Der Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigung macht es deutlich: Menschen mit Behinderung besuchen in ihrer freien Zeit seltener künstlerische Veranstaltungen als Menschen ohne Behinderung.
Junge Erwachsene mit anerkannter Behinderung sind in ihrer Freizeit deutlich seltener künstlerisch aktiv als Gleichaltrige ohne eine anerkannte Behinderung; je höher der anerkannte Grad der Behinderung, desto seltener werden künstlerische Betätigungen ausgeübt (BMAS 2013: 217ff.).
Der Teilhabebericht verweist zudem auch auf ein Informationsdefizit: Es gibt keine Statistiken darüber, an welchen kulturellen Aktivitäten Menschen mit Behinderung teilnehmen wollen – und welche Barrieren dies verhindern (ebd.: 424). Ebenso ist nicht bekannt, wie viele Menschen mit Behinderung gern künstlerisch aktiv wären – und welche Barrieren dem entgegenstehen.
Die Erforschung von Gelingensbedingungen umfassender kultureller Teilhabe von Menschen mit Behinderung ist ein Themenfeld, dessen sich die Sozial-, Kultur- und Rehabilitationswissenschaften möglichst bald annehmen sollten, um den politischen und gesellschaftlichen Handlungsbedarf schärfer fokussieren und notwendige Änderungen im Sinne der Teilhabegerechtigkeit herbeiführen zu können.
Das Netzwerk Kultur und Inklusion leistet mit der hier vorgelegten Dokumentation mehr als nur Vorarbeit für weiterführende wissenschaftliche Fragestellungen: Die Dokumentation würdigt implizit ein z. T. jahrzehntelanges Engagement im Bereich Kultur und Menschen mit Behinderung. Sie trägt Aspekte zusammen, die sich gleichsam als Thema mit Variationen durch künstlerisch orientierte Arbeit mit und von Menschen mit Behinderung ziehen. Sie würdigt das Engagement von künstlerisch orientierten Menschen mit Beeinträchtigung, sie würdigt den Einsatz von Künstlerinnen und Künstlern des „normalen“ Kulturbetriebs, die inklusive Kultur gestalten, sie würdigt das Engagement von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an Hochschulen und Universitäten, das Engagement von Selbsthilfeorganisationen und Organisationen der Behindertenhilfe, vor allem aber auch das Engagement von Eltern, die unermüdlich die Begabungen und Interessen ihrer Kinder mit Behinderung ausloten, um neue Lebensentwürfe in einer inklusiv zu gestaltenden Gesellschaft Realität werden zu lassen. Die starke Bottom-up-Bewegung im kulturellen Feld wird top-down seit Langem durchaus über die verschiedenen Gesetze zu Rehabilitation und Gleichstellung von Menschen mit Behinderung unterstützt. Entscheidende und nicht hintergehbare Impulse kommen allerdings erst 2009 von der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK), die nicht nur der „künstlerischen“ Szene großen Aufschwung verschaffen. Die Einrichtung des Netzwerks Kultur und Inklusion ist ein Ausdruck dieses Aufschwungs.
Über die Netzwerkarbeit wird deutlich, auf wie vielen Ebenen sich Dinge bereits entwickelt haben – und welche Probleme „im Gehen“ entstanden sind. Die erste Netzwerktagung zum Thema „Arbeitsmarkt – Künstlerische Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung“ hat die Bandbreite der entstandenen Themen innerhalb des Kulturlebens aufgezeigt – ebenso aber auch deutlich gemacht, in welchen Handlungsfeldern noch wenig systematisch, geschweige denn bundesweit einheitlich agiert wird.
Themenfelder, die in Zukunft zu bearbeiten sind:
- Schaffung von anerkannten Ausbildungssituationen bzw. Ausbildungsberufen für Menschen mit Behinderung im künstlerischen Bereich. Künstlerische Ausbildungsberufe sind für Menschen mit Behinderung bislang nicht vorgesehen – dies legt zumindest die Website „Planet Beruf“ der Bundesagentur für Arbeit (o. J.) mit der Übersicht der Ausbildungsberufe für Menschen mit Behinderung § 66 BBiG/§ 42m HwO nahe.
- Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) bilden nur in wenigen Fällen für künstlerische Tätigkeit aus. WfbM sollten darin unterstützt werden, im Rahmen des Berufsbildungsbereichs künstlerische Tätigkeit zu ermöglichen und zu fördern, um in Zusammenarbeit mit den umliegenden Kulturinstitutionen das Kulturleben mit neuen Impulsen zu versorgen.
- Die Möglichkeit des Persönlichen Budgets in künstlerischer Berufstätigkeit wird nur in Einzelfällen für Ausbildung und/oder Berufstätigkeit genutzt; das Wissen um das jeweilige Procedere ist noch „Geheimwissen“. Die Nutzungsweisen und Bedingungen des Persönlichen Budgets im künstlerischen Arbeitsfeld müssen über eine Homepage bekannt gemacht und verbreitet werden.
- Kulturinstitutionen öffnen sich als Arbeitgeber nur in wenigen Fällen der Mitarbeit von Menschen mit Behinderung. Die Gelingensbedingungen sollten transparent gemacht werden.
- Große und zentrale Einrichtungen wie die Bundesagentur für Arbeit oder die Künstlersozialversicherung nehmen die besonderen Bedarfe von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung noch nicht oder nur ansatzweise wahr.
Das Bewusstsein für die Vielschichtigkeit der Gestaltung inklusiver Settings im künstlerischen Bereich kann nur wachsen, wenn über diese Vielschichtigkeit gesprochen und geschrieben wird, wenn auf möglichst vielen Kanälen über die Bedingungen des Gelingens und auch des Scheiterns gesprochen wird. Das Netzwerk macht mit der vorliegenden Dokumentation einen Anfang.
Literatur
- Bundeagentur für Arbeit (o. J.): planet-beruf.de. Übersicht der Ausbildungsberufe für Menschen mit Behinderung [www.planet-beruf.de/Uebersicht-der-Ausbi.13175.0.html, zuletzt abgerufen am: 08.05.2016].
- BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) (2013): Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigun-gen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung [www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/a125-13-Teilhabebericht.html, zuletzt abgerufen am: 08.05.2016].