Sommerblut versteht sich als inklusives Kulturfestival, in dem unterschiedliche gesellschaftliche, soziale und politische Standpunkte und Identitäten miteinander in Austausch gehen. Der Inklusionsbegriff wird hier bewusst weit gefasst: es geht um körperliche und kognitive Merkmale, Lebensformen, Wertesysteme, Traditionen, Glaubensrichtungen. Diese Merkmale bestimmen sowohl die individuellen Identitäten als auch die gesellschaftliche Interaktion unterschiedlichster Individuen.
Das Sommerblut-Kulturfestival möchte Anlässe zum Perspektivwechsel bieten und die Potentiale einer mutigen Kunst und Kultur erschließen. Hier treffen Künstlerinnen und Künstler aus Hochkultur und Freier Szene in allen Sparten auf sogenannte Expertinnen und Experten diverser Lebenswelten, beispielsweise Menschen mit Behinderung, Geflüchtete, Menschen unterschiedlichen Lebensalters und sexueller Orientierung, verschiedener Milieus und Herkunftskulturen.
Das Festival bietet einen Rahmen für Eigen- und Fremdproduktionen. Zahlreiche nationale und internationale Künstlerinnen und Künstler – Prominente und Nachwuchskünstlerinnen und Nachwuchskünstler – haben dazu beigetragen, dass sich das Festival zu einer festen Größe im Kölner Kulturleben sowie im nationalen und internationalen Kulturgeschehen entwickelt hat. Diese Vielseitigkeit zeigt sich auch bei der Auswahl der Veranstaltungsorte. Das Festival bespielt Orte, die dem etablierten Kulturbetrieb zugeordnet sind, etwa die Kölner Philharmonie, aber auch Off-Theater und andere unkonventionellere Spielstätten wie die Alte Feuerwache oder das Alte Pfandhaus. Insgesamt nehmen jährlich mehr als 15 000 Besucherinnen und Besucher an rund acht Veranstaltungen an ca. 35 Spielstätten teil.
In unseren Kulturprojekten arbeiten Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelten professionell und auf Augenhöhe mit ausgebildeten Künstlerinnen und Künstlern. Kennzeichnend für die Lebensweltexpertinnen und -experten ist häufig ein hohes autodidaktisches Potential. Eine reguläre künstlerische Ausbildung oder ein Studium im Kunst- und Kulturbereich (z. B. im Fach Tanz) war vielen der Expertinnen und Experten nicht möglich, da die stark standardisierten und in dieser Hinsicht unflexiblen sowie an einem deutlich normativen Kunstbegriff orientierten musischen Regelstudiengänge ihren jeweiligen besonderen Situationen nicht entsprechen. Diesen Menschen wird deshalb in der professionellen Kunst- und Kulturlandschaft oftmals a priori jegliche künstlerische Qualifikation abgesprochen.
Daraus folgt, dass die Talente vieler dieser „Experten-Künstlerinnen“
und
„-Künstler“ – gerade von Menschen mit Behinderung – unentdeckt und ungenutzt
bleiben, wenn sie nicht von einem engagierten Umfeld wie Eltern, Schule oder
Freunde motiviert, gefördert und dadurch auf alternativen Wegen zu professionellen
Künstlerinnen und Künstlern werden können. Erstrebenswert sind an dieser Stelle
sicherlich gezielte, strukturelle und inhaltlich fundierte Förderungs- und
Ausbildungsmöglichkeiten.
Auch die fehlende finanzielle Ausstattung von Kulturorten und -projekten, die Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung beteiligen, verkompliziert die Situation. Denn kulturelle Teilhabe in Form von professioneller künstlerischer Arbeit mit „Experten-Künstlerinnen“ und „-Künstlern“ – insbesondere, wenn sie eine Behinderung, manchmal auch Mehrfachbehinderung haben – ist in der Regel teurer, weil Proben- und Betreuungsaufwand, Aufführungen und Gastspiele, aber auch Unterkünfte und Verpflegung erheblich aufwendiger sind als bei der Arbeit mit sogenannten Nichtbehinderten.
Eine zusätzliche Barriere im Kontext künstlerischer Ausbildung von Menschen mit Behinderung sind manche Strukturen in dem System der sozialen Sicherung. Mangelnde berufliche Perspektiven aufgrund fehlender Grundqualifikation zwingen viele der „Experten-Künstlerinnen“ und „-Künstler“ in die sozialen Sicherungsnetze wie HARZ IV, Arbeitslosengeld etc. Für Kulturschaffende wie für das Sommerblut-Kulturfestival ist es gerade bei Sozialhilfeempfangenden – und seien sie künstlerisch noch so talentiert – extrem aufwendig, sie in professionelle Projekte einzubinden, weil die Projektlaufzeiten in der Regel kurz und die mit einem Engagement verbundenen Mehrkosten wie zum Beispiel Miete, Assistenz, Betreuung oder Krankenkassenbeiträge fast nie finanziert werden können. Das bedeutet für diese Menschen einen Teufelskreis, der ihnen den Sprung in eine freischaffende Künstlertätigkeit von vornherein erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Sommerblut bemüht sich, hier mit individuellen, persönlichen Lösungen zu unterstützen, die sich aber manchmal an der Grenze bestehender Rechtvorschriften bewegen müssen.
Um eine authentische und um Vollständigkeit bemühte Perspektive abzubilden, ist es zielführend, auch Schwierigkeiten anzusprechen, die bei – im beschriebenen Sinne – inklusiven Produktionen auftreten können:
Menschen mit Lernschwierigkeiten haben oft Mühe, sich klar, deutlich und verständlich zu artikulieren. Sie sind ihres sprachlichen Ausdrucks nicht in vollem Umfang mächtig, auch wenn sie trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen? – auf der Bühne Figuren mit ihren Emotionen und ihrem Körper großartig figurieren können. Diese Schwierigkeit, sich zu artikulieren, wurde vor allem immer dann zum Problem, wenn wir unter Zeitdruck am Schluss der Proben eine Besprechung durchführten. Wie viel Platz gibt man dann als Gesprächsleitung und Regisseurin oder Regisseur den oft komplizierten, langsamen, unverständlichen, manchmal auch vom Thema abweichenden Ausführungen der „Experten-Schauspielerinnen“ und „-Schauspieler“? Wie viel Zeit gibt sich die Gruppe, bis man alle versteht? Wie viel Energie und Konzentration kann nach einer langen Probe noch vorausgesetzt werden? Was heißt in diesem Fall überhaupt „einander respektieren“? Heißt es, die Ungeduld der einen zu respektieren oder das Bedürfnis der anderen, sich ausschweifend auszudrücken? Ungewollt haben in einem solchen Diskussionsprozess unter Zeitdruck, wo es um präzise Details von Dramaturgie, Timing, musikalischer Färbungen und szenischen Ideen geht, natürlich nur die das Sagen, die sich schnell und auf den Punkt genau ausdrücken können.
Eine zentrale Schwierigkeit einer solchen Arbeitsweise ist folglich der Zeitfaktor. Grundsätzlich brauchen Menschen mit und ohne Behinderung mehr Zeit, um sich kennenzulernen, sich zu verstehen, aber auch, um sich konstruktiv miteinander auseinandersetzen.
Personelle Ressourcen im Sinne persönlicher Assistenz ist ein weiterer zentraler Faktor. Individuelle Zeitplanung, Freizeit, Finanzen, Ernährung, Körperpflege etc. können zu einem belastenden Problem für die Theaterproben und Aufführungen werden, wenn zu wenig personelle Ressourcen zur Verfügung stehen.
Die politischen und kulturellen Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft sind einem steten Wandel unterworfen. Eine freie, vielfältige, inklusive kulturelle Gesellschaft werden wir nur erhalten und weiterentwickeln können, wenn wir immer wieder aufs Neue bereit sind, uns dem Unbekannten und dem Fremden – auch in uns selbst – zu öffnen. Inklusive Kulturarbeit spielt hierfür eine wichtige, eine entscheidende Rolle.
Das Sommerblut-Kulturfestival arbeitet seit 15 Jahren am Beweis, dass inklusive Kulturarbeit eine große und wunderbare Chance bietet, in uns selbst das „Anderssein“ zu entdecken und damit ein Bewusstsein für das künstlerische Potential von Künstlerinnen und Künstlern mit und ohne Behinderung oder Benachteiligung zu entwickeln und zu leben.
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