Vorspiel. Dennis Hexelschneider hat in Vorbereitung auf sein Interview mit Matthias Gräßlin eine Reihe philosophischer Fragen gesammelt und diese auf Karten geschrieben. Zu Beginn des Beitrags sitzen die Zuschauerinnen und Zuschauer im Kreis, die Agierenden in der Mitte gegenüber. Zwischen den beiden liegt der Stapel verdeckter Karten. Abwechselnd ziehen sie eine davon, verlesen Fragen, wie zum Beispiel „Wohin führt ein Weg, wenn ihn niemand geht?“ oder „Was gibt es eigentlich zwischen Fantasie und Realität?“ und fordern so das Gegenüber zu einer kleinen performativen Aktion heraus. Am Ende dieses ästhetischen Dialogs ziehen sich die beiden in den Kreis zurück.
Dennis Hexelschneider: Nach dem Volxtheater wurde in der Theaterwerkstatt Bethel nun eine Volxakademie – ein Zentrum für inklusive Kultur – gegründet. Was liegt dem zugrunde?
Matthias Gräßlin: Inklusiv angelegte soziale, ökologische und ökonomische Prozesse helfen, einander in den Blick zu nehmen und interessengeleitet vielfältigere Ideen zur nachhaltigen und friedvollen Lösung von Problemen zu entwickeln. Die Idee der inklusiven Gesellschaft bietet zahlreiche Möglichkeiten zur Kompensation von Konkurrenz, Überforderung, Kapitalisierung, Digitalisierung und Ausbeutung.
Dennis Hexelschneider: Das klingt nach großen Versprechen.
Matthias Gräßlin: Nur die Beteiligung von immer neuen Rand- und Zielgruppen führt uns nicht weiter, sondern Angebote, die jeder und jedem Einzelnen an einem Thema, einer Aufgabe oder an einer Initiative freien Zugang gewähren und durch die er oder sie sich eigenen Interessen folgend engagieren kann. Je vielfältiger die Lebenshintergründe sind, desto mehr Blickwinkel, Erfahrungen und gesellschaftliche Kriterien kommen zum Zuge. Es braucht Lern- und Arbeitsformen, in denen sich erst im gemeinsamen Prozess der Akteurinnen und Akteure als brauchbar erachtete Strukturen bilden, beschlossen und laufend korrigiert werden können. In der Volxakademie findet dieses Anliegen Raum. Hier können die langjährigen Erfahrungen mit inklusiver künstlerischer Arbeit in Austausch kommen, bedacht, erforscht, weitervermittelt und in den Alltag vieler Lebensbereiche übertragen werden. Sie bietet allen Interessierten Gelegenheit, ihrerseits Fragen und Ideen einzubringen und eigene Projekte zu entwickeln.
Dennis Hexelschneider: Was unterscheidet die Theaterwerkstatt Bethel von anderen Theaterbetrieben?
Matthias Gräßlin: Was utopisch anmutet, ist in der Theaterwerkstatt Bethel in Bielefeld seit 1983 lebendige Praxis. Aus ersten Versuchen in der Theaterarbeit mit vielfältig zusammengesetzten Gruppen entstand allmählich die Idee des Volxtheaters. In ihm arbeiten Menschen verschiedenen Alters und mit möglichst unterschiedlichen Lebenshintergründen zusammen. Sie entwickeln ihr eigenes Theater (Gräßlin 2008) und bringen es auf die Bühne. Das funktioniert als freies Theater, aber auch als themenzentrierte Arbeit mit künstlerischen Mitteln in Bildungs- und Organisationszusammenhängen.
Dennis Hexelschneider: Wie ist die Herangehensweise an ein neues Projekt?
Matthias Gräßlin: Zunächst laden wir zu einem Thema ganz frei in sogenannte Volxtheaterwerkstätten ein. Dort treffen Menschen aus allen möglichen Lebensbereichen zusammen und setzen sich in einem sehr offen moderierten künstlerisch-interaktiven Prozess mit diesem Thema auseinander: sie sammeln Gedanken und Gesten, Texte, Lieder, Fakten. Im gemeinsamen Spiel entstehen Szenen, Choreografien, Performances, Musikstücke und vieles mehr. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, in verschieden ausgelegten Theaterproduktionen mitzuwirken.
Es gibt Produktionen,die einen langfristigen Prozess mit einer professionellen Aufführung ermöglichen. Andere bieten in ihrer offenen performativen Form Menschen mit wenig Zeit, Geduld oder anderen Einschränkungen eine aktive Beteiligung.
Dennis Hexelschneider: Wie kommen der Mensch und seine Interessen hier vor?
Matthias Gräßlin: Jeder Mensch bringt in eine Situation bereits etwas mit, sein So-Sein. Es drückt sich allein aus und bietet Anknüpfungspunkte. Entscheidend ist die Bereitschaft, sich offen in ein Interessenfeld zu begeben. Um allen einen direkten Zugang zu ermöglichen, erhalten sie die Gelegenheit, auf null zu kommen, das heißt im Hier und Jetzt anzukommen, für eine verabredete Zeit von Neuem zu beginnen. Einfache Methoden der Moderation und künstlerischer Interaktion verhelfen, zur Ruhe zu kommen und sich zu besinnen. Die Akteurinnen und Akteure erkundigen sich nach ihren Gedanken und Erfahrungen zum gemeinsamen Thema. Sie sammeln und gestalten Material wie Texte, Lieder, Bewegungen, Theorien und Objekte. Im Zusammenspiel entwickeln sich allmählich eine gemeinsame Erfahrung und gemeinsames Wissen. Einander zu ergänzen, führt über den eigenen Horizont hinaus. Aus Widersprüchen entsteht Neues.
Bildung und Gemeinschaft sind in diesem Prozess ein plastischer, ein künstlerischer, schöpferischer Vorgang. Sie entstehen nicht als Selbstzweck, sondern aus gegebenem Anlass. Auseinandersetzungen finden auf vertrauensvoller Basis statt und führen in aller Regel zu gemeinsamen Lösungen. Unauflösbares wird zum Teil des Ergebnisses. Es gehört, wie im Leben, zur Kunst dazu. Alle finden, was sie vorher nicht erwarten konnten und bereichern sich gegenseitig. In Konsequenz der langjährigen Entwicklung von künstlerischen Techniken des Experimentierens, Austauschens, Nachdenkens, Forschens und Vermittelns in vielfältig zusammengesetzten Gruppen kam es im Sommer 2016 zur Gründung der Volxakademie – Zentrum für inklusive Kultur. In einem dreijährigen, wesentlich von der LWL-Kulturstiftung geförderten und der Stiftung Bethel getragenen Projekt wird der Ansatz genauer untersucht, ausgebaut und in Bezug zu verschiedensten Lebensfeldern gesetzt.
Dennis Hexelschneider: Was bedeutet „Volxakademie“ genau?
Matthias Gräßlin: Die Volxakademie lädt jede und jeden ein, sich in kulturellen Projekten selbständig einzubringen, zu lernen und gemeinsam Ideen für das Engagement in anderen Lebensbereichen zu entwickeln. Sie ist zugleich Ort des Experimentierens und Lernens, des Diskurses und der Entwicklung. Dies geschieht einerseits in Theater- und Performanceprojekten. Andererseits in thematischen Workshops, Seminaren, Tagungen, Gesprächen und Beratungen. In allgemein zugänglichen Kolloquien und in individuellen Beratungen unterstützen wir die Reflexion und Übertragung von Erfahrungen inklusiver Kulturarbeit in den eigenen Lebensbereich. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vieler Hochschulen sowie mit freien Autorinnen und Autoren erforschen und vermitteln wir Theorie und Praxis inklusiver Kulturarbeit.
Dennis Hexelschneider: Was sind die Ziele der Volxakademie?
Matthias Gräßlin: Teilnehmenden bietet die Volxakademie Teilhabe und Teilgabe ohne jede Voraussetzung. Neben inklusiver künstlerischer Praxis (Tanz, Theater, Musik, Performance, neue Medien …) können sie sich mit künstlerischen Mitteln mit gesellschaftlichen Themen auseinandersetzen. Sie können inklusive Arbeitsweisen üben und miteinander beraten. Gemeinsam entwickeln sie auf diese Weise inklusives Denken und Handeln und können es in ihre eigenen Lebensfelder übertragen. Es gibt Informationen und Diskussionen über Theorie und Praxis inklusiver Kulturen. Jede und jeder Interessierte erhält Fort- und Weiterbildung als Multiplikatorin oder Multiplikator inklusiver Praxis.
- Fachinteressierte, kooperierende Einrichtungen und Unternehmen aus Kultur, Bildung, Verwaltung und Wirtschaft gewinnen neue Impulse für Organisations-, Konzept- und Produktentwicklung sowie für die Personalarbeit. Sie erhalten Fachberatung und können neue Kontakte im Kontext der Inklusion knüpfen.
- Wissenschaftlerinnen und Forscher können die Veranstaltungen der Theaterwerkstatt Bethel und der Volxakademie als gelebte inklusive Räume betrachten und beforschen. Sie lernen inklusive Methoden der Konzeptentwicklung, des Experimentierens, Untersuchens und der Vermittlung kennen und können gemeinsam (weiter-)entwickelte Konzepte in ihre Praxis übernehmen.
Nach drei Jahrenwerdendie entwickelten Konzepte und Methoden erprobt, beschrieben, als weiterführende Angebotsstruktur angelegt und öffentlich zugänglich sein. Es liegt eine Dokumentation in Buchform vor und es ist ein tragfähiges Netzwerk von Interessierten und Nutzerinnen wie Nutzern entstanden. Darüber hinaus werden im Rahmen des Projekts neue Finanzierungsmöglichkeiten erschlossen, sodass das Angebot darüber hinaus vorgehalten und weiterentwickelt werden kann.
Dennis Hexelschneider: Wie kommt der Inklusionsgedanke in der Theaterwerkstatt Bethel zum Tragen?
Matthias Gräßlin: Inklusion wird in allen Bereichen der Theaterwerkstatt Bethel als die Idee einer offenen freiheitlichen Gesellschaft verstanden. Jede und jeder Aktive vertritt sich selbst im Zusammenwirken mit allen anderen. Die gleichberechtigte Teilhabe von sonst benachteiligten Menschen ist selbstverständlich und wird gegebenenfalls durch Unterstützung gewährleistet. Teilhabe und Teilgabe sind voraussetzungslos.
Dennis Hexelschneider: Was verstehst Du unter der Idee einer offenen freiheitlichen Gesellschaft?
Matthias Gräßlin: Unser Selbstverständnis fußt auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen, so der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. In Artikel 3 des Grundgesetzes heißt es: Niemand darf wegen seiner Eigenart, Behinderung, Geschlecht, Rasse usw. benachteiligt werden. Jemanden nicht zu diskriminieren, heißt jedoch noch nicht, sich positiv zu ihm oder ihr zu stellen oder sich für jemanden interessieren zu müssen, der als anders empfunden wird. Darum ist für die Inklusion der zweite Satz des Artikel 1 der Menschenrechte von noch größerer Bedeutung. Er weist darauf hin, dass alle Menschen mit Vernunft und Gewissen begabt, also in der Lage sind, auf ihre Weise Verantwortung zu übernehmen und gemeinschaftlich zu gestalten – nichts anderes bedeutet heute der alte Begriff der Brüderlichkeit. Das heißt weit mehr als Rücksicht zu nehmen. Es verpflichtet zur Anerkennung und Kooperation, zum Zusammenspiel. Leider ist diese Haltung nicht nur zu wenig verbreitet, sondern in Anbetracht wachsender Ängste wieder zunehmend bedroht. Durch gegenseitige Abgrenzung berauben wir uns zahlloser Möglichkeiten, uns von Fremdem, Ungewohntem und Neuem inspirieren zu lassen und voneinander zu lernen. Dabei sind wir sogar darauf angewiesen, uns einander in aller Verschiedenheit zu widmen, um Vertrauen auf- und Ängste voreinander abzubauen, kurz: friedlich miteinander leben zu können.
Dennis Hexelschneider: Und inklusive Kultur ist die Grundlage einer offenen Gesellschaft?
Matthias Gräßlin: Ja. Es sind Themen, die alle oder viele angehen müssen, auch von allen besprochen oder auf andere Weise behandelt werden können. Damit aber auch Menschen sehr unterschiedlicher Lebensfelder und Lebenshintergründe miteinander in Austausch treten, konstruktiv streiten und gemeinsam neue Ideen entwickeln können, braucht es eine Kultur, durch die sich alle beteiligen können, ganz gleich, welche Sprache sie wie sprechen oder wie sie sich sonst ausdrücken können. Im Mittelpunkt stehen die gemeinsamen Themen. Lebensart, Bräuche und Tabus in ihren eigenen Lebensgemeinschaften bilden kulturelle und persönliche Hintergründe. Eigene Fragen, Meinungen, und Sichtweisen können eingebracht und so zu neuen Themen werden. Es wird offen verhandelt und mit Gedanken gespielt – immer zugunsten neuer Ideen, im besten Falle zum Wohle aller.
Ein Beispiel: Das Volxtheater der Theaterwerkstatt Bethel ist Theater aus der Bevölkerung für die Bevölkerung. Die Mitspielenden setzen sich mit ästhetischen Mitteln mit gesellschaftlichen Themen auseinander. Sie erarbeiten eigene Inhalte und entwickeln eigene Ausdrucksformen. Persönliche Erfahrungen werden im gemeinsamen ästhetischen und denkerischen Prozess reflektiert und zum Ausdruck gebracht. Durch das Volxtheater mischen sich die Spielenden ein und fordern heraus. Einige Dimensionen der Volxkultur sind denen anderer kultureller Angebote (z. B. in Schule, Kirche, Kultureller Bildung …) gemeinsam. Hierzu zählen Kontemplation und körperliche Erfahrungen, Inspiration und Modelllernen für das eigene Leben, das Erlernen von Kulturtechniken und (kunst-)geschichtlichem Wissen sowie die Fähigkeit zur Rezeption, um am kulturellen Leben teilhaben zu können. Sie sind pädagogisch oder vermittelnd wirksam und bemühen sich um Partizipation.
Dennis Hexelschneider: Was sind für Dich Besonderheiten der Volxkultur?
Matthias Gräßlin: Volxkultur sieht immer die Eigeninitiative als Ausgangspunkt. Sie folgt den Potentialen und Interessen der Einzelnen und dem im Prozess Gemeinsamen konsequent. Der gestalterische Prozess bleibt in den Händen der Gruppe. Ästhetische Reflexion und Bezugnahmen (inhaltlich wie formal) sind Teil des Vorgangs. Schöpferische Energien und persönliche Themen werden nicht in exemplarisch vorgegebene Prozesse gebunden, sondern bieten ständig die Orientierungslinie für die Auseinandersetzung und Gestaltung. Die besondere Qualität liegt in der Stimmigkeit von Form, Inhalt und den Anliegen der Akteurinnen und Akteure.
Dennis Hexelschneider: Und was ist da der Unterschied zu anderen Ansätzen, zum Beispiel der Kulturpädagogik?
Matthias Gräßlin: Zeitgemäße Kulturpädagogik ist sich all dessen bewusst, scheitert jedoch in Bezug auf Inklusion regelmäßig am aufrechterhaltenen Anspruch vorgegebener Maßstäbe. Sie hält sich in der Regel an etwas Bestehendem, einem Stil, einer Technik oder Tradition fest. Im gemeinschaftlichen Tun führt dies dann doch wieder zur Trennung in Leistungsgruppen. Denn die Orientierung am kleinsten gemeinsamen Nenner frustriert viele Beteiligte, wenn sich die einen zurückhalten und andere an den gesetzten Zielen scheitern müssen.
Die Volxakademie ist keine Schule zur Ausbildung spezieller Kompetenzen, sondern ein Ort der Beschäftigung, des Selbstlernens und des Austauschs. Sie inspiriert durch gegenseitig zum Ausdruck gebrachte Erfahrungen und gibt Raum zum Zusammenspiel, letztlich zur Entwicklung neuer Ideen für die Gestaltung gemeinsamen Lebens.
Dennis Hexelschneider: Vielen Dank.
Matthias Gräßlin: Vielen Dank.
[1] Inklusive Kultur und offene Gesellschaft (vgl. Popper 2003).
Weitere Informationen
Literatur
- Gräßlin, Matthias (Hrsg.) (2008): Das Eigene Theater. Die Theaterwerkstatt Bethel als Raum für künstlerische Entfaltung. Bielefeld: Bethel-Verlag.
- Popper, Karl R. (2003): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 8. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck.
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