Behinderung Aufschluss darüber gibt, wie es um unsere eigene Menschlichkeit bestellt ist: „Das Thema Behinderung bringt uns ständig in den Bereich des Gefühlsgeladenen und Emotionalen: Unglück, Mitleid, Vorurteil und Irritation fallen in eins. Begegnen wir einer Person mit Behinderung, wird ihr sogleich eine Sonderstellung eingeräumt, mit dem Ergebnis, dass die Person isoliert ist. Entweder, weil die- oder derjenige auf die Behinderung reduziert wird oder aber, weil sie oder er wie alle anderen behandelt wird, was ebenfalls unangemessen ist, weil sie oder er nicht dieselben Möglichkeiten hat.“
Behinderung, so Hibon, sei ein Spiegel für uns alle, denn sie führe uns unsere Endlichkeit vor Augen – und das mache uns auch Angst. Oft wollten Menschen mit Behinderung selbst nicht, dass ihre Behinderung bemerkt wird. Dass zeige, dass wir uns alle nicht mit unserer Endlichkeit, unsere Defiziten auseinandersetzen wollten. In unserer Leistungsgesellschaft dürfe ein Mensch nur seine Stärken zeigen, aber seine Verletzlichkeit auszudrücken, bliebe schwierig.
Die Hauptaufgabe der Inklusion bestehe nun nicht darin, gegen Vorurteile zu kämpfen, sondern unsere Ängste in Zusammenhang mit Behinderung auszuräumen. Hibon zieht an dieser Stelle den Vergleich zwischen dem Umgang mit Behinderung und Rassismus. Der erste sei viel komplexer als der zweite, der auf einem Unterschied beruht, der nicht haltbar ist. Aber bei Behinderungen gehe es um Unterschiede, die bestünden. Also müsse man lernen, mit diesen Unterschieden umzugehen, ohne sie zu verleugnen. Dies sei der allgemeine, gesellschaftliche Nutzen, den Behinderung haben könne: das Leben zu bejahen, aber auch seine schweren Seiten anzuerkennen. Beides zusammen könne dazu führen, dass Behinderung zu einem wunderbaren Bestandteil des Lebens werde.
Vor diesem Hintergrund zwischen Behinderung – der eigenen oder der des anderen – und Angst um die eigene Verletzlichkeit entfaltete das Motto der UN zum „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung“ 2017 seine volle Wirkung. Wir setzen voraus, dass jemand trotz erschwerter Ausgangssituation Höchstleistungen erreichen müsse, um gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen. Aber man muss nicht mit einer Behinderung geboren sein, um über sich selbst hinauszuwachsen, und man muss kein Spitzensportler werden, nur weil man eine Behinderung hat – oder weil man Frau, LGBT, Flüchtling oder sozial benachteiligt ist.
Der Appell an eine nachhaltig durchlässige Gesellschaft für
alle will auch Medienpolitiker und -politikerinnen sowie Mitarbeitende von
Sendern oder Verbänden sowie alle Filmschaffenden dazu motivieren, mit Mut mehr
Diversität in allen Schattierungen und Farben auf unsere Bildschirme und die
Kinoleinwände zu bringen. Es ist aber auch ein Appell an uns, das Publikum, mit
Anerkennung und Selbstverständnis auf das Leben und die Erfahrung mit
Behinderung hinzuschauen. Dann profitieren nicht Minderheiten wie Menschen mit
Behinderung, sondern wir alle.
Literatur
- Anders, Petra-Andelka (2014): Behinderung und psychische Krankheit im zeitgenössischen deutschen Spielfilm. Eine vergleichende Filmanalyse. Würzburg: Königshausen und Neumann.
- ARD (2017): Philosophie. Behinderung – Bereicherung für alle? ARTE [www.programm.ard.de/TV/Programm/Sender/?sendung=28724383515743, letzter Zugriff: 06.04. 2018].
- Bosse, Ingo (2016): Teilhabe in einer digitalen Gesellschaft – Wie Medien Inklusionsprozesse befördern können [www.bpb.de/gesellschaft/medien/medienpolitik/172759/medien-und-inklusion, letzter Zugriff: 12.01.2018].
- Weber, Patrick/Rebmann, Desirée Kathrin (2017): Inklusive Unterhaltung? Die Darstellung von Menschen mit Behinderung in deutschen Daily Soaps. In: Medien und Kommunikationswissenschaft, 65, S. 12-27.
- Woodburn, Danny/Kopić, Kristina (2016): The Ruderman White Paper. On Employment of Actors with Disabilities in Television. Boston: Ruderman Family Foundation.
Weiterführende Literatur
- Black, Helen/Ramrayka, Liza (2003): Make a Difference! Ideas for Including Disabled People in Broadcasting and Film. London: Independent Television Commission/ Creative Industries Disability Network.
- Smith, Stacy L./Choueiti, Marc/Pieper, Katherine (2017): Inequality in 900 Popular Films: Gender, Race/Ethnicity, LGBT, and Disability from 2007‐2016. Los Angeles: USC Annenberg.
[1] Es folgen einige Passagen einer von mir erstellten Transkription aus der Sendung.