Die Eingangstür zum neuen Palais, dem Hauptgebäude der Hochschule für Musik Detmold, ist – wie für einen barocken Bau nicht ungewöhnlich – nicht nur recht hoch, sondern auch der Türknauf befindet sich in ungewöhnlicher Höhe. Von innen betrachtet fällt der Blick schnell auf einen zweiten Griff, der sehr niedrig montiert ist. Seine Bestimmung ist, dass auch kleine Menschen ohne fremde Hilfe das Palaisgebäude verlassen können.
Dieser zweite Türknauf wurde vor vielen Jahren eigens für den Sänger Thomas Quasthoff angebracht, der als Professor an der Hochschule lehrte. Dass es nur innen diesen Knauf gibt, könnte die Vermutung nahelegen, dass es für Menschen mit Behinderung einfacher ist, die Hochschule zu verlassen, als sie zu betreten. Und diese Symbolik trifft in gewisser Weise auf Thomas Quasthoff zu, der vermutlich das prominenteste Beispiel dafür sein dürfte, wie einem Menschen mit Behinderung trotz künstlerischer Kompetenz der Zugang zum Studium an einer Musikhochschule verwehrt worden ist. Dieser Vorfall liegt nun schon einige Jahrzehnte zurück und der Begriff Nachteilsausgleich hat sich mittlerweile etabliert. Trotzdem fällt der Umgang damit nicht allen Beteiligten gleichermaßen leicht, sondern es gibt an Musikhochschulen bestimmte Problemlagen, die die ohnehin bestehende Irritation, für Menschen mit Beeinträchtigung von festen Prozeduren abzuweichen, noch verstärken.
Bemühen wir zunächst ein anderes konkretes Beispiel aus meiner früheren Hochschularbeit im Bereich der Fachhochschulen: Wenn für einen Studiengang der Sozialen Arbeit eine Bewerberin fordert, aufgrund einer Beeinträchtigung im Zulassungsverfahren bevorzugt einen Studienplatz zugewiesen zu bekommen und sie als Grund dafür eine psychische Erkrankung angibt, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Studiums. (Zur Erläuterung: Berufsfelder der Sozialen Arbeit sind im Wesentlichen von Beziehungsarbeit geprägt, inwieweit Menschen mit einer Beziehungsstörung hier professionell agieren können, ist zumindest kritisch zu betrachten.) Mit etwas Distanz stelle ich heute fest: Eigentlich richtet sich die ablehnende Haltung primär auf die Berufsfähigkeit. Ein differenzierter Blick lohnt sich also. Das theoretische Studium kann möglicherweise trotz der Beeinträchtigung erfolgreich absolviert werden, aber was passiert in den Praxisanteilen und vor allem beim Einstieg in den Beruf selbst? Hier stoßen viele Hochschulverantwortliche an eine Grenze, denn sie fühlen sich nicht nur für die Studierenden und den Studiengang, sondern auch für die gesellschaftliche Relevanz ihrer Tätigkeit verantwortlich. Wenn psychisch kranke Menschen bevorzugtes Anrecht auf einen Studienplatz Soziale Arbeit haben, fühlt sich das nicht richtig an, denn beispielsweise können blinde Menschen auch nicht Busfahrerin oder Busfahrer werden – das ist evident. Dass bestimmte Beeinträchtigungen Ausbildung und Ausübung mancher Berufe nicht zulassen, muss auch im Kontext der Inklusion akzeptiert werden.
Aber blinde Menschen können Gesang studieren und unterrichten. Es gibt Beispiele für hervorragende blinde Gesangslehrkräfte, wobei sich immer wieder beobachten lässt, dass die Beeinträchtigung in der Regel als redundante Information mitgeliefert wird, manches Mal mit dem Unterton der Anerkennung („behindert und trotzdem beruflich erfolgreich“) oder positiv diskriminierend („besondere Qualität des Unterrichts aufgrund des geschärften Hörvermögens blinder Menschen“).
Auch eine andere Evidenz ist unbestritten: Thomas Quasthoff kann nicht Klavier spielen. Aus heutiger Sicht (und auch schon damals) war es ein Fehler, ihn nicht zum Studium zuzulassen. Trotzdem bitte ich darum, sich kurz auf folgendes Gedankenspiel einzulassen: Es gibt Menschen, die aus Perspektive der Anforderungen an ein Musikstudium ebenfalls nicht Klavier spielen können. Auch unter diesen befinden sich ausgezeichnete Sängerinnen und Sänger. Wenn nun durch die Zulassung eines Mannes, der aus physiologischen Gründen nicht Klavier spielen kann, sich über die Vorbedingung hinweggesetzt wird, dass Klavier spielen als Grundlage für – beispielsweise – das eigenständige Partienstudium sei: wird denn nicht damit dokumentiert, dass das Nebenfach Klavier entbehrlich sei? Dann müssen doch andere Menschen ohne entsprechende Beeinträchtigung ebenfalls die Befreiung vom Fach Klavier beantragen können und der Studienerfolg – bzw. in diesem Falle die Berufsfähigkeit – wären davon unbeeinträchtigt.
Überlegungen in diese Richtung sind immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen in Prüfungsausschüssen an Musikhochschulen. Diese Debatte hat mit Inklusion gar nichts zu tun, sondern gilt den curricularen Vorgaben künstlerischer Studiengänge und kann diese in ihren Grundfesten erschüttern. Das hat historisch gewachsene, teilweise auch wirklich plausible Gründe, mit denen sich ernsthaft auseinandergesetzt werden muss. Aber diese Frage geht am Kern der Inklusionsfrage vorbei.
Der Unterschied besteht natürlich darin, dass manche Menschen nicht Klavier spielen können, andere es auf Grund physiologischer Probleme nicht erlernen können. Nur in diesem letzteren Fall muss kompensiert werden, das aber – und diese Forderung gilt es auch ins Bewusstsein aller Beteiligten zu bekommen – unter dem Gleichberechtigungsgrundsatz. Keinesfalls müssen sich Bewerbende mit Beeinträchtigung durch besondere künstlerische Leistungen im Hauptfach eine Befreiung oder angepasste Behandlung bei den Anforderungen durch die Nebenfächer „verdienen“. Ein Hinweis auf außergewöhnliche Leistungen („Genieparagraph“) ist vollkommen unangemessen und wäre wiederum nur eine weitere Diskriminierung. Genauso wenig ist auch Absenkung des künstlerischen Anspruchs („Bonusregelung“) akzeptabel. Die Anforderungen an das Hauptfach als maßgeblichem Zugangsmaßstab sowie alle weiteren Zugangsbedingungen müssen für alle Bewerberinnen und Bewerber absolut gleichberechtigt angewandt werden. Erst danach können gegebenenfalls „Genieregelungen“ greifen, die beispielsweise fehlende Abschlüsse oder andere Zugangsvoraussetzungen kompensieren. Nicht jede fehlende Fertigkeit kann durch eine andere kompensiert werden, doch darf der Ermessensspielraum nicht nur, er muss im Interesse der Sache und übrigens auch der beteiligten Personen genutzt werden.
Unter diesen Bedingungen gelangen zwar nicht viele Menschen mit Behinderungserfahrung an die Musik- und Kunsthochschulen in Deutschland, trotzdem aber gibt es nahezu allerorts Erfahrungen mit Inklusionsbedarf im Studienbetrieb. Für die Musikhochschulen lässt sich feststellen, dass das Thema lokal bearbeitet wird, die Rektorenkonferenz der Musikhochschule hat sich bislang noch nicht damit befasst. Eine Publikation des Deutschen Studierendenwerks (2013: 27) beschränkt sich innerhalb des immerhin 264 Seiten umfassenden Bands auf folgenden Hinweis: „Hochschulen für Kunst, Musik sowie für Theater, Film und Fernsehen bieten ebenfalls eine Ausbildung auf Universitätsniveau. Die Ausbildung ist dabei i. d. R. stark praxisorientiert ausgerichtet“. Konkrete weiterführende Überlegungen sind nicht zu finden, sondern die – ansonsten sehr sorgfältig recherchierte und nützliche Publikation – erfordert von den Leserinnen und Lesern einige Transferkompetenz in den Bereich der künstlerischen Ausbildungen. Die geringen Fallzahlen sind ebenso als Grund anzunehmen – aus dem es keine konkreten Lösungsansätze gibt – wie auch die Tatsache, dass verschiedene Beeinträchtigungen jeweils individuelle Maßnahmen erfordern. Entsprechend dünn ist das Erfahrungswissen in den einzelnen Institutionen. Sind Mobilitätshindernisse noch recht einfach zu erkennen, werden viele andere Barrieren erst in der konkreten Situation bewusst: Zahlencode-Eingabefelder ohne Braille-Beschriftung beispielsweise oder aber nichtbenutzbare Handläufe an Treppen werden mangels Bedarf von der Mehrheit der Nutzenden gar nicht als eine mögliche Behinderung im Alltag wahrgenommen.
Mit der Aufnahme des Studiums zeigen sich dann umgehend konkrete Bedürfnisse an Barrierefreiheit und hier sind die Hochschulen gefordert, schnell und unbürokratisch zu helfen. Darin unterscheiden sich die Kunst- und Musikhochschulen im Übrigen auch nicht zwangsläufig von anderen Institutionen. In den 16 Jahren, die ich an einem Fachhochschulstandort gelehrt habe, habe ich mich als Dekan des Öfteren mit Fragen des Nachteilsausgleichs und der Absenkung bzw. Beseitigung von Barrieren befasst. Selbst in den dortigen Studiengängen, die einen viel offeneren Zugang zum Studium ermöglichen, war die absolute Anzahl von Studierenden mit Behinderungserfahrung gering. Auch dort gab es immer wieder individuelle Anforderungen, und entsprechende Lösungsideen mussten verhandelt und umgesetzt werden. Die Bereitschaft, auch mit entsprechenden Finanzmitteln Ausgleich zu schaffen – beispielsweise durch Anschaffung oder Entleihung geeigneter Lehr- und Lernmittel, der Unterstützung bei der Suche nach geeigneten Assistenzen, die Gestellung einer mit dem Nachteilausgleich beauftragten Person und anderem – sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Dazu ist eine ausreichende Informiertheit der Verantwortlichen erforderlich.
Auch die Hochschuldidaktik ist gefordert, sich möglicherweise anzupassen. Studierende, die nicht stehen können, sind bei vielen körper- und bewegungsorientierten Angeboten zunächst einmal nicht direkt einzubinden. Im Sinne gelingender Inklusion müssen solche Gegebenheiten thematisiert und lösungsorientiert behandelt werden. Diese Herausforderung für Lehrende kann sich schnell in Chancen wandeln, denn die Reaktion auf sich ändernde Unterrichtsbedingungen bietet stets Raum für neue Anregungen und Ideen. Und es ergeben sich durch das Lernen innerhalb der Situation Perspektiven für pädagogische Ansätze, die auch Studierende ohne Behinderungserfahrung gebrauchen können – spätestens in vergleichbaren Situationen einer späteren Vermittlungspraxis. In diesem Rahmen werden sich künstlerische Hochschulen ohnehin wandeln, weil sich Gesellschaft verändert. Inklusion gehört als Thema in solche Änderungsprozesse hinein und ist dort auch bereits angekommen.
In allen pädagogischen Studiengängen werden inklusive und sonderpädagogische Arbeitsfelder thematisiert, und entsprechend der beruflichen Praxis an allgemeinbildenden, an Musik- und Kunstschulen sowie in weiterführenden künstlerischen Bildungseinrichtungen reagieren auch die Hochschulen mit ihren Lehrangeboten auf den zunehmenden Bedarf. Inhaltliche Unterstützung dabei lässt sich in einem verstärkten Austausch mit Betroffenen und Fachleuten einschlägiger Berufsgruppen finden.
Künstlerische Hochschulen können sich auf die konkreten Herausforderungen durch Menschen mit Beeinträchtigung nicht vorbereiten, aber sie können und müssen dafür bereit sein, sie anzunehmen.
Literatur
- Deutsches Studierendenwerk (2013): Studium und Behinderung. Informationen für Studieninteressierte und Studierende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten. Berlin: Eigenverlag.
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