Die Klassifizierung von Menschen mit Behinderung kann auch im Feld der Kunst- und Kulturschaffenden zur Falle werden, wenn sie vergleicht, was nicht zu vergleichen ist. Dennoch kann es nicht ohne „Zuordnungen“ gehen, wenn es um Fragen von Teilhabegerechtigkeit und Unterstützungsbedarf geht.
Kunst- und Kulturschaffende mit Behinderung als freiberufliche Akteure
Drei große Gruppen von Kunst- und Kulturschaffenden mit Behinderung können – bei aller Zurückhaltung – ausgemacht werden: Wir sehen zum einen Menschen mit einer „ausschließlich“ körperlichen Beeinträchtigung, deren kognitive Leistung keineswegs eingeschränkt ist. Diese Menschen haben einen besonderen Assistenz- und Unterstützungsbedarf in der Bewältigung ihres Alltags und in der Ausübung ihrer künstlerischen Tätigkeiten; sie möchten als freiberufliche Künstlerinnen oder Künstler agieren. Zum anderen sehen wir Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, die das Recht auf einen Arbeitsplatz in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) haben. Manche der künstlerisch orientierten Menschen mit Behinderung nehmen ihr Recht auf einen Werkstattarbeitsplatz wahr und arbeiten innerhalb einer Werkstatt an einem künstlerischen Arbeitsplatz. Beispiele sind das Atelier Blaumeier in Bremen oder barner 16 in Hamburg. Eine dritte Gruppe von Menschen hätte zwar das Recht auf einen Werkstattarbeitsplatz, möchte aber aus verschiedenen Gründen keinen Werkstattarbeitsplatz wahrnehmen, sondern entweder künstlerisch freiberuflich tätig sein oder in Teilzeit – oder Vollzeit – auf dem ersten Arbeitsmarkt in künstlerischen Tätigkeiten arbeiten können.
Für die erste Gruppe stehen Künstlerinnen und Künstler wie Annton Beate Schmidt, Gerda König, Christina Zayber oder Markus Georg Reintgen. Für die zweite Gruppe stehen die Mitglieder von barner 16, für die dritte Gruppe stehen ganz konkret diejenigen, die durch das Netzwerk Inclusion Life Art Network (ILAN) gefördert und unterstützt werden.
Strukturelle Problemfelder bei Selbstständigkeit
Die Erwerbssituation von selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern und Kulturschaffenden in Deutschland ist generell als schwierig einzustufen. Beispielsweise können der Statistik zufolge nur fünf Prozent aller freiberuflich tätigen Designerinnen und Designer von ihrer Arbeit tatsächlich leben. Prekäre Einkommensverhältnisse erschweren generell die Beteiligung am öffentlichen Kulturleben. Für Künstlerinnen und Künstler mit einer Behinderung potenzieren sich diese Herausforderungen.
Im Bereich der bildenden Künste beispielsweise sind auf zahlreichen Gebieten Arbeits- und Produktionsbedingungen nicht auf die Bedarfe von Kunstschaffenden mit Behinderung zugeschnitten (vgl. dazu den Beitrag von Annton Beate Schmidt in Kapitel 2.1.1). So sind Messen, Vernissagen und andere große Kulturveranstaltungen immer noch nicht inklusiv und barrierefrei. Auch gibt es sehr wenig barrierefreien Atelierraum. Die Fristen zum Erreichen der bei der Künstlersozialkasse vorgeschriebenen Mindestumsätze sind für Kunst- und Kulturschaffende mit Behinderung oft zu kurz: Hier müssen die Zeiträume angepasst werden.
Christina Zayber verweist auf Schwierigkeiten für Kulturschaffende mit einer Behinderung auch im Ausbildungsbereich. Probleme entstehen beispielsweise aufgrund uneinheitlicher Bedingungen in den verschiedenen Bundesländern und Kommunen. Muss jemand z. B. zur Ausbildung an einer Schauspielschule in eine andere Stadt oder ein anderes Bundesland umziehen, kann dies bedeuten, dass er oder sie dort nicht mehr auf die bisherigen Assistenzsysteme zugreifen kann. Assistenzsysteme, die in einem Bundesland bzw. einer Kommune vorhanden sind und gut funktionieren, müssen andernorts wieder neu geschaffen werden.
Künstlerische Berufstätigkeit jenseits der Werkstatt für behinderte Menschen
Als besonderer problematisch und arbeitsintensiv zeigt sich die Schaffung von geeigneten Strukturen für eine Tätigkeit im Kunst- und Kulturbereich für Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung außerhalb des Werkstattsystems. Das Netzwerk ILAN mit Mona Weniger setzt sich seit Jahren anwaltschaftlich für Künstlerinnen und Künstler mit intellektuellen Einschränkungen ein. ILAN möchte erreichen, dass Menschen mit „Werkstatt-Status“ nicht von vornherein in Tätigkeitsbereiche vermittelt werden, in denen ihre künstlerischen und kreativen Fähigkeiten unterschätzt werden.
Mona Weniger schlägt die Gründung eines „Instituts für inklusive Kunst“ vor: Das projektierte Institut sollte mit Expertinnen und Experten als festangestellten Mitarbeitenden ausgestattet werden und für Menschen mit Handicap Qualifizierung und Arbeitsplätze in der Kunst schaffen.
Ein Institut für inklusive Strukturen im Kunst- und Kulturbereich?
Dort angesiedelte Expertinnen und Experten hätten dem vorgesehenen Konzept entsprechend ein vertieftes Know-how in allen Finanzierungs- und Rechtsfragen, die Menschen mit einer Behinderung betreffen. Innerhalb der etablierten Strukturen des Kunst- und Kulturbetriebs dürfte es dagegen wenige geben, die das damit verbundene Wissen um Handlungsspielräume mitbringen. Als Beispiel wurde das trägerunabhängige Persönliche Budget nach § 17 Abs. 2–4, IX. Buch SGB genannt. Mit Bemessungen zwischen 900,00 und 1.400,00 Euro könnte ein solches Budget auch genutzt werden, um eine freiberufliche Existenz als Künstlerin oder Künstler aufzubauen bzw. zu führen, und mit einer solchen Absicherung die geschilderten Benachteiligungen von Kunstschaffenden mit einer Behinderung abfedern. Darüber hinaus könnte ein solches Institut die innerhalb der etablierten Strukturen nötigen Veränderungen stärker vorantreiben und Kooperationspartnern innerhalb des Systems Argumente und Unterstützung bieten.
Ein Institut für Lobbyarbeit und Beratung, mit einem Team von dort angesiedelten, festangestellten Spezialistinnen und Spezialisten, könnte die Bemühungen um gleichberechtigte Strukturen im Kunst- und Kulturbereich beschleunigen. Um allerdings alle Kunst- und Kulturschaffenden mit einer Behinderung vertreten zu können, müsste es sehr breit aufgestellt sein. Es müsste sowohl die Spezifik der einzelnen Kunstsparten als auch die sehr unterschiedlichen Formen von Behinderungen im Blick haben, für die der Arbeitsmarkt Kunst und Kultur bislang keine teilhabegerechten Strukturen vorhält.
ILAN-Netzwerk
Überlegungen zur Gründung eines Instituts für inklusive Strukturen im Kunst- und Kulturbereich
Pionierfelder
Entwicklung von individuellen Konzepten zur beruflichen Qualifizierung, z. B.:
- Schaffung inklusiver Strukturen an Hochschulen für bildende und darstellende Künste sowie auf dem freien Kunstmarkt und Entwicklung von Formen der Unterstützten Beschäftigung in Kunst- und Kulturberufen für Menschen mit einer intellektuellen Behinderung;
- Formulierung von Mindeststandards für künstlerische Ausbildungscurricula und die Erprobung dieser Grundvoraussetzungen in Modellen inklusiver Studiengänge;
- Schaffung von Aus- und Fortbildungen für Ausbilderinnen und Bildungsbegleiter, Entwicklung verbindlicher Mindeststandards und Anforderungsprofile;
- Aufbau eines Beratungsnetzwerks zur Begleitung der Ausbilderinnen und Ausbilder und deren Teams in Hochschulen und künstlerischen Ausbildungsstätten.
Entwicklung eines Berufsbildes „Kulturcoach“, der oder die für die Akquise von Betrieben, Organisationen, künstlerischen Einrichtungen etc. und für Praktika, Ausbildungsplätze und spätere Arbeitsplätze sorgt, z. B.:
- Ausbildungen wissenschaftlich begleiten und Gelingensfaktoren formulieren;
- bundesweit inklusive Beschäftigungsmöglichkeiten und -bedingungen im Kunst- und Kulturbereich schaffen und pflegen, z. B. barrierefreie Arbeitsplätze für angestellte Orchestermusikerinnen und -musiker ebenso wie bedarfsangepasste Arbeitsstipendien für freiberuflich tätige bildende Künstlerinnen und Künstler.
- wissenschaftliche Arbeiten zum trägerunabhängigen Persönlichen Budget: Zur Erhebung der finanziellen/rechtlichen Situation bundesweit sowie zur Untersuchung seiner Eignung bzw. Weiterentwicklung als ein inklusives Instrument in der Kunstwelt zur finanziellen und rechtlichen Situation und den Arbeitsbedingungen für freiberuflich tätige Kunst- und Kulturschaffende mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und bezogen auf alle Kunstsparten.
Parallel zur Institutsgründung bzw. nach Institutsgründung sollte der Aufbau spezifischer Agenturen gefördert werden. Aufgaben solcher Agenturen wären
- Beratung (Recht, Versicherung, Vertragsgestaltung usw.),
- Begleitung,
- Assistenz,
- Akquise,
- Marketing,
bei Engagements und nach den in der Kunstwelt üblichen Kriterien auf dem Kunstmarkt.
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