So vielfältig wie Inklusion definiert und interpretiert wird, so breit gefächert erscheint auch das Thema „Inklusion in der Lehre künstlerischer Hochschulen“. So könnte kurz zusammengefasst das inhaltliche Fazit des Workshops lauten.
Impulsreferate (Inputs)
Aus den Diskussionsbeiträgen wurde deutlich, dass es sich bei der Inklusion nicht um ein fest umrissenes, eindeutiges Phänomen handelt und schon gar nicht auf eine „Schule für alle oder Gemeinsamen Unterricht“ im Sinne der Vielfalt von Schülerinnen und Schülern verengt werden kann oder sollte. Ohne Zweifel handelt es sich hierbei um zwei wesentliche, nicht zu vernachlässigende Aspekte von Inklusion, aber Inklusion ist mehr.
Als gemeinsamer Nenner diverser Vorstellungen und Konzepte von Inklusion muss immer wieder die Vielfalt herhalten. Darin sieht Christine Löbbert (Input 1a) allerdings das Problem, phänomenologische Gegebenheiten etwa einer Behinderung zu ignorieren. Als betroffene Person gesagt zu bekommen „Du bist behindert“ zeigt bei spontaner Betrachtung zwar wenig Empathie des Gegenübers. Mit einer Umdefinierung von Behinderung auf Vielfalt ist es allerdings auch nicht getan. Hier bedarf es eines sensiblen, situationsspezifischen, nicht nur begrifflichen Umgangs miteinander. „Menschen mit Behinderung sind nicht die Norm. Sie sind fremd und werden als Fremde wahrgenommen.“ Das Fremde als realitätsnaher Ansatz vermag nicht nur Neugier zu wecken, sich vom Fremden faszinieren zu lassen, sondern auch Hemmschwellen wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen. So wird das Fremde nicht zu einer Störung, sondern zu einer Bereicherung.
Den Umgang mit dem Fremden veranschaulicht Annette Ziegenmeyer (Input 1b) eindrücklich anhand eines Hochschulprojekts mit jugendlichen Gefängnisinsassen. Dieses über ein Semester laufende Lehrangebot der Bergischen Universität Wuppertal trägt den Titel „Musikpädagogisches Handeln im Freizeitbereich des Jugendstrafvollzugs“. Es richtet sich an zukünftige Musiklehrkräfte für das Lehramt Haupt-, Real- und Gesamtschule sowie Lehramt für Sonderpädagogische Förderung. Studierende führen in zwei Teams zwei parallel nebeneinander ablaufende Musikprojekte mit jeweils sechs bis acht Inhaftierten durch. Das Musikangebot erfolgt auf freiwilliger Basis. Das Beispiel Gefängnis verdeutlicht, dass Exklusion aus soziologischer Sicht unvermeidbar ist, da kein Mensch gleichermaßen in allen gesellschaftlichen Teilsystemen inkludiert sein kann. Annette Ziegenmeyer zitiert in diesem Zusammenhang Kastl (2013: 140):
Inklusionen sind in der modernen Gesellschaft immer an spezifische Funktionssysteme und deren Funktionslogiken gebunden. Das heißt, jedes Funktionssystem […] vollzieht Inklusion auf je eigene Weise. Es gibt keine Gesamtinklusion in die Gesellschaft […], sondern immer nur in spezialisierte Funktionssysteme.
Einen anderen Aspekt von Inklusion zeigt Eva Krebber-Steinberger (Input 2) auf, indem sie im doppelten Sinne des Wortes „Lehren aus der Musikschularbeit für die Hochschulausbildung“ zieht. Ausgangspunkt ist das Bochumer Modell, das Prof. Dr. Werner Probst vor 40 Jahren initiiert hatte. Ausgehend von der Zusammenarbeit von Sonder- und Musikschule wurde ein inzwischen bundesweit anerkanntes Konzept in Richtung Inklusion als Fort- und Weiterbildung für Musikschullehrkräfte weiterentwickelt (vgl. bisher realisierter berufsbegleitender Lehrgang BLIMBAM).
Daraus gewonnene Erkenntnisse finden sich auch u. a. wieder in der Potsdamer Erklärung des Verbandes deutscher Musikschulen (VdM): „Musikschule im Wandel – Inklusion als Chance“. Weitere Grundlagen betreffen Professionalitätsansprüche, Wissenschaftlichkeit, künstlerische Vermittlung, Inklusions-Index mit den Dimensionen Kultur, Struktur, Praxis sowie Vernetzung, Kooperationen in multiprofessionellen Teams.
„Projekttagebücher und Beobachtungsprotokolle von Studierenden der Schulmusik zur inklusiven Hochschulgruppe Theater mit Musik“ sind das Thema von Dierk Zaiser (Input 3) an der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen. Bezugspunkt ist ein von der Aktion Mensch gefördertes Theaterprojekt, an dem erwachsene Personen mit geistiger Behinderung, Fachkräfte, Ehrenamtliche und Studierende beteiligt sind. Über den Aufbau eines fortlaufenden Angebots mit Proben- und Aufführungspraxis sollen künstlerische Potenziale entdeckt und gefördert werden, wobei Studium und Erwachsenenbildung in enger Verbindung stehen. Ringvorlesung und Symposium dienen der weiteren Theoriebildung. Zentrale Inhalte im Rahmen der Hochschullehre betreffen Bereiche von Theater, Musik, Bewegung, Begegnung, Inklusion, Pädagogik, Didaktik. Ein besonderes Gewicht für die Studierenden erhalten in diesem Zusammenhang Beobachtungsprotokolle und Projekttagebücher, letztere als besondere Forschungsmethode mit subjektiver reflexiver Verarbeitung von Praxis.
Diskussionsinhalte und -aspekte
- Inklusionsbegriff: Vielfalt versus Fremdheit
- Fremdheit als Bereicherung, Faszination versus Befremdung, Störung
- Langzeitige Kooperationen versus Projekte
- Inklusion in verschiedenen, spezialisierten Funktionssystemen
- Grenzen von Inklusion
- Inklusion als Angebot im Freizeitbereich
- Erfahrungsaustausch zwischen Verbindlichkeit und Selbstbestimmung
- Inklusive Orientierung an subjektiven Bedürfnissen: Fragen versus Rezepte
- Aufnahmeprüfungen/Inhalte an künstlerischen
Hochschulen:
- inklusionsorientierte Öffnung von Aufnahmeverfahren
- Berücksichtigung persönlichen Entwicklungspotenzials
- Kreativität/persönlicher Freiraum versus definierte Anforderungen
- Bedeutung und Notwendigkeit inter- und intrainstitutioneller Vernetzung
- Verbindung von Studium mit Erwachsenenbildung
- Inklusion als zu verantwortendes Thema für gesellschaftliche Prozesse/Kunst und Kultur
- Heterogenität und Professionalität als Ausdruck von Qualität
Zusammenfassung
Inklusion kann sich unter dem Aspekt der „Lehre an künstlerischen Hochschulen“ auf sehr unterschiedliche (institutionelle) Ebenen, Funktionen und Zielsetzungen beziehen, so im Hinblick auf den durchgängigen Musikunterricht in der allgemeinbildenden Schule, auf den (Instrumental-)Unterricht in der Musikschule, auf Projekte und längerfristige Kooperationen, die über die (Hoch-)Schule hinausweisen sowie auf Studierende selbst mit einer Behinderung bzw. speziellem Förderbedarf.
Zieht man die Arbeitsergebnisse der 2. Netzwerktagung vom 13. bis 14. Oktober 2016(vgl. Gerland/Keuchel/Merkt 2017) mit in Betracht, so wurden nachvollziehbar nicht alle als damals dringend formulierten Anliegen und Probleme gelöst (vgl. Krebber-Steinberger 2017: 225). Dennoch ist ungeachtet der weiterhin schwer vergleichbaren Unterschiedlichkeit von Projekten und Konzepten durchaus eine Weiterentwicklung von Inklusion im weitesten Sinne feststellbar. Zum einen haben sich Blickwinkel erweitert in Richtung eines mehrdimensionalen und differenzierteren Verständnisses von Inklusion. Zum anderen lassen sich auf der Basis zunehmender inklusionsbasierter Erfahrungen durchaus Fortschritte in der Lehre erkennen. Aus Projekten werden längerfristige Lehrangebote (s. o. Universität Wuppertal) oder sie werden stärker in die Ausbildung integriert (s. o. Musikhochschule Trossingen). An der Musikhochschule Lübeck wurden evaluationsbasiert bestehende Kompaktveranstaltungen (vgl. Tischler 2017) entzerrt und noch mehr als bisher auf das gesamte Semester verteilt. Die Berücksichtigung von Bedürfnissen der Studierenden nach mehr Praxisbezug manifestiert sich nun in einer semesterabschließenden Konklusion in Verbindung mit einer Hospitation im durchgängigen inklusiven Musikunterricht einer allgemeinbildenden Gemeinschaftsschule (Sekundarstufe 1).
Bildungspolitisches Statement
Auch wenn die Implementierung und Bedeutung von Inklusion an vielen künstlerischen Hochschulen voranschreitet, bleiben noch viele Fragen und Wünsche bzw. Forderungen offen, die sich mit Thomas Grosse, Rektor der Musikhochschule Detmold, wie folgt zusammenfassen lassen:
Unter dem Titel Innovation in der Hochschullehre hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein Programm auf den Weg gebracht, das dem Austausch und der Vernetzung relevanter Akteure sowie dem Wissenstransfer zu gelingender Lehre dienen soll. Die Entwicklung innovativer Studien- und Lehrformate soll durch eine entsprechende Förderung unterstützt werden. Das Netzwerk Kultur und Inklusion fordert die Akteure dazu auf, Inklusion und den Umgang mit Diversität als einen zentralen Bestandteil von Qualitätssicherung in der Hochschullehre für kulturelle und künstlerische Studienfächer in den anstehenden Vergabeverfahren zu berücksichtigen. Die Forderung nach Inklusion als breitem gesellschaftlichen Konsens muss sich auch in den Hochschulen abbilden. Menschen mit Beeinträchtigungen/besonderen Bedürfnissen sind eine Bereicherung in kulturell-künstlerischen Arbeitsfeldern. Das Programm ‚Innovation in der Hochschullehre‘ kann entscheidend dazu beitragen, in Inklusionsfragen kompetente Lehrende sowohl in der direkten künstlerischen Ausbildung Studierender als auch bei der Ausgestaltung von Lehrveranstaltungen zu gewinnen. Es handelt sich dabei um Multiplikatoren, die Menschen mit Förderbedarf in kulturellen/künstlerischen Studienfächern stärken, sichtbar machen und auch die Kompetenzen von Hochschulabsolventinnen und -absolventen in inklusiven Arbeitsfeldern signifikant zu erhöhen.
Literatur
- Gerland, Juliane/Keuchel, Susanne/Merkt, Irmgard (Hrsg.) (2017): Kunst, Kultur und Inklusion – Ausbildung für künstlerische Tätigkeit von und mit Menschen mit Behinderung. Schriftenreihe Netzwerk Kultur und Inklusion, Bd. 2. Regensburg: ConBrio.
- Kastl, Jörg Michael (2013): Inklusion und Integration. In: Dederich, Markus/Greving, Heinrich/Mürner, Christian/Rödler, Peter (Hrsg.): Behinderung und Gerechtigkeit. Gießen: Psychosozial, S. 133-152.
- Krebber-Steinberger, Eva (2017): Dokumentation des Workshops zum Themenfeld II: „Studiengänge für künstlerische Vermittlungsberufe und künstlerische Berufe: Ausbildungsanteile der Thematik „Inklusion, inklusive Vermittlungsformate/Kooperationen“. In: Gerland, Juliane/Keuchel, Susanne/Merkt, Irmgard (Hrsg.): Kunst, Kultur und Inklusion – Ausbildung für künstlerische Tätigkeit von und mit Menschen mit Behinderung. Schriftenreihe Netzwerk Kultur und Inklusion, Bd. 2. Regensburg: ConBrio, S.219-225.
- Tischler, Björn (2017): Campus Inklusion (Musikhochschule Lübeck). In: Gerland, Juliane/Keuchel, Susanne/Merkt, Irmgard (Hrsg.): Kunst, Kultur und Inklusion – Ausbildung für künstlerische Tätigkeit von und mit Menschen mit Behinderung. Schriftenreihe Netzwerk Kultur und Inklusion, Bd. 2. Regensburg: ConBrio, S.173-178.
Björn Tischler (2020): Künstlerische Hochschulen – Inklusion in der Lehre. Arbeitsergebnisse Workshop 2. In: Keuchel, Susanne/Merkt, Irmgard: Inklusion und künstlerische Hochschulen – Status quo und Zukunftsaufgaben. Schriftenreihe Netzwerk Kultur und Inklusion, Bd. 5. Regensburg: Conbrio.