Unter dem Modell „Künstlerarbeitsplatz“ werden Projekte zusammengefasst, die als Teil oder in Kooperation mit einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) künstlerische Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung anbieten, die gemäß SGB IX einen Anspruch auf die entsprechenden Leistungen haben.
Unter den Projekten mit dieser Organisationsform agieren viele überwiegend im regionalen Raum und/oder im Sozialbereich. Darüber hinaus gibt es deutschlandweit einige wenige Gruppen, die überregional und auch im regulären Kulturbetrieb tätig sind (z. B. am Theater RambaZamba und am Thikwa in Berlin, in den Ateliers HPCA in München, KAT 18 in Köln und Die Schlumper, in dem Atelier der Villa oder in der Band Station 17 des Künstlerkollektivs barner 16 in Hamburg). Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Projekte überwiegend in den Metropolen Berlin, Hamburg und München angesiedelt sind und es insgesamt eher Ateliers für bildende Kunst, einige Theater, jedoch kaum Musik-Projekte gibt.
Hintergrund:
Besonders die überregional aktiven Projekte wurden – überwiegend Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre – zumeist aus einem künstlerischen Interesse und mit künstlerischen Zielsetzungen ins Leben gerufen. Die Initiative ging dabei also von den Kunstschaffenden selbst und nicht von Trägern der Behindertenhilfe aus. Rückblickend waren dieser künstlerische Fokus und die Kontakte der Akteure in die Kunst- und Kulturszene besonders hilfreich für die langfristige und erfolgreiche Arbeit der jeweiligen Gruppen. Gründungen von Trägern ohne diesen genuin künstlerischen Ansatz konnten selten außerhalb des Sozialbereichs Fuß fassen.
Zunächst arbeiteten die genannten Projekte meist als freie Gruppen; teilweise auf der Basis eines Vereins. Mit zunehmendem Erfolg war ab Mitte der 1990er/Anfang der 2000er Jahre die künstlerische Tätigkeit dann nicht mehr in der Freizeit zu organisieren. Auf der Suche nach Organisationsformen, mit denen die Kunstproduktion als Arbeitsplatz gestaltet werden kann, entstand in der Zusammenarbeit mit bzw. der Übernahme durch eine WfbM das sogenannte Modell Künstlerarbeitsplatz. Dabei unterscheiden sich die konkrete Ausgestaltung der Kooperation zwischen Kunstprojekten und WfbM bzw. die Verortungen von Kunstprojekten innerhalb einer WfbM und die damit verknüpften Rahmenbedingungen durchaus. Allen gemeinsam ist jedoch die Verpflichtung, sich an die Grundregeln der Werkstattarbeit zu halten, wie sie u. a. in der Werkstätten-Verordnung (WVO) geregelt sind. Diese umfassenden rechtlichen Grundlagen stellen auch im künstlerischen Feld wesentliche finanzielle und organisatorische Rahmenbedingungen des Arbeitsalltags. Hierzu zählt neben Regelungen bezüglich der Arbeitsabläufe oder der Personalschlüssel (Arbeitsbereich 1: 12) auch die Vorgabe, mit der Tätigkeit die Werkstatt-Entgelte zu erwirtschaften. Auch wenn es sich für die einzelne Person um sehr geringe Beträge handelt, stellt das Erwirtschaften dieser Entgelte in der Summe unter den speziellen Bedingungen des Kulturbetriebs durchaus eine Herausforderung für die Projekte dar, die massive Auswirkungen auf die künstlerische Arbeit hat.
Grundsätzlich ist die WVO auf Arbeitsfelder wie Handel, Handwerk, Industrie und Dienstleistung ausgelegt und hat daher deren Arbeitsstrukturen im Blick. So stehen die strukturellen Auswirkungen der WVO häufig im großen Widerspruch zu den Rahmenbedingungen künstlerischer Arbeit. Beispielsweise ist das gesamte System inklusive der Wohneinrichtungen auf eine „normale“ Arbeitswoche zu regelmäßigen Arbeitszeiten ausgerichtet und steht so im Kontrast zur künstlerischen Arbeit, die häufig abends oder am Wochenende geleistet werden muss.
Da die rechtlichen Grundlagen außerdem noch vor anderen paradigmatischen Hintergründen verfasst wurden (z. B. WVO 1980; letzte Änderung 2008) und das System WfbM bzw. generell das System Behindertenhilfe oftmals einer anderen Logik folgt, kommt es hier mitunter zu starken Reibungen zwischen Kunstprojekt und Rehabilitationssystem.
Dennoch sind die meisten Projekte, in denen Menschen mit Behinderung nach dem Anspruch auf Werkstattleistungen professionell künstlerisch tätig sind, immer noch im Werkstatt-System organisiert, da alternative Maßnahmeformen der beruflichen Rehabilitation als noch weniger geeignet beurteilt werden.
Vorteile
- Kunst kann als Beruf ausgeübt werden
- Möglichkeiten, künstlerische Projekte umzusetzen;
- keine Doppelbelastung (Werkstattarbeit und Kunstprojekt parallel)
- Absicherung der Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung („EU-Rente“)
- relative finanzielle und Planungssicherheit für Gruppen
- bestimmte institutionelle Sicherheiten (z. B. Versicherung)
- Förderung von Infrastruktur (z. B. Räume)
Nachteile
- Werkstatt vs. Kunst vs. Inklusion
- Kostensätze/Vergütung allein für professionelle und inklusive künstlerische Arbeit nicht ausreichend
- geringe Möglichkeiten für künstlerische Ausbildung
- Verhältnis zwischen Kostensatz und Aufgaben
- bestimmte Werkstatt-Regelungen
- durch die Strukturen bedingte Mindest-Gruppengröße
Tab. 1: Vor- und Nachteile des Modells Künstlerarbeitsplatz
Dennoch konnten die bestehenden Projekte auf der Basis dieser relativen Sicherheit ihre Tätigkeiten weiter ausbauen und Projektideen realisieren, die zur qualitativen Weiterentwicklung der Szene beigetragen haben.
Allerdings stellen sich zwischenzeitlich durch den Paradigmenwechsel Inklusion neue Fragen bezüglich der zukünftigen strukturellen und konzeptionellen Weiterentwicklung des Modells Künstlerarbeitsplatz, wie z. B.:
- Auswirkungen des Reha-Systems vs. konzeptionelle Überlegungen zu inklusiven Arbeitszusammenhängen. Wie können hier innerhalb des Systems Widersprüche aufgelöst bzw. verringert werden?
- Was bedeutet die perspektivisch anzunehmende Umgestaltung des Reha- bzw. Werkstatt-Systems insgesamt für die künstlerischen Tätigkeitsfelder ...
- ... bezüglich der Konzeption wie der konkreten Arbeitsgestaltung sowie alternativen Organisationsformen?
- ... bezüglich der konkreten Gestaltung einer größeren Individualisierung bzw. Flexibilisierung unter den spezifischen Bedingungen des Kulturbereichs (z. B. Sicherung von Assistenz bei künstlerischen Außenarbeitsplätzen)?
- ... allerdings auch bezüglich der Frage nach finanziellen Spielräumen für künstlerische „Prestige-Projekte“?
- Wie wird sich die Thematik „alternative Anbieter“ im Kontext des Bundesteilhabe-Gesetztes entwickeln und welche neuen Möglichkeiten ergeben sich hieraus evtl. für Kulturprojekte?
Hier lässt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen struktureller und inhaltlicher Entwicklung feststellen, die innovative Lösungen erschwert bzw. verhindert, obwohl diese aufgrund der vermehrten Offenheit im Kulturbetrieb eigentlich möglich wären.
Während diese Fragen insbesondere für Akteure relevant sind, die bereits im WfbM-System organisiert sind, stellt sich für interessierte Menschen mit Behinderung oder Akteure von Kunst-Projekten, die sich professionalisieren wollen, zunächst die Frage des Zugangs zu diesem System.
Da es aufgrund der sehr überschaubaren Anzahl künstlerischer Arbeitsbereiche bundesweit entsprechend wenige Arbeitsplätze gibt, ist es für den künstlerischen Nachwuchs sehr schwierig, einen solchen Werkstatt-Arbeitsplatz zu erhalten. Hinzu kommen teils massive Schwierigkeiten bezüglich der Kostenübernahme des Rehabilitationsträgers, wenn aufgrund des Arbeitsorts ein Umzug erforderlich wird.
Daher wäre es auf individueller Ebene wünschenswert, wenn die Anzahl der künstlerischen Arbeitsbereiche zunähme, damit mehr junge Menschen mit Behinderung einen ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden Beruf ergreifen können.
Auf der Institutionsebene lässt sich recht klar konstatieren: Unter Einhaltung der gesetzlichen Grundlagen können Werkstattanbieter künstlerische Arbeitsbereiche einrichten. Die rein rechtliche Übertragbarkeit der bestehenden Modelle auf neue Projekte wäre also gegeben. Hier greift jedoch ein wesentlicher Aspekt der Finanzierung, der neben dem nicht immer gegebenen Interesse einzelner Werkstätten an Kunst und Kultur hauptsächlich die Gründung neuer künstlerischer Arbeitsbereiche erschwert: Mit der Vergütung für einen WfbM-Platz lässt sich ein künstlerischer Arbeitsalltag mit Bezug zum regulären Kulturbetrieb – insbesondere im Bereich der darstellenden Kunst und der Musik – nicht organisieren.
Daher sind die bisher bestehenden Projekte zusätzlich auf die Akquise ergänzender Projektmittel und die erhebliche Quer-Subventionierung des Werkstattträgers oder einer institutionellen kommunalen Kulturförderung angewiesen. Es bedarf also einer zusätzlichen kontinuierlichen Förderung. Dies ist eine große Hürde für die Neugründung künstlerischer Arbeitsbereiche, da Kommunen und WfbM unter Umständen trotz Interesse nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügen.
Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass die Teilhabe am professionellen Kulturbetrieb nicht automatisch aufgrund eines Anspruchs auf Werkstattleistungen realisiert werden kann, sondern hierfür noch einige weitere strukturelle Bedingungen erfüllt sein müssen, die nicht in den individuellen künstlerischen Fähigkeiten bzw. dem künstlerischen Erfolg einer Gruppe begründet sind.
Da diese Problematik die derzeit möglichen alternativen Maßnahmenformen in gleichem Maße betrifft, stellt sich die Frage, wie künftig regulär zugängliche Organisationsmodelle gefunden werden könnten, mit denen die Teilhabe und Mitwirkung im professionellen Kulturbetrieb verlässlicher und weniger zufallsabhängig realisiert werden können.
Literatur
- Werkstättenverordnung (WVO) vom 13. August 1980 (Bundesgesetzblatt I .1365, ausgegeben zu Bonn am 13.8.1980).
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