Der Workshop „Barrieren im Studium“ fand statt im Rahmen der Zweiten Netzwerktagung Kultur und Inklusion am 13. und 14. Oktober in der Akademie der Kulturellen Bildung zum Thema: „Ausbildung für künstlerische Tätigkeit von und mit Menschen mit Behinderung“.
Grundlage für den Austausch und die Diskussion über den Abbau von Barrieren und das Angebot fördernder Strukturen in der Ausbildung von Studierenden mit Behinderungen in künstlerischen Studiengängen boten ein einführender Überblick zur „Situation Studierender mit Behinderung und chronischen Erkrankungen an deutschen Hochschulen“ durch Dr. Rothenberg (Bereich Behinderung und Studium/DoBuS der TU Dortmund) sowie die Ergebnisse der „Studie zur Situation von Studierenden mit Behinderungen an Kunst- und Musikhochschulen“ durch die Projektgruppe (Rothenberg/Graewe/Preissner).
Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Erkrankung an deutschen Hochschulen (Rothenberg)
Die seit Jahrzehnten regelmäßig durchgeführten Sozialerhebungen (Ramm; Simeaner 2014) ermöglichen zusammen mit der Online-Studie BEST des Deutschen Studentenwerks (DSW 2012) statistische Aussagen und auch einige qualitative Aussagen zur Situation Studierender mit Behinderung an deutschen Hochschulen. In der repräsentativen Sozialerhebung benennen 14 Prozent aller Studierenden, dass sie mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen leben, die Hälfte von ihnen und somit 7 Prozent aller Studierenden sind im Studium beeinträchtigt im Zusammenhang mit Behinderung/chronischer Krankheit. 1,9 Prozent aller Studierenden, das sind rund ein Viertel der Studierenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen (27 %), sind im Studium stark beeinträchtigt. Die beeinträchtigenden Auswirkungen zeigen sich auch an harten Fakten, Studienwechsel und Studienunterbrechungen sind signifikant häufiger: jede und jeder 4. Studierende mit gesundheitlicher Beeinträchtigung wechselt Fach oder Studienrichtung (28 % zu 16 %), jede und jeder 5. Studierende mit gesundheitlicher Beeinträchtigung wechselt den Studienort (22 % zu 16 %) und jede und jeder 4. Studierende mit gesundheitlicher Beeinträchtigung (jede und jeder 2. mit starker Beeinträchtigung) unterbricht das Studium (27 % zu 8 %). Diese Zahlen erlauben allerdings keine 1:1-Übertragung auf einzelne Hochschulen. An einer Hochschule mit 2000 Studierenden würden rein statistisch 140 Studierende mit Behinderung davon 38 mit hohem Unterstützungsbedarf studieren, an einer Hochschule wie der TU Dortmund mit ca. 32 000 Studierenden wären es (rein statistisch) 2240 Studierende mit Behinderung und davon ca. 600 mit hohem Unterstützungsbedarf. Lokale Sonderauswertungen zeigen, dass der Anteil Studierender mit Behinderung an großen Hochschulen höher zu sein scheint als an kleineren, auch für Universitäten im Vergleich zu Fachhochschulen gibt es solche Hinweise.
Wichtige Hinweise über die Diversität der Gruppe der Studierenden mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen lassen sich aus der BEST-Studie ableiten, die im Sommer 2011 durchgeführt wurde: Mehrheitlich sind die Behinderungen nicht offensichtlich: (nur) 6 Prozent der Studierenden mit Behinderung haben eine sofort für Dritte sichtbare Behinderung, zwei Drittel haben eine langfristig nicht sichtbare Behinderung. Mehrheitlich beginnen die Studierenden ihr Studium bereits mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung, 25 Prozent erwerben diese erst im Laufe des Studiums.
Die größte Gruppe innerhalb
dieser wenig sichtbaren Population „Studierende mit Behinderung und chronischer
Erkrankung“ sind mit 42 Prozent Studierende mit einer psychischen Erkrankung. Die
gesamte Diversität der Gruppe von Studierenden mit Behinderung und chronischer
Erkrankung zeigt Studierende, die selten den üblichen Erwartungen von
(sichtbarer) Behinderung entsprechen: Da ist die große Gruppe der Studierenden
mit psychischer Beeinträchtigung oder chronisch-somatischer Erkrankung und
multiplen Beeinträchtigungen und kleinere Anteile von Studierenden mit Hör- und
Sehbeeinträchtigungen, Teilleistungsstörungen sowie mit körperlichen
Behinderungen.
Für diese Studierenden gilt es gemäß Art. 24 Abs. 1 und Abs. 5 UN-Behindertenrechtskonvention einen diskriminierungsfreien und gleichberechtigten Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung zu gewährleisten sowie angemessene Vorkehrungen sicherzustellen, wie dies bereits Einzug gehalten hat in aktuelle Hochschulgesetzgebung (§3, 5 HZG NRW). Dies bedeutet, den Bedarfen hinsichtlich der Gestaltung der Unterrichtsräume und der Lehrmaterialien, der Vermittlung von Lehrinhalten und von beeinträchtigungs-spezifischen Softskills zu entsprechen. Besondere Bedeutung kommen der Ermöglichung eines Studierens in individueller Geschwindigkeit sowie der Modifikation von Prüfungsformen zu.
Die repräsentative BEST-Studie gibt zudem auch konkrete Hinweise für die Situation vor Ort: Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen nehmen häufig ihre gesetzlich verbrieften Nachteilsausgleiche nicht wahr. Das Gleiche gilt auch für Beratung. Daneben beklagen sie fehlende Akzeptanz bei den Lehrenden und fehlende Berücksichtigung ihrer Bedarfe in Lehrveranstaltungen.
Hier treffen die überwiegende Nichtsichtbarkeit von Studierenden mit Behinderung und chronischer Erkrankung und unzulängliche Strukturen für diese Personengruppe Barrieren schaffend zusammen – Handlungsbedarfe werden offensichtlich (Rothenberg 2016).
Die Darstellung der allgemeinen Situation von Studierenden mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen bildet die Grundlage für die Studie, die sich speziell den Bedingungen an Kunst- und Musikhochschulen widmet.
„Studie zur Situation von Studierenden mit Behinderungen an Kunst- und Musikhochschulen“ (Projektgruppe Rothenberg/Graewe/Preissner)
Die Studie „Behinderte Studierende an Kunst- und Musikhochschulen“, durchgeführt im Sommersemester 2016, hatte zum Ziel, deutschlandweit Studienmöglichkeiten und spezifische Bedingungen für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung an Kunst- und Musikhochschulen zu eruieren. Gezielt wurden nach einer Literaturrecherche auch spezifische Bedingungen und ggf. Möglichkeiten eines Nachteilsausgleichs bei den Aufnahmeverfahren bzw. der Gestaltung der Zulassungsbedingungen untersucht. Die entsprechenden Hochschulen wurden im Rahmen einer Internetrecherche zudem direkt auf Transparenz und Barrierefreiheit geprüft. Zunächst wurde die Internetpräsenz der einzelnen Hochschulen in den Fokus genommen. Das Hauptaugenmerk lag auf der Recherche zu Informationen über Nachteilsausgleiche, zur Gestaltung von Aufnahmeprüfungen für Studieninteressierte mit Behinderung, Informationen zum Studium mit Behinderung generell sowie Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen für Studierende bzw. Studieninteressierte mit Behinderungen. Besonderheiten und Auffälliges wurde zudem vermerkt.
Des Weiteren sollte überprüft werden, ob etwaige theoretische Informationen diverser Hochschulen tatsächlich praktisch umgesetzt werden. Um dies zu überprüfen, wurden Fragebögen konstruiert, die an Verantwortliche und an Studierende entsprechender Hochschulen online weitergeleitet wurden und quantitativ ausgewertet werden sollten. Dieses Projektvorhaben war aufgrund zu geringen Rücklaufs nicht aussagekräftig.
Für qualitative Aspekte wurden vereinzelt leitfadengestützte Experteninterviews mit Kunststudierenden mit Behinderung geführt.
Mit dieser Studie sollte im kleinen Rahmen herausgefunden werden, inwiefern Kunst- und Musikhochschulen in Deutschland Studieninteressierte mit Behinderungserfahrung überhaupt einen Zugang verschaffen. Außerdem sollte geprüft werden, wie sich das Studium samt Aufnahmeprüfung gestaltet. Hier sollten Fragen geklärt werden wie:
- Stehen Berater und Beraterinnen zur Verfügung?
- Liefert die Hochschule ausreichend Informationen und Unterstützung?
- Wie gestaltet sich der Alltag?
- Herrscht eine „Willkommenskultur“?
- Wie ist die Stimmung innerhalb der Hochschule bezogen auf Menschen mit Behinderung?
Ergebnisse der Studie
Für die angestrebte deutschlandweite Erhebung wurde eine Liste mit 59 Hochschulen mit dem Fokus auf Kunst, Musik, Theater und Schauspiel erstellt. Die Internetrecherche ergab, dass mehrheitlich (71 %) die Kunst- und Musikhochschulen kein Hochschulmitglied zum bzw. zur Beauftragten für die Belange von Studierenden mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen ernannt hatten, die insbesondere auch Studieninteressierten mit Behinderung als erste Ansprechpartner und Partnerinnen dienen. Nur 15 Hochschulen waren dieser langjährigen Empfehlung von KMK und HRK nachgekommen, die bisher nur vereinzelt, aber zunehmend in Landesgesetzen verpflichtend vorgesehen ist.
Auch Informationen zum Nachteilsausgleich, besonders relevant für die Entscheidung, eine Aufnahmeprüfung unter erschwerten Bedingungen zu wagen, waren mehrheitlich nicht vorhanden. Lediglich 46 Prozent der Hochschulen stellen diese Informationen ins Netz, häufig allerdings wenig transparent, eine Hochschule verweist zudem auf andere Informationsseiten.
Aussagen aus Interviews mit einigen hörbehinderten Kunst-Studierenden zeigten auf, dass Nachteilsausgleichsregelungen konkret angeboten werden und auch greifen, machten aber auch deutlich, wie bedeutend Sensibilität und Bereitschaft für die Berücksichtigung von Beeinträchtigungen bei den Lehrveranstaltungen sind.
Bei dieser knapp der Hälfte der Hochschulen wurden für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen sowohl Kostenerstattungsmöglichkeiten für das Studium als auch explizit Nachteilsausgleichsregelungen für Prüfungssituationen aufgeführt.
Zusammenfassend wurde festgestellt, dass neben einigen positiven Beispielen für die Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Erkrankung sich überwiegend eine wenig transparente Informationskultur mit kaum verwertbaren Informationen und häufig fehlenden Ansprechpartnern bzw. Ansprechpartnerinnen zeigt.
Diskussionsergebnisse aus dem Workshop
Als Diskussionsstrang zog sich die Frage durch den Workshop, wie die Bereitschaft an Hochschulen erhöht werden kann, Studierende mit Behinderung auszubilden und daneben auch, wie es gelingen kann, bestehende Bereitschaft transparenter und sichtbarer zu gestalten. Daneben stand der Fragenkomplex im Fokus, ob und welches hochschuldidaktische Wissen von Lehrenden neben ihrer grundsätzlichen Bereitschaft benötigt wird, um für und mit Studierenden mit Beeinträchtigungen Lehre qualitativ gut gestalten zu können.
Von den Teilnehmenden wurde die Hypothese intensiv diskutiert, ob die Zugangs- und Studienbedingungen für Studieninteressierte mit Behinderungen an nicht spezifisch auf künstlerische Studiengänge fokussierten Hochschulen bereits adäquater gestaltet sind. Gerade Erfahrungen von Studierenden mit Behinderung aus für das Lehramt (mit künstlerischen Fächern) ausbildenden Studiengängen legten das nahe.
Für die Überprüfung dieser Fragestellung wäre ein Vergleich der Ergebnisse der Studie mit Bedingungen an Hochschulen von Interesse, die ein Kunst- bzw. Musikstudium als Nebenfach zum Beispiel im Rahmen des Lehramtsstudiums oder auch als Studiengänge in einer Fakultät „Kunst/Musik/Design“ anbieten, mehrheitlich aber Studiengänge außerhalb dieses Bereichs anbieten. Die Erfahrungen dieser Hochschulen könnten dann von Kunst- und Musikhochschulen genutzt werden. Gerade die wenigen Erfahrungen von Studierenden bzw. Absolvierenden mit Behinderung aus den künstlerischen Fächern zeigten die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Öffnung von Kunst- und Musikhochschulen für diese Gruppe der künstlerisch begabten Studieninteressierten sowohl für grundständige Studiengänge (Bachelor/Master) als auch für Weiterbildungen auf.
Die Teilnehmenden gaben sich und der Tagung den Auftrag, mit Hochschulverantwortlichen nach geeigneten Strategien zu suchen. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei bereits der Gestaltung von Nachteilsausgleichen bei Aufnahmeprüfungen gewidmet werden.
Weitere Informationen:
- www.studentenwerke.de/de/content/studieren-mit-behinderungen-zahlen-und-fakten
- www.best-umfrage.de/PDF/beeintraechtigt_studieren_2011.pdf
- www.studis-online.de/StudInfo/hochschule.php?type=5
- http://gleichstellung.muthesius-kunsthochschule.de/diversity-anerkennung-und-gleichberechtigung-von-vielfalt
- www.burg-halle.de/hochschule/organisation/behindertenbeauftragte
Literatur
- Ramm, Michael/Simeaner, Hans (2014): Behinderte und chronisch kranke Studierende; Sonderauswertung des 12. Studierendensurveys (WS 2012/13). Konstanz.
- DSW (Hrsg.) (2012): beeinträchtigt studieren. Datenerhebung zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit 2011. Berlin.
- Rothenberg, Birgit (2016): Das Selbstbestimmt Leben-Prinzip und die (nicht-)inklusive Hochschule. In: Bliemetsrieder, Sandro/Gebrande, Julia/Jaeger, Arndt/Melter, Claus/Schäfferling, Stefan (Hrsg.) (2016): Bildungsgerechtigkeit und Diskriminierungskritik. Historische und aktuelle Perspektiven auf Gesellschaft und Hochschulen. Weinheim/München: Beltz-Juventa, S. 111–128.
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