„Inklusion“ ist zu einem Schlagwort unserer Zeit geworden. Sie steht dabei für ein ideales Gesellschaftsbild, ein „Für-alle“ und ein „Mit-allen“. Bewegen wir uns jedoch auf einer konkreten Umsetzungsebene, löst der Begriff mitunter Unverständnis und Überforderung aus. Dieses Spannungsfeld resultiert aus meiner Sicht aus einer definitorischen Unschärfe.
So ist nicht eindeutig, ob Inklusion einen Zustand (Verständnis unserer Gesellschaft als Einschluss aller), einen Prozess (wir haben alle das Recht, eingeschlossen zu werden oder uns selbst einzuschließen) oder eine Vision (wir streben den Einschluss aller an) meint. Diese drei Perspektiven haben unterschiedliche Folgen für eine tatsächliche Umsetzung und führen unweigerlich zu gesellschaftspolitischen Fragen. Sind wir wirklich „alle“ mit „allen“ gemeint? Wie werden knappe Ressourcen im Sinne „aller“ gerecht verteilt? Und wer entscheidet aus welchen Gründen über diese Verteilung?
Im Folgenden wird zunächst dafür argumentiert, den Begriff der „Inklusion“ in eine gesellschaftspolitische und eine handlungsorientierte Lesart zu untergliedern. In einem zweiten Schritt wird diese zweigeteilte Perspektive auf aktuelle Beispiele aus der deutschen Kulturlandschaft angewandt.
Der Begriff „Inklusion“ (lat. inclusio „Einschluss“) sowie der Gegenbegriff „Exklusion“ (lat. exclusio „Ausschluss“) finden sich im wissenschaftlichen Diskurs vorwiegend in pädagogischen und soziologischen Zusammenhängen wieder und beschreiben soziale Mechanismen des Einschließens und Ausschließens. Beispielhaft können hier die Gedanken des Systemtheoretikers Niklas Luhmann angeführt werden (vgl. Luhmann 1995). Diese recht neutrale Sicht auf unsere Gesellschaft und darauf, wie sie sich formiert, erkennt an, dass wir uns als Individuen in Strukturen bewegen, die eine gesellschaftserhaltende Funktion haben. Einschluss und Ausschluss geschehen daher manchmal absichtsvoll, manchmal unabsichtlich, manchmal bewusst, manchmal unbewusst, manchmal selbstbestimmt und manchmal unfreiwillig, manchmal bezogen auf Individuen und manchmal bezogen auf Gruppen.
Durch die Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, kurz: UN-BRK) erfuhr der Begriff der Inklusion in Deutschland ab 2009 eine größere Bekanntheit und wurde sowohl von den Spitzenverbänden der Menschen mit Behinderung als auch von politischer Seite aufgegriffen. Diese Entwicklung wurde insbesondere durch die sogenannte Schattenübersetzung des Netzwerk Artikel 3 beflügelt (vgl. 2021), die den aus der englischen Fassung stammenden Begriff „inclusion“ auch mit Inklusion übersetzte. Die erste „offizielle“ Übersetzung der UN-BRK hatte „inclusion“ ursprünglich mit „Integration“ übersetzt.[1]
In der UN-BRK selbst wird inclusion jedoch nicht definiert und in mehreren Aspekten wie im Recht auf den gleichberechtigten Zugang zu Bildung (Artikel 24) oder im Zugang zum Arbeitsmarkt (Artikel 27) begrifflich vorausgesetzt (vgl. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen 2015). In der Folge wurde der Begriff stark mit der Gruppe der Menschen mit Behinderungen verknüpft und interessenspolitisch genutzt. Diese Verknüpfung findet sich jedoch sowohl in internationalen Zusammenhängen als auch im nationalen wissenschaftlichen Diskurs vor der Ratifizierung des Übereinkommens kaum wieder (vgl. Wansing 2015: 43). Bedeutet Inklusion tatsächlich Einschluss aller, so darf er in meinen Augen nicht an eine Gruppe im Besonderen gebunden sein. Aus diesem Grund plädiere ich dafür, den Begriff von seiner vorwiegend behindertenpolitischen Ausdeutung zu lösen und ihn vielmehr – nach der Soziologin Gudrun Wansing (2015: 49) – als ein „universelles menschenrechtliches Prinzip des sozialen Zusammenlebens, das uneingeschränkt für die gesamte Bevölkerung und für alle Gesellschaftsbereiche Gültigkeit hat“ einzuordnen.
Wenn wir dieses Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen und ihrer Bedürfnisse nun auf den Gesellschaftsbereich der Kultur- und Bildungsarbeit anwenden, stellt sich auf der konkreten handlungsorientierten Ebene die Frage, wie wir dieses Leitmotiv ausgestalten, also operationalisieren können. Wie kann ein gleichberechtigter Zugang zu gemeinschaftlichen Kulturgütern bzw. zu kulturellen Angeboten ermöglicht werden? Diese Frage bewegt Theater, Bibliotheken, Museen … sehr, stehen diese doch oft in einem besonderen Verhältnis zur sie mitfinanzierenden Gesellschaft. Diese Gesellschaft hat vielfältige Mitglieder, deren Bedürfnisse sich stets verändern. Der Begriff der Inklusion korrespondiert mit weiteren gesellschaftspolitischen Begriffen und Ansätzen, so beispielsweise dem der „Diversität“, der „Partizipation“ oder des „Universellen Designs“. Exemplarisch möchte ich mich jedoch weiterhin auf den Begriff der Inklusion konzentrieren und begründen, warum er sich zwar als Ausdruck einer Haltung gegenüber einem (potenziellen) Publikum eignet, in der Kommunikation nach außen den gewünschten Effekt – den gleichberechtigten Einbezug aller – jedoch verfehlt. Folgende Formulierungen sind anonymisiert aus aktuellen Veröffentlichungen mehrerer kultureller Einrichtungen entnommen. Hier stoßen Besucherinnen und Besucher auf Websites, Nutzerinnern und Nutzer von Social-Media-Kanälen oder Leserinnen und Leser von Flyern auf folgende Formulierungen: „Die inklusiven Angebote der XY richten sich an Besucherinnen und Besucher mit und ohne Beeinträchtigungen.“, „Inklusion bühnenreif – Workshoptage für Menschen, die Erfahrungen mit Blindsein, Sehbehinderungen, Stottern und Krebs haben. Und für alle anderen Interessent*innen“ oder „Sonderführungen Inklusion – Museum für alle.“
Um ein kulturelles Angebot wahrnehmen, nutzen, genießen und weiterempfehlen zu können, müssen viele Komponenten ineinandergreifen. Die Bedürfnisse an ein solches Besuchserlebnis sind vielfältig und können sich (aufgrund von Elternschaft, eines Unfalls, des Alterns …) stets verändern. Bei Nicht-Erfüllung einiger dieser Bedürfnisse kann ein Besuch erschwert oder sogar verhindert werden. So bedarf es sehr konkreter Informationen, wie über das Vorhandensein eines Wickelraums, einer Induktionsschleife oder eines fremdsprachigen Angebots. Wird zur Kommunikation über die Erfüllung dieser Bedürfnisse nun der Begriff der Inklusion verwendet, entsteht eine Diffusität, die zum Nicht-Besuch führen kann. Den gewählten Begriffen und der hinter ihnen stehenden Haltung kommt somit eine hohe Bedeutung zu.
Ich schlage daher vor, den Begriff der Inklusion lediglich organisationsintern zu verwenden, innerhalb des eigenen Teams zu definieren und ein „für alle“ im Sinne der jeweiligen inhaltlichen Ausrichtung, des kulturpolitischen Auftrags und der hierfür zur Verfügung stehenden Ressourcen für sich zu übersetzen. Diese interne Verortung kann anschließend als Basis dafür dienen, attraktiv und informativ über Zugänge und Nicht-Zugänge zu den eigenen Angeboten zu kommunizieren.
Literatur
Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (2016): Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Broschüre des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 1. Januar 2015. http://www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Broschuere_UNKonvention_KK.pdf?__blob=publicationFile (letzter Zugriff: 19.10.2021).
Luhmann, Niklas (1995): Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Wiesbaden: Springer.
Netzwerk Artikel 3 (2016): Selbstdarstellung. https://www.nw3.de/index.php/selbstdarstellung (letzter Zugriff: 21.10.2021).
Wansing, Gudrun (2015): Was bedeutet Inklusion? Annäherungen an einen vielschichtigen Begriff. In: Diehl, Elke/Degener, Theresia (Hrsg.): Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe. Bundeszentrale für politische Bildung. Schriftenreihe 1506. Bonn: Eigenverlag, S. 43–S. 54.
[1] (Das Netzwerk Artikel 3 e. V. wurde 1998 gegründet und arbeitet seither auf nationaler, behindertenpolitischer Ebene in Deutschland. Thematisch liegt einer seiner Schwerpunkte auf der Mitgestaltung an Gesetzestexten wie dem Grundgesetz oder dem Behindertengleichstellungsgesetz.)