Im folgenden Beitrag sind mit Kulturinstitutionen sowohl private als auch freie gemeinnützige und öffentliche Einrichtungen sämtlicher künstlerischer Sparten gemeint. Erwünscht ist hier jeweils eine zunehmende Öffnung für Menschen mit Behinderung.
So sollen beispielsweise Strukturen gefördert werden, die eine (teilweise) Erbringung der Arbeitsleistung entsprechend interessierter und qualifizierter Leistungsnehmerinnen und -nehmer nach §§ 33–43 SGB IX, entweder durch Kooperationsmodelle mit Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) oder durch werkstattunabhängige Arbeitsplätze in Kulturinstitutionen ermöglichen.
Gegenwärtig gibt es bereits vereinzelte Beispiele, in denen eine solche (Teil-)Berufstätigkeit im Kulturbereich umgesetzt ist. Diese Modelle sind durch folgende Zugangsweisen der Leistungsberechtigten in die Kulturszene gekennzeichnet:
- individuell organisierte Alternative zum Werkstattarbeitsplatz (persönliche Kontakte, Praktika, etc.)
- Lösungen im Berufsbildungsbereich (Ausbildung, Praktika)
- Patensysteme
- Assistenzen (z. B. Job-Coaching, Training on the Job)
- nicht-künstlerische Berufstätigkeit in kulturaffinen Tätigkeitsfeldern
Dennoch ist für die meisten Leistungsberechtigten eine künstlerisch-kulturelle Berufswahl trotz entsprechend vorhandener persönlicher Neigungen derzeit nicht realistisch. Eine Ursache liegt möglicherweise in den immer noch stark exkludierenden Strukturen des etablierten Kulturbereichs sowie in einem unzureichenden Austausch mit den „besondernden“ Unterstützungsstrukturen für Leistungsberechtige. Bei genauerer Betrachtung werden die folgenden Kategorien von Barrieren dieses Austauschs bzw. einer entsprechenden Öffnung des Kulturbetriebs deutlich:
Qualität | Verortung | Beispiel | Handlungsansatz |
Strukturelle Barrieren | Hilfestrukturen | organisatorische Gründe im Wohnheim verhindern die Anwesenheit bei abendlichen Veranstaltungen | flexiblere organisatorische Lösungen |
Kulturbetrieb | bauliche Strukturen verhindern barrierefreien Zugang | barrierefreie Kulturinstitutionen, entsprechende Sensibilität bei der Angebotsplanung | |
Finanzielle Barrieren | Kulturbetrieb | fehlende Mittel für individualisierte Arbeitsweisen (mehr Zeit zur Einstudierung …) | flexiblere Möglichkeiten zur Mittelnutzung |
Selbstverständnis und Qualitätsanspruch | Kulturbetrieb | bildungsbürgerlicher Tradition verpflichtete Kulturinstitutionen | Entwicklung neuer Formen statt Inklusionsreform traditioneller Formen |
inklusive Kulturprojekte | Projekte auf niedrigem künstlerischen Niveau | ||
Individuelle Barrieren („in den Köpfen“) | Kulturbetrieb | zögerliche Öffnung für Menschen mit Behinderung, sowohl als Adressatinnen und Adressaten als auch als Akteure | positive Entwicklung durch häufiger werdende positive Erfahrungen |
Die als deutlich empfundene Massivität der letzten der in der Tabelle aufgeführten Kategorien (individuelle Barrieren) setzt sich zusammen aus den bisher nur spärlich vorhandenen Strukturen des Kontextes künstlerische Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung, unzureichenden Ausbildungsstrukturen (sowohl für die Menschen mit Behinderung als auch im institutionellen Kulturbetrieb), strukturelle Barrieren in den WfbM, einer häufig als unklar empfundenen künstlerischen Qualität und einer systembedingten Reformträgheit seitens der Institutionen.
Die Ursachen für die dem institutionellen Kulturbetrieb zuzuordnenden Barriere-Strukturen ist möglicherweise eine entsprechende Unsicherheit bezüglich der Akzeptanz beim Endnutzer oder der Endnutzerin des kulturellen Angebots. Durch die daraus resultierende verhaltene Entschlossenheit zur Produktion inklusiver Projekte bekommt wiederum das Publikum zu wenig Gelegenheit, sich mit dem Thema „mixed-abled Kunst und Kultur“ auseinanderzusetzen. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Entwicklung inklusiver Produktionen in den Sparten unterschiedlich schnell und unterschiedlich umfassend vollzieht, so sind an Galerien verkaufte Bilder oder Objekte von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung längst nicht mehr so selten anzutreffen wie beispielsweise Darstellende mit geistiger Behinderung in klassischen Theater- oder Opernproduktionen.
Eine entscheidende Frage für die inklusive Entwicklung des Kulturbetriebs bzw. für eine entsprechende Öffnung der einzelnen Kulturinstitutionen ist, schon aus wirtschaftlichen Gründen, die nach der Akzeptanz des Publikums. Zu dieser Frage liegen keine empirisch gesicherten Erkenntnisse vor. Wahrgenommen wird eine durch den etablierten, institutionalisierten Kulturbetrieb zugeschriebene Akzeptanzproblematik bei einem bildungsbürgerlich sozialisierten Kulturpublikum. Nicht klar ist, ob es sich hier um eine Sorge hinsichtlich eines zu pflegenden Stammpublikums handelt oder um eine befürchtete Beschränkung künstlerischer Freiheit, beispielsweise durch Quotenregelungen. Darüber hinaus stellen sich soziologische und psychologische Fragen nach Unsicherheiten, Befangenheiten und Ängsten – sowohl im institutionalisierten Kulturbetrieb selbst als auch bei den Adressatinnen und Adressaten.
Die Erfahrungen zeigen in unterschiedlichen künstlerischen Sparten und in unterschiedlichen Produktions- und Arbeitsformen regelmäßig folgende Indikatoren für eine ge- bzw.- misslingende inklusive Entwicklung des Kulturbetriebs:
positiv
- Lösungen, die allen zugutekommen und nicht nur speziellen Zielgruppen; führt zu positiver Resonanz bei den Institutionen
- Qualitativ hochwertige Gastspiele inklusiver Produktionen an großen Häusern
- Ensemble-Kooperationen in der freien Szene
- hohe Qualität inklusiver Kultur-festivals
- Publikum wird als neugieriger und offener erlebt
- Häuser werden barriereärmer (baulich/technisch)
- UN-Konvention scheint die Struktu-ren zu flexibilisieren
- Zuwachs an gleichberechtigten Produktionen
- mehr Menschen mit Behinderung im Publikum
negativ
- ungleiche Bezahlung (Künstlerinnen und Künstler mit und ohne Behinderung)
- Entwicklungen sind nur durch zusätzli-ches Geld möglich, nicht aber durch flexiblere Nutzung der vorhandenen Mittel
- Alibi- Gastspiele, die vom Ausrichtenden nicht ernst genommen werden und nicht angemessen kommuniziert werden
- unterschiedliche Gewichtung,
- abhängig von der Kunstsparte
- quasi ausschließlich projekthafte Struktu-ren
- alibihafte Rollenbesetzung von Menschen mit Behinderung (Statisten o. ä.)
- Verbleib in nur scheinbar inklusiven An-geboten und Strukturen
Tab. 2: Indikatoren inklusiver Entwicklungen in kulturellen Institutionen
Strategien für zukünftige Entwicklungen
Strategisch wichtig für eine inklusivere Entwicklung des Kulturbetriebs ist es (wie im gesamtgesellschaftlichen Prozess auch), Menschen mit Behinderung öffentlich sichtbarer zu machen. Auch eine größer werdende Zahl von Menschen mit Behinderung als Kulturnutzende oder -konsumierende ist ein wichtiges Ziel. Professionelle Kulturschaffende müssen für die Potenziale und Beschaffenheiten inklusiver künstlerischer Produktionen sensibilisiert aus- bzw. weitergebildet werden, beispielsweise Regisseure, Autorinnen, Komponisten, Produzentinnen und andere Akteure weiterer Kunstsparten.
Die Umsetzung bereits vorhandener gesetzlicher Grundlagen (UN/Bund/Land) muss von Politik und Verwaltung eingefordert werden. Hilfreiche Zwischenziele könnten hier etwa die Anpassung von Stellenausschreibungen, Entwicklung inklusiver Konzepte oder die Benennung entsprechender Schwerpunktsetzung in öffentlichen Aufträgen bzw. Zuwendungsbescheiden als Leistungsziele sein. Zur Unterstützung müssen Multiplikatoren und Verbände angesprochen werden, die entsprechende Standards formulieren und Handlungsempfehlungen an ihre Mitgliedseinrichtungen weitergeben, durch Workshops o. ä. individuelle Aktionspläne für einzelne Häuser entwickeln oder im persönlichen Gespräch für einzelne Künstlerinnen und Künstler ausarbeiten. Es ist wichtig, die durchaus vorhandenen überzeugenden Einzelbeispiele weiterzuentwickeln und die Ergebnisse gut und öffentlichkeitswirksam zu kommunizieren. Um Pilotprojekte zu starten, ist es erforderlich, möglichst kreativ und flexibel mit den vorhandenen Budgets umzugehen, etwa über die Ausgleichsabgabe, die Integrationsämter oder die Bundesagentur für Arbeit. Entscheidender Faktor wird sein, ob es in der Folge gelingt, neue Formate zu entwickeln, die bei den Kulturinstitutionen die Motivation fördern, Inklusion umzusetzen.
Um Inklusion im Kontext Kunst und Kultur seriös und umfassend umzusetzen und eine hohe künstlerische Qualität zu entwickeln, bedarf es neuer und spezifischer künstlerischer Formate.
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