Die Fragestellung, wie eine professionelle „Ausbildung für künstlerische Tätigkeiten von Menschen mit Behinderung“ umgesetzt werden kann, beschäftigt auch das Projekt GLANZSTOFF, das eine professionalisierte Theaterarbeit mit Menschen mit Behinderung konzeptualisiert und derzeit in der Anfangsphase der Umsetzung steht. Im Folgenden werden die Konzeption, Umsetzung und der damit verbundene Mehrwert des Projekts vorgestellt.
Die Studio-Idee
Ein Schauspielstudio bedeutet im Theater eine kleine Ausbildungsbühne für Nachwuchsschauspielerinnen und -schauspieler. An diesem Ort werden auch neue experimentelle Formate zu gesellschaftlichen Themen und zu neuen theatralen Formen erprobt und erforscht. Ein solches Studio möchte die GLANZSTOFF-Akademie der inklusiven Künste e. V. in Kooperation mit der Wuppertaler Bühnen GmbH für Menschen mit Handicap gründen. Für die Professionalisierung der Theaterarbeit ist die Kooperation mit den Wuppertaler Bühnen zentral. In dieser Partnerschaft ist GLANZSTOFF für die Organisation, die Finanzierung und die inhaltliche und methodische Ausrichtung der Probenarbeit sowie deren Umsetzung verantwortlich. Die Wuppertaler Bühnen stellen die Räumlichkeiten und unterstützen die Probenarbeit und die Aufführungen mit ihren Gewerken.
Im Zentrum des Projekts stehen Theaterarbeit und Schauspieltraining für zunächst sechs bis acht Menschen mit Behinderung. Das Studio wird auch für Schauspielerinnen und Schauspieler des Ensembles, Schauspielschülerinnen und -schüler sowie Studierende von an die Theaterarbeit angrenzenden Studienfächern wie Musik, Kunst, Germanistik, Erziehungswissenschaft etc. offen sein.
Der Projektzeitraum ist zunächst in der Startphase auf ein halbes Jahr konzipiert. In dieser Zeit wird wöchentlich an einem Tag mit den Schauspieltrainees eine Aufführung realisiert, welche Anfang 2018 im Theater am Engelsgarten, der Schauspielbühne der Wuppertaler Bühnen, zu sehen sein wird. An einem weiteren Tag in der Woche wird ein Schauspieltraining angeleitet, in dem die Grundlagen des Schauspiels nach modifizierten, für die Möglichkeiten der Spielerinnen und Spieler angepassten Methoden vermittelt werden.
Eine große Stärke des Schauspielstudios an den Wuppertaler Bühnen ist es, dass eine oder ein Schauspieltrainee an einem vertrauten Ort mit den professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern, die sie im Probenprozess des Schauspielstudios, in der Kantine, der Maske etc. kennengelernt haben, in einer Produktion der Wuppertaler Bühnen zusammen spielen können und sich dadurch in einem gefestigten Rahmen bewegen und agieren. Es gibt bereits Anfragen von den Wuppertaler Bühnen, Schauspielerinnen und Schauspieler aus unserem inklusiven Theaterensemble als Statistinnen und Statisten einbeziehen zu wollen.
Die Ziele des Schauspielstudios
- Die Studioarbeit zielt auf die Entwicklung von Spielfreude und Körperbewusstsein, verbale und nonverbale Ausdrucksstärke, Musikalität, Improvisations- und Kooperationsfähigkeit von den Schauspieltrainees.
- Das Projekt verfolgt eine Professionalisierung der Schauspieltrainees in Theateraufführungen durch eine individualisierte, schauspielerische Weiterbildung und durch die Verortung des Projekts in dem Rahmen der Wuppertaler Bühnen. Hier werden sie mit der Proben- und Aufführungssituation einer Inszenierung vertraut gemacht. Dadurch lernen sie von Beginn an ein produktives, qualitätsbewusstes Arbeiten kennen.
- Durch die Öffnung des Stadttheaters für Menschen mit Behinderung, durch gemeinsame Probenarbeit von Künstlerinnen und Künstlern mit und ohne Behinderung zielt das Projekt auf Teilhabe und Partizipation.
Ästhetische Bildung und Vermittlung schauspielerischer Grundlagen
In der konkreten Umsetzung orientiert sich das Projekt an den Prinzipien Ästhetischer Bildung vorrangig für die Schauspieltrainees der Studiobühne. Im aktiven Spiel mit anderen eignet sich der Mensch Welt an, indem er sich mit seiner Rolle und die seiner Spielpartnerinnen und -partner beschäftigt. In der künstlerischen Auseinandersetzung mit einem Thema haben die Spielerinnen und Spieler die Möglichkeit, ihre persönliche Sicht auf sich selbst, ihre Mitmenschen und somit auch auf die Gesellschaft zu thematisieren (Mollenhauer 1996: 253). Gleichzeitig bietet die Arbeit auch einen Projektionsraum für Wünsche, Hoffnungen, Veränderungen und Utopien.
Auf dieser Basis kann eine stark individualisierte Ausbildung der
Spielenden erfolgen, die differenziert besondere Talente der Schauspielerinnen
und Schauspieler mit Behinderung fördert. In dem Schauspieltraining, das sich
an den Inhalten des bestehenden und erfolgreichen Theater HORA in der Schweiz
orientiert (Bugiel/
Elber 2014: 346), steht nach der Mobilisierung des Spieltriebs und der
Spielfreude die Arbeit am
- Körperbewusstsein: Bewusstsein für den Körper als Ausdrucksmittel und Bewusstsein für den Körper im Raum;
- Stimmausdruck: lautmalerisches Spiel, Fantasiesprache, gesprochenes Wort;
- Schauspielen: Spielfreude, Handlungsbewusstsein, Interaktion, Improvisation.
Darüber hinaus sollen die Dozentinnen und Dozenten die besonderen individuellen kreativen Ausdrucksmöglichkeiten der Schauspieltrainees erkennen, spiegeln und weiterentwickeln, damit sie zu selbstbewussten, spielstarken Persönlichkeiten werden, die über ein Maß an individuellen Fachkompetenzen verfügen und ihr Talent wirkungsvoll in einer Theaterproduktion und in Workshops einbringen können.
Mehrwert für alle
Sowohl für die Künstlerinnen und Künstler als auch für den städtischen Kulturbetrieb ist ein Mehrwert durch GLANZSTOFF zu erwarten. Menschen mit Behinderung erweitern das Spektrum im Theater an Gebärden, an Gesten, an Emotionen. Es werden völlig neue authentische Inszenierungen möglich. In der Kunstwahrnehmung ändert sich dabei die Sichtweise, Vorurteile können abgebaut werden. Ebenso wird das Stadttheater neue Zuschauer- bzw. Zielgruppen gewinnen können.
Mehrwert für die Künstlerinnen und Künstler
So erklärt Isabelle Spirig im Gespräch mit Immanuel Schipper, dass der Mehrwert von Inklusion in der Erweiterung des eigenen Horizonts liegt:
„Wenn Künstler mit Künstlern mit einer Behinderung […] auf der Bühne arbeiten, dann bedeutet das, dass eingefahrene Pfade und Ängste überwunden werden müssen. Die erste Reaktion der Kulturschaffenden ohne Behinderung war immer: Ich habe Angst. Später beschrieben sie, dass sie diese Angst überwinden konnten. Ihr kreatives Potential wurde erweitert.“ (Graber/Schipper/Spirig 2012: 160)
Mehrwert für Publikum
Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden in der Aufführung mit ihren eigenen Vorurteilen und möglicherweise ihren Ängsten konfrontiert. In der Kunstwahrnehmung ändert sich hier die Sichtweise auf Behinderung: Der Spieler mit Behinderung auf der Bühne wird in seiner Darstellung nicht anerkannt, weil er etwas schafft, obwohl er eine Behinderung hat, sondern weil er mit seiner Behinderung in der Lage ist, etwas zu erschaffen, was sonst kein anderer vermag. Eine solche Ästhetik
will Behinderung weder akzeptieren noch ablehnen, sondern Behinderung als einen für sich alleinstehenden ästhetischen Wert etablieren; einen ästhetischen Wert, der das Theater in die moderne Ära führt. Dies mündet nicht in einen der ideology of ability untergeordneten Wunsch, die Menschheit zu reinigen, sondern in einen Versuch, Behinderung als Ressource für ein erweitertes emotionales Darstellungsspektrum zu verstehen […]. Das Auftauchen von Behinderung auf der Bühne bietet eine Alternative zur ideology of ability und erforscht und erweitert das Spektrum von Menschsein, das wir uns erlauben. Statt sich von mächtigen, durch die Erfahrung von und mit behinderten Körpern und Köpfen hervorgebrachten Emotionen zu reinigen, präsentiert die moderne Bühne sie so, wie sie sind, in all ihrer emotionalen Vielfältigkeit, und fordert uns dazu auf nachzufühlen, was es heißt, ein andersartiger Mensch zu sein.
(Siebers 2012: 29)
Mehrwert für Menschen mit Handicap
Neben der Ausbildung individueller Fachkompetenzen und der Einbindung in einen professionellen Rahmen bietet der Dialog mit dem Publikum während und nach der Aufführung den Schauspieltrainees große Entwicklungschancen, da in diesen Situationen das Ernstnehmen und die Anerkennung der schauspielerischen Leistung von den Zuschauenden zum Ausdruck gebracht wird und so ein hohes Maß an Gleichbehandlung und Gleichberechtigung der Spielerinnen und Spieler gewährleistet wird (Bugiel/Elber 2014: 347).
Weitere Informationen
Literatur
- Bugiel, Marcel/Elber, Michael (2014): Theater HORA. Der einzige Unterschied zwischen uns und Dalí ist, dass wir nicht Dalí sind. Berlin: Theater der Zeit.
- Graber, Hedy/Schipper, Immanuel/Spirig, Isabella (2012): „Wir wären echt bescheuert, wenn wir darauf verzichten würden!“ Immanuel Schipper im Gespräch mit Hedy Graber und Isabelle Spirig. In: Schipper, Imanuel: Ästhetik versus Authentizität. Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung. Berlin: Theater der Zeit, S. 160–167.
- Mollenhauer, Klaus (1996): Grundfragen ästhetischer Bildung. Weinheim/München: Juventa.
- Siebers, Tobin (2012): „Un/Sichtbar“. In: Schipper, Imanuel: Ästhetik versus Authentizität. Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung. Berlin: Theater der Zeit, S. 16–32.
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